Sonntag, 17. Oktober 2021

# 312 - Ein Roadtrip mit der Mutter durch die Familiengeschichte

1995 gelang Christian Kracht mit seinem Debütroman Faserland ein großer Erfolg: Ein junger Mann in seinen Zwanzigern, aufgewachsen in einer reichen Familie, reist von Sylt in mehreren Etappen Richtung Süden, erlebt teils verstörende Situationen und fühlt sich erst in Zürich, dem Endpunkt seiner Reise, wohl. 

Mit seinem neuesten Buch Eurotrash setzt Kracht die Reise des damals namenlosen Ich-Erzählers fort. Doch diesmal wird klar: Im aktuellen Roman geht es um ihn selbst - aber nicht nur. 

Christian Kracht wird von seiner Mutter angerufen, die ihn bittet, möglichst bald zu ihr nach Zürich zu kommen. Die über 80-jährige demente Mutter wird als gescheiterte Person geschildert: eine alkohol- und tablettenabhängige Frau, die Zeiten in der geschlossenen Psychiatrie hinter sich hat und in den letzten Jahren, in denen sie zu Hause lebte, von ihrer Haushälterin massiv bestohlen wurde, ohne es zu merken. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit mäkelt sie an ihrem Sohn herum. Der Reichtum, in dem sie ihr Leben verbracht hat, hat sie nicht glücklich gemacht. Die Sammlung an Schuhen und Zobelmänteln hat sie nicht aus ihrem psychischen Leid herausgeführt (wie auch?). Die Scheidung von ihrem Mann hat sie offenbar einsam und zynisch gemacht.

Kracht kommt bei seiner Mutter an und es dauert nicht lange, bis der erste Streit zwischen ihnen losbricht. Er erkennt, dass sich ihr Gespräch nach einem seit Jahrzehnten wiederholenden Muster entwickelt hat und beschließt spontan, dieses Muster an Ort und Stelle zu durchbrechen. Den ersten Gedanken, der Kracht in den Sinn kommt, spricht er sofort aus: Er schlägt seiner Mutter vor, gemeinsam zu verreisen. Sofort. Ein paar Sachen sind schnell gepackt, leider realisiert Kracht erst jetzt, das seine Mutter ein Stoma trägt und nun er derjenige sein wird, der es regelmäßig wechseln muss.

Mit 600.000 Franken in der Plastiktüte machen sie sich im Taxi auf den Weg. Mutters Wunsch: endlich die Elefanten in Afrika sehen. Was daraus wird: eine Fahrt durch die Schweiz, in deren Verlauf Mutter und Sohn an Orten Halt machen, die ihre Leben geprägt haben. Die Demenz der Mutter ist so weit fortgeschritten, dass sie sich nicht nur an Ereignisse aus der Vergangenheit kaum erinnern kann, sondern auch nicht erkennt, dass sie von ihrem Sohn permanent belogen wird: Sie glaubt ihm, dass es sich bei einer Herberge einer alternativen Kommune um ein gutes Hotel handelt und auch, dass er tatsächlich vor hat, mit ihr nach Afrika zu fliegen. Der Taxifahrer hat am Ende der Fahrt keine finanziellen Sorgen mehr.

Lesen?

Eurotrash ist mehr als nur die Erzählung eines seltsamen Roadtrips. Kracht schildert, wie sehr seine Familie mit dem Nationalsozialismus verwoben war, wie sein Vater zu seinem großen Vermögen gekommen ist und wie er selbst dessen Zurschaustellung seines Reichtums verachtet. Er beschreibt den Vater, der ebenfalls Christian Kracht hieß, als einen Menschen, der immer nach Anerkennung gierte und sich mit den Symbolen eines reichen Menschen umgab, ohne das entsprechende Auftreten zu haben. 

Wie nebenbei fallen zahlreiche Namen bekannter Personen, mit denen die Familie wie selbstverständlich Umgang hatte: Ein Haus wurde von Margie Jürgens, der Witwe des Schauspielers Curd Jürgens, zum Kauf angeboten; Kracht sen. war die rechte Hand des Verlegers Axel Springer, was ihn zu einem reichen Mann machte; der britische Erfolgsautor William Somerset Maugham war der Nachbar der Familie Kracht; ein anderer Nachbar war Mohamed Al-Fayed, der Freund der britischen Prinzessin Diana, der mit ihr bei einem Autounfall in Paris 1997 ums Leben kam; der Vater hatte in der gepanzerten Villa des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß mit dem Hausherrn Fisch gegessen, während seine Frau draußen im Auto wartete. 

Die Schilderung der Fahrt wird immer wieder durch Betrachtungen der Leben von Eltern und Großeltern unterbrochen.
Der Großvater mütterlicherseits war Untersturmführer der SS. In einem verriegelten Schrank fand man nach seinem Tod sadomasochistische Sex-Utensilien.
Krachts Mutter war als Elfjährige mehrmals von einem Fahrradhändler vergewaltigt worden, der einer Strafe dadurch entging, dass er mit dem damaligen örtlichen NSDAP-Bürgermeister verwandt war. Diese Erfahrung teilt sie mit ihrem Sohn, der im ähnlichen Alter im Internat von einem Geistlichen missbraucht wurde.
Der 1921 geborene Vater wollte verhindern, als Soldat an die Ostfront geschickt zu werden. Ein befreundeter Stabsarzt setzte ihn daraufhin in die eiskalte Elbe und injizierte ihm sicherheitshalber Typhuserreger, damit Kracht sen. nicht als Kanonenfutter dienen musste.

Kracht spricht die lückenhafte Entnazifizierung in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg, den Erfolg von rassistischen Kinderbüchern in den 1950-er und 1960-er Jahren und das Doppelleben seines häufig fremdgehenden Vaters an.

Aber: Das Buch hat nur etwas mehr als 200 Seiten. Auf diesen Seiten drängen sich Fakten und Erzählungen, denen jedoch jeweils nicht viel Raum gegeben wird, um sich wirklich zu entfalten. Unklar bleibt, ob es diese spontane Kurzreise mit der Mutter wirklich gegeben hat und Kracht sie so wiedergibt, wie sie sich abgespielt hat. In diesem Fall wäre die Themenvielfalt nachvollziehbar. Sollte die Figur des Christian Kracht im Roman nicht mit der Person des Autors übereinstimmen, wäre sie es nicht.

Eurotrash ist 2021 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 22 Euro. 
Der Roman ist für den Deutschen Buchpreis 2021 nominiert worden.

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