Sonntag, 24. März 2024

# 430 - Alles heiter, oder was?

Der durch seine Kolumnen in der Süddeutschen Zeitung bekannt gewordene Journalist und Schriftsteller Axel Hacke beschäftigt sich in seinem Buch Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte mit der Frage, was es eigentlich mit der Heiterkeit auf sich hat: Stellt sie sich von selbst ein? Muss man einen entsprechenden Charakter haben, um sein Leben heiter zu verbringen? Wie wichtig ist Heiterkeit im Alltag?

Es soll hier nicht um bierselige Festzelt-Heiterkeit gehen oder den Nachbarn, der einen schlüpfrigen Witz nach dem anderen vom Stapel lässt und sich lachend auf die Schenkel schlägt. Was Hacke meint, ist so etwas wie eine Lebensheiterkeit, eine grundsätzliche Einstellung, die das Gegenteil dessen verkörpert, was wir zum Beispiel von der von Charles Dickens geschaffenen Figur Ebenezer Scrooge kennen: einen ständig missgelaunten Menschen, der anderen stets abweisend gegenüber tritt.

Dass sich ausgerechnet Axel Hacke diesem Thema widmet, verwundert zunächst. Seine regelmäßigen oben erwähnten Kolumnen vermitteln Heiterkeit und eine gewisse Leichtigkeit des Seins, ohne oberflächlich zu sein. Doch er sagt tatsächlich über sich, dass er sich im Alltag um die Heiterkeit bemühen muss und kein heiterer Mensch ist.

Den Anstoß zu diesem Buch gab ein Auftrag zu einem Artikel, den er spontan zugesagt hat, dessen Bedeutung für ihn selbst sich Hacke aber erst später erschloss. Es sollte um die Heiterkeit gehen. Aber Hacke merkte rasch, dass dieses auf den ersten Blick luftig-leicht wirkende Wort seine Tücken hat; erst recht, wenn es um Heiterkeit in schwierigen Lebensphasen geht.

Axel Hacke ist nicht mehr weit weg von seinem 70. Geburtstag und damit rund zehn Jahre älter als ich. Beim Lesen seines Buches denke ich immer wieder, dass seine Bewertung von Ereignissen, die er rückblickend als heiter einstuft, auch an seinem Alter und den damaligen "Highlights" liegen mag: Beispielsweise ging es in der mit einer mehrjährigen Pause gesendeten Quiz-Show "Was bin ich?" mit dem Moderator Robert Lembke darum, möglichst rasch den Beruf des jeweiligen Kandidaten zu erraten. Die Sendung hatte in den 1970-er Jahren sehr gute Einschaltquoten und war so wie später "Wetten dass...?" eine Familiensendung. Was der Popularität sicher half, war die geringe Zahl der Fernsehsender: Je nachdem, ob man auch die DDR-Sender empfangen konnte, waren es nur drei oder eben fünf Kanäle. Als ich selbst so alt war wie Hacke zur besten "Was bin ich?"-Zeit, riss mich das Format nicht mehr vom Hocker. Es wirkte auf mich verstaubt und überholt.

Axel Hacke sieht sich bei zahlreichen Fachleuten, die aus verschiedenen Perspektiven etwas über die Heiterkeit geäußert haben, um. Da ist zum Beispiel die Kolumnistin Doris Knecht, die er zitiert, als er sich Gedanken darüber macht, ob es angesichts von Krisen wie dem Krieg in der Ukraine in Ordnung ist, sich seine Heiterkeit zu bewahren. Knecht reagiert 2022 auf die Kritik einer Leserin mit einem Fluchthintergrund und vermittelt hier eine pragmatische Haltung:
"Sie, Knecht, habe etwas über ihre Lieblingsspeisen geschrieben. Die Leserin fand es lächerlich und oberflächlich, angesichts der aktuellen Situation (vor allem des Krieges in der Ukraine) etwas über Essensvorlieben lesen zu müssen. Knecht schrieb die klaren und eleganten Sätze: »Natürlich hat sie recht. Aber ich finde, sie hat auch ein bisschen nicht recht."
Sie schrieb weiter: "Wir haben diesen Krieg nicht angefangen, keiner von uns wollte ihn, alle sind entsetzt. Ich finde nicht, dass wir uns Tag und Nacht dafür schuldig fühlen sollten, dass wir weiter das tun, was auch die Menschen in der Ukraine taten und weiter tun wollten: ganz normal in Frieden leben." Dieser Krieg höre nicht auf, wenn wir aufhörten uns zu freuen an unseren Kindern, an einem guten Essen, an Kunst. Den Menschen in der Ukraine und den Flüchtenden gehe es nicht besser, wenn wir den ganzen Tag ein schlechtes Gewissen hätten wegen unserer Ohnmacht.
"Was stattdessen passiert: Wir lassen Putin auch Krieg führen gegen uns", schrieb sie. Dann gewinne Putin. Dann bestimme Putin auch über unser Leben und nehme auch uns die Freiheit. "Helfen wir den Menschen in der Ukraine und auf der Flucht, wie und wo wir können, aber lassen wir Putin nicht bestimmen: wie wir leben wollen, woran wir uns freuen und was wir schreiben."

