Sonntag, 28. Januar 2024

# 424 - Reinhold Beckmann: Zwei Kriege löschten beinahe seine Familie aus

Reinhold Beckmann ist der breiten Öffentlichkeit vor
allem als TV-Moderator und Fußballkommentator bekannt. In großen Abständen veröffentlicht er jedoch auch Bücher, die sich mit dem Blick in die Vergangenheit beschäftigen. In seinen Titeln Zufall? und Erzähl doch mal von früher - Loki Schmidt im Gespräch mit Reinhold Beckmann ging es immer um die Leben bekannter Persönlichkeiten, die mit seinem eigenen nichts zu tun hatten.

Das ist mit seinem neuesten Buch Aenne und ihre Brüder: Die Geschichte meiner Mutter völlig anders. Beckmann erzählt die Lebensgeschichte seiner Mutter, die 2019 im Alter von 98 Jahren verstarb. Ihr Leben war geprägt durch Entbehrungen, Krankheiten und Todesfälle, die im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen standen.

Der Zwillingsbruder ihres Vater litt seit seiner Rückkehr aus dem 1. Weltkrieg, wo er gemeinsam mit Aennes Vater im Stellungskrieg gegen Frankreich an der Front gewesen war, an einem hartnäckigen Husten. Als Aenne am 1. August 1921 in Wellingholzhausen, heute ein Ortsteil von Melle in Niedersachsen, als Schwester von drei Brüdern geboren wurde, besuchte der stolze Onkel seine Schwägerin und seine Nichte. 

Unwissentlich steckte Aennes Onkel sie und ihre Mutter mit Tuberkulose an, an der er kurz darauf verstarb. Nur knapp acht Wochen später war auch die Mutter tot. Aenne überlebte die Krankheit knapp. Beide Todesfälle stehen in einem Zusammenhang zum Weltkrieg.

Mit fünf Jahren wurde Aenne zur Vollwaise. Sie wird drei Brüder, eine Halbschwester sowie einen Stiefbruder haben. Alle vier Brüder kommen im 2. Weltkrieg ums Leben. Reinhold Beckmann spürt seinen Onkeln, die starben, bevor sie ihre eigenen Träume leben konnten, mithilfe von Feldpostbriefen nach, die ihm seine Mutter kurz vor ihrem Tod übergeben hatte. In ihnen spiegelt sich das ganze Elend im Leben der Frontsoldaten wider. Der Jüngste, Stiefbruder Willi, wird kurz nach seinem siebzehnten Geburtstag zum Volkssturm, dem letzten Aufgebot, das den "Endsieg" bringen soll, eingezogen.

Reinhold Beckmann bettet die Geschichte der durch die Weltkriege so sehr strapazierten Familie inhaltlich in drei Teile ein: Da sind die Brüder mit ihrer Angst vor dem Tod und der immerwährenden Hoffnung, dass alles doch noch ein gutes Ende nimmt; da ist Aennes Leben in Wellingholzhausen und ihren Arbeitsstellen in der näheren Umgebung, einschließlich der Schilderung, wie sich die dortige Bevölkerung und insbesondere die Repräsentanten der katholischen Kirche angesichts der wachsenden Bedrohung durch Nationalsozialismus und Krieg verhalten haben; und schließlich ist da Beckmanns Beschreibung der historischen politischen Ereignisse und Kriegsverläufe, mit denen er seine Familiengeschichte einrahmt.

Lesen?

Es gibt viele Familien wie die Beckmanns, in denen eine ganze Generation von Söhnen ausgelöscht wurde, weil der "Führer" auf Gedeih und Verderb sein Ziel von einer Weltmacht Deutschland durchsetzen wollte. In einer Kultur des Schweigens haben allerdings viele Nachfahren nur wenig Wissen über die näheren Umstände, unter denen man im "Dritten Reich" lebte. Das Thema totzuschweigen, war viel zu oft die Regel. Beckmanns Buch lässt das Schicksal seiner Angehörigen nah an die Leserinnen und Leser heranrücken und macht es begreifbar. Durch das wörtliche Zitieren der Feldpostbriefe der drei ältesten Brüder wird es noch authentischer. Kurz: Lest es.

Aenne und ihre Brüder: Die Geschichte meiner Mutter ist 2023 im Propyläen Verlag erschienen und kostet als Hardcover-Ausgabe 26 Euro sowie als E-Book 21,99 Euro.



Montag, 22. Januar 2024

# 423 - Der Struwwelhitler - eine Parodie neu aufgelegt

Dieses Buch ist in der Originalausgabe zum ersten Mal bereits 1941 in Großbritannien erschienen. Es trug wie die spätere deutsche Fassung den Titel Struwwelhitler - A Nazi Story Book. Als Autor wurde ein "Doktor Schrecklichkeit" angegeben, aber tatsächlich steckten die Brüder Philip und Robert Spence hinter der Parodie auf den Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann. Sie gehörten zu den besten Illustratoren ihrer Zeit. Hier haben sie sich jedoch nicht auf das Zeichnen beschränkt, sondern auch für die - manchmal etwas holprigen - Verse gesorgt.

