Ursprünglich hatte ich vor, darüber etwas auf meinem anderen Blog zu schreiben. Es gäbe eine Menge zu diesem Thema zu sagen. Aber dann stieß ich zufällig auf dieses Buch: Im Dunkeln sehen - Erfahrungen eines Blinden von John M. Hull. Hull war Professor für Religionspädagogik an der University of Birmingham und ist Anfang der 1980-er Jahre vollständig erblindet. Damals war er Mitte 40, zum zweiten Mal verheiratet und seine Frau mit dem ersten gemeinsamen Kind schwanger.
Durch Hulls Buch ist sehr deutlich nachvollziehbar, wie er an seine neue Lebenssituation heranging. Zweieinhalb Jahre nach seiner Erblindung begann er, das, was er täglich erlebte, auf Kassetten aufzuzeichnen. Er sprach zunächst täglich, später nur noch in mehrwöchigen Abständen über das, was ihn bewegte. Seine Aufzeichnungen erstrecken sich über einen Zeitraum von drei Jahren und sind die Grundlage für dieses Buch.
Sehr sachlich schildert Hull, wie sich seine Wahrnehmung auf die Ebene des Hörens verschob. Die Erinnerungen an die Gesichter seiner Frau und seiner Kinder verblassten nach und nach und ließen sich am besten hervorholen, indem sich Hull diese so ins Gedächtnis rief, wie er sie auf Fotos gesehen hatte. Ihm wurde bewusst, dass er nicht sehend erleben würde, wie die Menschen um ihn herum alterten. Seine später geborenen Kinder würde er nur an deren Stimmen erkennen.
Der starke Fokus auf Geräusche ließ Hull die Welt in dieser Hinsicht viel differenzierter wahrnehmen, als er das vor seiner Erblindung für möglich gehalten hätte. Er hörte nicht nur die verschiedenen Arten des Regens, sondern auch, worauf die Tropfen aufschlugen und welches Bild das vor seinem geistigen Auge auslöste: "Regen hat die Eigenart, die Umrisse aller Dinge hervorzuheben; er wirft eine farbige Decke über Dinge, die vorher unsichtbar waren; wo vorher eine unterbrochene und damit zersplitterte Welt war, schafft der gleichmäßig fallende Regen eine Kontinuität akustischer Wahrnehmung."
Seine Erkenntnis: Wer die Augen schließt weiß, dass die Dinge um ihn herum noch da sind. Wer als blinder Mensch keine Geräusche hört, muss schlussfolgern, dass da auch nichts Hörbares ist.
Hull entwickelte nach einigen Jahren eine weitere Fähigkeit: Er war in der Lage, sich auch von größeren Gebäuden eine mentale Karte zu erstellen, sofern er die Gelegenheit hatte, sie in Ruhe und allein zu erkunden.
John Hull berichtet auch von seinen buchstäblich schwärzesten Stunden. Er schreibt von seiner Verzweiflung und dem Gefühl, in einer Art Kohlebergwerk zu versinken. Man erfährt, was ihm half, aus diesem seelischen Tief herauszukommen und nicht zu verzweifeln.
Lesen?
Ja! Im Dunkeln sehen - Erfahrungen eines Blinden bietet einen sehr differenzierten Einblick in das (Seelen-)Leben eines Menschen, der einen großen Teil seines Lebens sehen konnte und für den sich die Welt erst spät in Dunkelheit hüllte. Hull erhebt nicht den Anspruch, für alle blinden Menschen zu sprechen, sondern beschränkt sich auf seine eigene Sichtweise. Gerade sein unprätentiöser und schnörkelloser Schreibstil machen dieses Buch zu etwas Besonderem.
Der bekannte britische Neurologe Oliver Sacks hat das Vorwort für diesen ungewöhnlichen Titel geschrieben und das Buch als Meisterwerk bezeichnet.
2016 wurde Im Dunkeln sehen - Erfahrungen eines Blinden verfilmt - ein Jahr nach John Hulls Tod. Notes on Blindness wurde mit Hulls mündlichen Aufzeichnungen unterlegt und erhielt zahlreiche Preise.
Im Dunkeln sehen - Erfahrungen eines Blinden erschien erstmals 1992 als deutsche Ausgabe beim Verlag C. H. Beck. Das Buch wurde mehrfach neu aufgelegt und ist im selben Verlag zuletzt 2018 als Taschenbuch für 16,95 Euro sowie als E-Book für 12,99 Euro herausgegeben worden.
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