Sonntag, 10. Dezember 2023

# 421 - Die Karriere einer Frau unterm Hakenkreuz

Es ist das Jahr 1999. Die 91-jährige Witwe Klara Erfurt
lebt allein in ihrem Reihenhaus irgendwo in Norddeutschland. Als ihr eine ihrer Töchter erzählt, dass ihre Enkelin schwanger ist und das Kind allein großziehen will, wirft diese Nachricht die alte Dame in die Vergangenheit zurück. Sie beschließt, ihre Erinnerungen nicht mehr für sich zu behalten und auch über Dinge zu sprechen, die sie ihrer Familie bislang verschwiegen hat.

Alexa Hennig von Lange hat mehr als 130 Tonbandkassetten abgehört, die ihre Großmutter im hohen Alter mit ihren Lebenserinnerungen besprochen hat. Die karierten Mädchen ist der erste Teil einer Trilogie, der den Zeitraum von 1929 bis etwa Mitte der 1930-er Jahre umfasst.

1929: Klara ist Lehrerin und froh, inmitten der Wirtschaftskrise eine Stelle in der Kinderheilstätte Oranienbaum im Freistaat Anhalt bekommen zu haben. Das Heim kümmert sich sowohl um die Pflege lungenkranker Kinder als auch die Ausbildung junger Mädchen in der Haushaltsführung. 
Klara fühlt sich dort wohl und genießt sowohl die Freiheit als auch die neuen Herausforderungen. 

1932 erkrankt die Heimleiterin Fräulein Martin und verstirbt. Mehrmals hatte sie Klara gegenüber ihre Sorge über die politische Entwicklung in Deutschland geäußert, aber Klara, die sich nicht für Politik interessiert und keine Zeitung liest, hatte die Bedeutung dieser Warnungen nicht nachvollziehen können - oder wollen.

Kurz vor Fräulein Martins Tod wird von der Fürsorgerin die einjährige Tolla Lewitan in das Heim gebracht. Deren jüdische Mutter will das Kind nur für kurze Zeit abgeben, doch dann erfährt Klara, dass die Frau sich das Leben genommen hat. Klara, die jeden Monat ihre fast mittellosen Eltern unterstützt, beschließt spontan, für das Mädchen zu sorgen. Doch das Kinderheim befindet sich in einer finanziellen Schieflage. Klara hat die Leitung der Einrichtung übernommen. Die einzige Rettung, die sie erkennt, ist die Übernahme des Hauses durch die nationalsozialistische Regierung. Als Klara endlich realisiert, dass die Nationalsozialisten alle Juden und alles Jüdische ausmerzen wollen, begreift sie, in welchem Dilemma sie sich befindet. Kurzentschlossen verbrennt sie Tollas Geburtsurkunde, um deren Herkunft zu verschleiern, und gibt sie als ihre Tochter aus.

Die Landesregierung will aus dem Kinderheim eine Vorzeigeeinrichtung machen und sie so umgestalten, wie "der Führer" sich diese vorstellt. Die Erziehung soll nach nationalsozialistischen Prinzipien erfolgen, die Kleidung der Mädchen einheitlich sein: karierte Kleider im Dirndlstil.

Als sie während einer Zugfahrt den etwas jüngeren Gustav kennenlernt, bekommt ihr Leben allmählich eine etwas andere Richtung. Der junge Mann ist ihr eine große Stütze. Doch die Situation wird für Klara als Tollas "Mutter" immer bedrohlicher und sie fasst einen Entschluss, der ihr Leben und vor allem das des Mädchens völlig verändert.

Lesen?

Alexa Hennig von Lange merkt in ihrem Nachwort an, dass ihre Großmutter in ihren Aufzeichnungen Ereignisse wie zum Beispiel den Brandanschlag auf die Wörlitzer Synagoge ausließ. Der Ort ist nur wenige Minuten von Oranienbaum entfernt, es kann ihr nicht entgangen sein. Ihr Entsetzen über den Brand der Dessauer Synagoge, den Klara zufällig miterlebt, schildert sie hingegen. Warum hat die Großmutter hier einen Unterschied gemacht? 

Die auf Tonbandkassetten gebannten Erinnerungen offenbaren hier einen großen Unterschied zu einem Interview: Nachfragen sind nicht möglich. Hennig von Lange musste mit dem leben, was sie vorfand. Ihr im Nachwort formulierter Wunsch, mit ihrer Großmutter ins Gespräch zu kommen, kann über die Aufzeichnungen nicht erfüllt werden.

Die Figur des Mädchens Tolla hat die Autorin allerdings hinzugefügt. Sie begründet das so: "Ich wollte den Schmerz erfahrbar machen, der entsteht, wenn ein Mensch, eine ganze Gesellschaft sich gegen die Menschlichkeit wendet. [...] Allein ins Ungewisse fortgeschickt, symbolisiert es [Anm.: das Mädchen Tolla] für mich den Verlust der Unschuld."