Die Figuren und Handlungen sind Hoffmanns Werk entlehnt: Außer Adolf ist da zum Beispiel anstelle von Paulinchen mit den Streichhölzern das Gretchen mit der Hakenkreuz-Armbinde, das ihre Katzen mit Kanonenschüssen erschreckt, denn: 

"Ich schieße jetzt, mir ist 'ne Last
der Frieden in der Nachbarschaft!"

Man ahnt, welches Ende es mit dem schießenden Gretchen nimmt.

Der Struwwelhitler war der Beitrag der Spence-Brüder zum "Daily Sketch War Relief Fund" und sollte mit seinen Übertreibungen und dem britischen Humor Hitler und sein Regime lächerlich machen. Großbritannien fühlte sich von der Übermacht des Deutschen Reiches bedrängt, und die englischen Truppen sowie die Opfer von deutschen Luftangriffen sollten mit dieser Persiflage neue Zuversicht und Hoffnung schöpfen.
Das Buch war von Anfang an ein großer Erfolg.

Lesen?

Struwwelhitler - A Nazi Story Book enthält einige
Anspielungen auf Personen und Ereignisse, die in der Zeit des Zweiten Weltkriegs Einfluss auf das Schicksal Europas hatten. Ein paar Geschichtskenntnisse sind also hilfreich, um die Verse zu verstehen. Die Spence-Brüder haben es verstanden, sich der für ihr Heimatland bedrohlichen Situation mit britischem Humor zu nähern, sodass das Buch auch mehr als achtzig Jahre nach dem Erscheinen der Erstausgabe lesenswert ist.

Der Autorenhaus Verlag Berlin hat den Struwwelhitler erstmals 2005 mit der deutschen Übersetzung herausgebracht. Der mir vorliegende Nachdruck stammt aus dem Jahr 2018. Der Historiker Joachim Fest, der durch seine Hitler-Biografie und mehrere Bücher über den Nationalsozialismus bekannt wurde, hat das sehr interessante Vorwort geschrieben, in dem er den Struwwelhitler in den historischen Kontext einordnet.

Das Buch wird als Klappenbroschur angeboten und kostet 10 Euro.

Freitag, 12. Januar 2024

# 422 - Wer will Inklusion und wer eher nicht?

Ich bin jetzt endlich dazu gekommen, Wer Inklusion
will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.
 
von Raúl Aguayo-Krauthausen zu lesen. Schon aus persönlichem Interesse wollte ich wissen, was einer der bekanntesten Behindertenaktivisten Deutschlands zu diesem Thema zu sagen hat.

Der Buchtitel sticht nicht gerade durch seine Knappheit hervor, drückt aber genau das aus, was Krauthausen und zahllose andere Menschen mit Behinderung praktisch täglich erleben. Es geht ihm jedoch nicht nur um Barrieren, denen auch Nicht-Behinderte begegnen können: Treppen oder schwierige Einstiege in öffentliche Verkehrsmittel stellen beispielsweise auch alle, die einen Kinderwagen schieben, vor Probleme. Er beschreibt in drei Kapiteln das "große Ganze", was das Leben von Behinderten in Deutschland ausmacht.

Es wird schnell deutlich, dass ein Leben mit einer Behinderung ebenso facettenreich ist wie das ohne. Wer im Alltag keinen Kontakt zu behinderten Menschen hat, der mag überrascht sein, dass sich die Problematik nicht nur um die Berollbarkeit von Wegen und Gebäuden dreht, sondern auch um Wünsche und Bedürfnisse, deren Erfüllung für Nicht-Behinderte ganz selbstverständlich ist: Inklusion findet zum Beispiel in Schulen oder bei der Berufswahl zu oft nicht oder nur eingeschränkt statt. Sehr vielen Behinderten wird außerdem keine Chance gegeben, möglichst selbstbestimmt zu wohnen oder ihre Sexualität auszuleben. Fürsorge wird dann schnell zur Bevormundung. Bestimmte Arten der Fürsorge haben außerdem einen finanziellen Aspekt, der sich für zahlreiche behinderte Menschen nachteilig auswirkt.

Krauthausen belässt es nicht bei einer Kritik des Status Quo, sondern beschäftigt sich ausführlich mit der Frage, wie sich die Inklusion von behinderten Menschen erreichen lässt. Es gibt noch einiges zu tun, aber er zitiert den spanischen Dichter Antonio Machado mit einem Satz, der auch für andere Themenfelder passt: "Wege entstehen dadurch, dass man sie geht."

Lesen?

Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden. sollte auch oder gerade von Menschen gelesen werden, die sich mit der Inklusion von Behinderten bislang nicht oder nur wenig beschäftigt haben. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass vieles in diesem Buch bei Leserinnen und Lesern einen "Aha-Effekt" auslöst und damit zum Verständnis beiträgt.
Mehrere Interviews mit Expertinnen und Experten - z. B. einer Sachverständigen für barrierefreies Bauen oder dem Vater eines Kindes mit Downsyndrom - runden den Inhalt ab.

Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden. ist 2023 bei Rowohlt Polaris erschienen und kostet als Paperback 17 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.