Die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich brachte ihre Haltung über das Zulassen von Heiterkeit angesichts von Krisen noch knapper zum Ausdruck, als sie 2008 im Alter von 91 Jahren während eines Vortrags in Frankfurt einem Zuhörer antwortete, der sich länger über die düstere Lage der Nation, den Werteverfall und die unfähigen Politiker ausließ:
"Das ist mir alles viel zu wehleidig, junger Mann. Sie sind ja nur am Jammern. Lassen Sie es mich so sagen: Jedes Leben hat seine Erschütterung, jede Zeit auch. Diese Selbstverständlichkeit zu beklagen - da machen Sie es sich sehr einfach."

Lesen?

Es fällt mir schwer, für dieses Buch eine klare Empfehlung zu geben. Axel Hacke zitiert so viele Wissenschaftler, Autoren, Philosophen und Künstler, dass es an einigen Stellen schwer fällt, den Überblick zu behalten. Dabei drohen seine eigenen Gedankengänge beinahe unterzugehen.

Manchmal kommt es auch vor, dass der Autor einen interessanten Gedanken aufgreift, ihn aber nicht bis zum Ende ausführt. Ein Beispiel hierfür sind die Überlegungen über Weltuntergangsphantasien: Die Vorstellung der Vernichtung alles Lebendigem kennt man in dieser Ausprägung nur in den sog. westlichen Ländern. In China oder Japan ist solch eine Idee einer Komplettvernichtung unbekannt. Die sich für mich automatisch stellende Frage, wie dieser Unterschied zu erklären ist, wird von Axel Hacke nicht beantwortet.

Und zu welchem Ergebnis kommt Axel Hacke nach seinen ausführlichen Überlegungen zu Heiterkeit? Ja, er gibt eine Antwort auf die Frage, wie man ein heiterer Mensch sein kann. Aber ich bezweifle, dass sie das ist, was seine Leserinnen und Leser am Ende dieses Buches erwartet haben.

Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte ist 2023 im DuMont Buchverlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 20 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.




Samstag, 16. März 2024

# 429 - Ein Krimi, der auf das Leben in Japan im beginnenden 20. Jahrhundert blickt

Der bereits 1981 verstorbene Krimi-Autor Seishi Yokomizo ist in Japan sehr bekannt, außerhalb des Landes war er es bis vor Kurzem nicht. Das änderte sich zumindest für den deutschen Buchmarkt, nachdem der Aufbau Verlag 2022 unter seiner Marke Blumenbar die Übersetzung des ersten Teils der Reihe um den Detektiv Kosuke Kindaichi, Die rätselhaften Honjin-Morde, herausbrachte. Das erstmals 1946 erschienene Buch war so erfolgreich, dass Yokomizo noch 76 weitere Male seinen Detektiv durch Japan schickte, um scheinbar unlösbare Kriminalfälle aufzuklären.

Die Handlung spielt im November 1937 in einer ländlichen Gegend in der Präfektur Okayama. Kenzo, der älteste und bereits 40-jährige Sohn einer begüterten Familie, hat am Vortag im kleinen Kreis geheiratet, als die Familie in der Nacht durch schreckliche Schreie geweckt wird. Kurz erklingt das schnelle Anschlagen einer Koto [Anm.: japanisches Saiteninstrument], gefolgt vom Geräusch eines Aufpralls. Als die Familie das vor Kenzos Haus liegende Gartentor gewaltsam öffnen will, sind wieder die Töne einer Koto und kurz darauf ein sirrendes Geräusch, das von einer gerissenen Saite stammen könnte, zu hören.

Die Familie findet Kenzos Haus verschlossen vor. Auf dem Grundstück sind auf dem frisch gefallenen Schnee keine menschlichen Spuren außer ihren eigenen zu sehen - und ein Schwert, das im Schnee steckt. Mithilfe eines Beils verschaffen sich einige der Männer Zutritt zum Gebäude und finden das Brautpaar getötet in einer großen Blutlache vor. Neben der toten Braut Katsuko steht eine blutverschmierte Koto mit einer gerissenen Saite. Außerdem ist ein Wandschirm umgestürzt. Auf ihm befinden sich ebenfalls Blutspuren: Es ist der Abdruck einer Hand zu sehen, allerdings nur des Daumens, des Zeige- sowie des Mittelfingers. Und offenbar hatte sich der Mörder Koto-Plektren über die Finger gestreift. Ist der mysteriöse Fremde, der im Dorf am Tag der Hochzeit nach dem Weg zum Anwesen der Familie gefragt hatte, der Mörder?

