Nur ein Jahr später ist nun Vati erschienen. Monika Helfer fand, dass ihr Vater in ihrer Familiengeschichte bislang zu kurz gekommen war und widmet ihm nun ein eigenes Buch. Der Vater war Kriegsinvalide und leitete ab 1955 ein Kriegsversehrten-Erholungsheim auf dem Hochplateau Tschengla im Brandnertal (Vorarlberg). Das Leben dort war für Helfer und ihre Geschwister frei und glücklich. Das Glück fand ein Ende, als die Mutter an Krebs erkrankte und verstarb. Der Tod seiner Frau warf den Vater derart aus der Bahn, dass er plötzlich verschwand, ohne sich von seinen Kindern zu verabschieden. Diese wurden unter den Schwestern der verstorbenen Mutter aufgeteilt - die drei Mädchen kamen zu der einen, der kleine Bruder, der noch ein Baby war, zu einer anderen Schwester.
Das Leben insbesondere der drei Schwestern bei ihrer Tante und deren Familie war von Armut, Sprachlosigkeit und Verhaltensweisen der Erwachsenen geprägt, mit denen die Mädchen zunächst nicht umgehen konnten. Ihr Vater blieb für sie verschwunden, und niemand sprach über ihn. Doch eines Tages erfuhren sie, wo er sich seit der Beerdigung der Mutter aufgehalten hatte. Als sie ihn nach langer Zeit zum ersten Mal wiedersahen, war er ihnen fremd geworden.
Monika Helfer versucht, aus Teilen der eigenen Erinnerung und der ihrer Schwestern sowie der Stiefmutter ein Bild ihres Vaters zusammenzusetzen, aber das gelingt nur unvollständig. Dessen ungewöhnliche Art, Bücher zu lieben, wirkt irritierend: Es ging ihm nicht nur darum, sie zu lesen, sondern auch zu besitzen und immer wieder zu berühren. Die Art und Weise, wie ein Mensch ein Buch aus dem Regal nimmt, war für den Vater entscheidend: War sie falsch, hatte es dieser Mensch bei ihm schwer.
Als er versuchte, die gespendeten Bücher des Erholungsheims zu retten, weil die Einrichtung umgewandelt und darum die dortige Bibliothek aufgelöst werden sollte, machte er sich strafbar. Die Erkenntnis, dass man ihm bei einer Inventur auf die Schliche kommen und bestrafen würde - was seine Familie in den sozialen Abgrund gestoßen hätte - brachte ihn zu einem Selbstmordversuch. Er hatte Glück und wurde rechtzeitig gefunden, aber die Tat und der anschließende lange Krankenhausaufenthalt entfremdete ihn vor allem von seinen Kindern.
Helfers einfache und direkte Art zu schreiben erzeugt eine unmittelbare Nähe zur Handlung. Es tut förmlich weh zu lesen, wie wenig auf die Bedürfnisse der Kinder, die ihre Mutter verloren hatten, Rücksicht genommen wurde. Der Vater ergab sich seinem eigenen Schmerz und hatte seine Kinder darüber völlig vergessen. Die Tanten taten das, was sie für das Beste hielten; emotionale Zuwendung kam darin nicht vor.
Das Augenmerk der Familie lag nach einiger Zeit vor allem darauf, dass der Vater nicht noch weiter verkommen sollte. Das hieß: Er musste wieder heiraten. Das war für einen Einbeinigen mit vier Kindern nicht so einfach, aber einer von Monika Helfers Onkeln hat die Sache in die Hand genommen und eine geeignete Kandidatin gefunden, die für die Hochzeit alle eigenen Pläne über Bord geworfen hat. Warum sie das tat, blieb unerklärt.
Lesen?
Monika Helfer hat mit Vati keine Abrechnung mit ihrem Vater vorgelegt. Sie macht ihm an keiner Stelle einen Vorwurf für sein oft rätselhaftes Verhalten. Das Buch ist eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und der Geschichte ihrer Familie. Man spürt den Wunsch der Autorin, für Dinge, die sie als Kind nicht verstanden hat, als Erwachsene eine Erklärung zu finden.
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