Die karierten Mädchen ist eine interessante Umsetzung eines deutschen Lebens während der Nazi-Diktatur, aber es bleiben Fragen offen. Alexa Hennig von Lange beschreibt die politische Naivität ihrer Großmutter, ob deren Vorbehalte gegenüber den Nationalsozialisten jedoch tatsächlich so groß waren, kann wohl nicht mehr beantwortet werden.

Die karierten Mädchen ist 2022 im DuMont Buchverlag erschienen und kostet als Hardcover 22 Euro, als Taschenbuch 13 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro. 

Sonntag, 3. Dezember 2023

# 420 - Rezitativ - Ein Spiel mit Erwartungen

1983 erschien mit Recitatif die einzige Erzählung der
späteren Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison in einer Anthologie. Erst in diesem Jahr wurde die deutsche Übersetzung unter dem Titel Rezitativ herausgegeben.

Meine Mutter tanzte die ganze Nacht, und die von Roberta war krank. Darum wurden wir ins St. Bonny's gebracht.

Das ist der Einstieg in die Erzählung, und er stammt von der achtjährigen Twyla, der mit der gleichaltrigen Roberta ein gemeinsames Zimmer in einem Kinderheim zugewiesen wird. Schon in dieser Einleitung liegt eine große Tragik: Die beiden Mädchen müssen ihre Zuhause nicht deshalb verlassen, weil sie Waisen wären, sondern weil man sich dort nicht um sie kümmern kann.

Morrison stellt schnell klar, dass eines der Mädchen weiß und das andere schwarz ist. Es bleibt jedoch unklar, welchem Kind sie welche Hautfarbe zuweist. Aber ist das denn wichtig? Morrisons Spiel mit vermeintlichen Hinweisen hat etwas Entlarvendes: Sie hält ihren Leserinnen und Lesern den Spiegel vor, indem sie demonstriert, wie viele Vorurteile diese gegenüber den Menschen mit der einen oder anderen Hautfarbe (mutmaßlich) haben.

Roberta und Twyla bilden im Kinderheim so etwas wie eine Notgemeinschaft. Die anderen Mädchen sind schon länger im Heim und älter als sie, sodass die beiden versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen, um nicht zu Mobbingopfern zu werden.

Doch dann ereignet sich etwas, was Roberta und Twyla zunächst unwichtig finden. Die Küchenhilfe Maggie stürzt im Obstgarten des Heims. Maggie hat starke O-Beine und kann nicht sprechen. Sie ist ohnehin Zielscheibe des Spotts der großen Mädchen, aber an diesem Tag wird sie von ihnen ausgelacht. Aus Angst vor den älteren Mädchen trauen sich Twyla und Roberta nicht, der Frau auf die Beine zu helfen.

Als die beiden Mädchen kurz nacheinander das Heim verlassen und zu ihren Müttern zurückkehren, verlieren sie sich sofort aus den Augen. Aber im Laufe der Jahre begegnen sie sich mehrmals zufällig, und immer steht das Ereignis um die Küchenhilfe Maggie zwischen ihnen: Die nun erwachsenen Frauen erinnern sich ganz unterschiedlich an das, was nach deren Sturz geschah und machen sich gegenseitig Vorwürfe.

Doch nicht nur die Erinnerung an die Zeit im Heim trennt sie, sondern ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Schichten, die ihnen schon damals in St. Bonny's aufgefallen ist. Aus der Not-Freundschaft von einst entwickelt sich eine ambivalente Bekanntschaft, die zum Schluss um die Frage kreist, ob Maggie schwarz oder weiß gewesen ist.

Lesen?

Im von Zadie Smith stammenden Nachwort beschreibt die britische Schriftstellerin, dass sie sich beim Lesen von Rezitativ ebenfalls af die Suche nach "eindeutigen" Hinweisen auf die jeweilige Hautfarbe von Roberta und Twyla begeben hat und gescheitert ist.
"Wir hören Twyla sprechen, und wir hören Roberta sprechen, und obwohl sie sich klar voneinander unterscheiden, sind wir doch nicht in der Lage, den einen Unterschied zu entdecken, den wir eigentlich entdecken wollen", gibt sie zu.

Auch der Versuch, anhand der Beschreibung der Mütter der Mädchen zu einem Ergebnis zu kommen, scheitert. Smith' Schlussfolgerung ist eine Einladung, ebenfalls zu versuchen herauszufinden, welches der beiden Mädchen eine schwarze bzw. weiße Hautfarbe hat:
"Rezitativ ruft mir in Erinnerung, dass es keine wesenhaft schwarze oder weiße Qualität ist, arm zu sein, unterdrückt, unbedeutend, ausgebeutet, missachtet."

Rezitativ ist 2023 in der Übersetzung von Tanja Handels im Rowohlt Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 20 Euro sowie als E-Book 17,99 Euro.