Lisa Weeda wurde in den Niederlanden geboren und
hatte sich lange nicht mit der Geschichte ihrer Familie beschäftigt. Sie wusste, dass ihre Großmutter Aleksandra aus der Ukraine stammte, im Zweiten Weltkrieg 1942 als Zwangsarbeiterin nach Deutschland kam, später in den Niederlanden geheiratet hatte und dort geblieben war. Erst vor einigen Jahren begann sich die Autorin für ihre Familiengeschichte bis zurück zu ihrem Urgroßvater zu interessieren - eine Geschichte, die sich in der Ostukraine, Russland, Deutschland und den Niederlanden abspielte. Sie erfuhr, dass sie von Donkosaken abstammte, die sich bereits im 15. Jahrhundert zusammenschlossen.
In ihrem Debütroman Aleksandra lässt Weeda mit einer Mischung aus Fiktion und realen Begebenheiten ihre Ich-Erzählerin Lisa im Jahr 2018 nach Lugansk reisen. Ihre Großmutter Aleksandra hatte sie beauftragt, das Grab ihres Neffen Kolja zu suchen, der drei Jahre zuvor verschwunden war. Die Erzählerin hat etwas Besonderes im Gepäck: ein Sticktuch, auf dem mit schwarzem und rotem Faden die Lebenslinien der einzelnen Familienmitglieder nachempfunden waren. Die roten Linien stehen für das Leben, die schwarzen für den Tod. Dieses Tuch soll auf Koljas Grab gelegt werden, da Aleksandra fühlt, dass dieser sonst keine Ruhe findet.
Am Grenzübergang von der Ukraine zur sog. Volksrepublik Lugansk, die 2014 völkerrechtswidrig von Russland annektiert wurde, scheitert Lisa am Wachsoldaten, der sie partout nicht passieren lassen will. In einem günstigen Moment rennt sie in ein Getreidefeld, um ihr Ziel zu erreichen und den Wunsch der Großmutter zu erfüllen. Als sie stolpert, fällt sie auf die Stufen eines plötzlich auftauchenden Palasts mit gigantischen Ausmaßen und trifft dort auf ihren schon lange verstorbenen Urgroßvater Nikolaj, der sie durch die zahllosen hohen Räume des Gebäudes führt.
Dieser "Palast der verlorenen Donkosaken" erinnert an Josef Stalins hochfliegende Pläne aus den 1930-er Jahren, in Moskau einen "Palast der Sowjets" zu bauen, der mit einer Höhe von 415 Metern alle Gebäude auf der Welt überragen und von der Großartigkeit der Sowjetunion überzeugen sollte.
Nikolaj zeigt seiner Urenkelin etliche Palasträume und leitet sie auf diese Weise durch die kollektiven Erinnerungen der Familie sowie die Historie der Ukraine und Russlands. Die Zeit unter Stalin, als Nikolaj und seine Frau Anna wie viele andere Bauern ihre Ernte hergeben mussten und später sogar enteignet wurden, die Qualen des Holodomors Anfang der 1930-er Jahre oder der Einmarsch der Nationalsozialisten in die Ukraine waren nur einige der prägenden Ereignisse, die die Familie vor schwere Prüfungen stellte und auseinander riss.
Diese so verpackten Begebenheiten verknüpft Lisa Weeda mit den Erzählungen ihrer Großmutter und dem, was im Zusammenhang mit der Annexion der Volksrepublik Lugansk, in deren Wirren Kolja verschwand, passierte.
Lesen?
Aleksandra ist ein vielschichtiger Roman, der seine Leser und Leserinnen auf fast jeder Seite mit historischen Informationen versorgt. Lisa Weeda hat eindrucksvoll dargestellt, wie sehr Menschen durch politische Entscheidungen hin und her geworfen werden können wie Laub im Wind, ohne eine Chance zu haben, ihre Lage aktiv zu verbessern.
Lisa Weede hat der Handlung erfreulicherweise einen Familienstammbaum vorangestellt, der sich über fünf Generationen erstreckt. Das ist sehr hilfreich, um sich zurechtzufinden, da einzelne Vornamen in mehreren Generationen vorkommen, was ziemlich verwirrend sein kann.
Der im Roman verwendete Leitspruch der Donkosaken spiegelt wider, wie die Ukrainer mit den Angriffen Russlands umgehen: "Wir sterben lieber frei als versklavt" macht deutlich, dass Aufgeben die letzte Option ist.
Lisa Weeda hat acht Jahre an ihrem Buch geschrieben. Aufgrund der Faktenfülle wäre mir sehr recht gewesen, wenn sie sich nicht auf rund 280 Seiten beschränkt, sondern der gesamten Darstellung mehr Raum gelassen hätte.
Aleksandra war 2022 in den Niederlanden ein großer Publikumserfolg und wurde mit De Bronzen Uil, dem Preis für das beste niederländisch-sprachige Debüt, ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des niederländischen Libris-Literaturpreises.
Der Roman erschien am 24. Februar 2023 zum ersten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine im Kanon Verlag und kostet 25 Euro.
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