Katsukos Onkel, der Teil der Hochzeitsgesellschaft gewesen ist, registriert, dass der anwesende Kriminalkommissar und sein Assistent an ihre Grenzen stoßen und schickt seiner Frau ein Telegramm: Katsuko tot. Schick Kindaichi.
Wird der Privatdetektiv, der Kriminalfälle nur nach logischen Gesichtspunkten löst, es schaffen, auch hinter das Geheimnis dieses Falls zu kommen?

Lesen?

Die rätselhaften Honjin-Morde ist insbesondere für europäische Leserinnen und Leser ungewöhnlich. Nicht nur, dass Seishi Yokomizo hier ein Locked Room Murder Mystery konstruiert und sein Publikum zwischendurch gekonnt in die Irre führt; der Krimi gibt außerdem einen tiefen Einblick in die gesellschaftlichen Regeln und Lebensumstände im Japan der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - eine Welt, die uns kaum fremder sein kann. Wer normalerweise keine Krimis liest, sollte diesen allein deshalb zur Hand nehmen.

Allerdings ist auch Yokomizos Stil etwas gewöhnungsbedürftig, sodass sich sein Krimi nicht durchgehend flüssig lesen lässt. Aber es lohnt sich, am Ball zu bleiben.

Um den Überblick aufgrund der Vielzahl von japanischen Ausdrücken und auftretenden Personen nicht zu verlieren, sind dem Buch ein Personenregister und ein Glossar angefügt.

Die rätselhaften Honjin-Morde ist gebunden für 20 Euro, als Taschenbuch für 12 Euro, als Audio-Download für 14,99 Euro sowie als E-Book für 9,99 Euro erhältlich.

Anmerkung: Honjins waren während der Edo-Zeit Gasthäuser, in denen nur gehobene Regierungsbeamte und Adelige einkehrten. Wer solch einen Gasthof betreiben durfte, stieg sowohl wirtschaftlich als auch sozial auf. Die Familie des getöteten Kenzo betrieb ein Honjin bis zum Sturz des Shoguns und der Wiederherstellung des kaiserlichen Systems Ende der 1860-er Jahre. Diese Zeit bildet die Grundlage ihres Ansehens und Wohlstands.


Samstag, 2. März 2024

# 428 - Ein Essay über die Liebe

Die Philosophin und Journalistin Veronika Fischer war dabei, eine Doktorarbeit über die Liebe zu schreiben. Dann beschloss sie, nicht zu promovieren und den Inhalt der Beinahe-Dissertation so umzuschreiben, dass er sich als Sachbuch eignet, das auch von Nicht-Philosophen verstanden wird. So entstand Liebe.

Das ist ihr zweifellos gelungen. Beim Lesen erwischt man sich dabei, immer wieder zustimmend mit dem Kopf zu nicken oder über die eine oder andere Aussage nachzudenken. Fischer macht schon zu Beginn deutlich, wie inflationär mit dem im Grunde sehr intimen Begriff "Liebe" umgegangen wird. Ist das Kribbeln im Bauch und der Gefühlsrausch am Beginn einer Beziehung schon Liebe? Oder ist es eine Vorstufe, also die Verliebtheit? Und wie ist das, wenn sich langjährige Freundschaften nach und nach in Liebesbeziehungen verwandeln, ohne dass es vorher die Phase der Verliebtheit gegeben hat?

Fischer zieht zahlreiche Quellen wie Philosophen, Schriftsteller oder Musiker heran, um zu ergründen, was es mit der Liebe auf sich hat. Für die Überlegung, ob es sich bei der Liebe um ein Gefühl handelt, hilft möglicherweise die Definition des Wörterbuches der Philosophie weiter, denn es heißt hier, dass man unter einem Gefühl eine "nicht dem Willen unterliegende, körperlich-seelische Reaktion eines Individuums auf die Inhalte seines Erlebens" versteht. So ganz passt das nicht auf die Liebe.

Vorsicht ist geboten, wenn man auf der Suche nach klugen Ratgebern, die sich in der Vergangenheit bereits über die Liebe Gedanken gemacht haben, auf solche stößt, die außer salbungsvollen Worten nichts Hilfreiches zum Thema zu bieten haben. Beispielhaft sei der französische Schriftsteller Stendhal genannt, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jahrelang eine verheiratete politische Aktivistin liebte, aber von ihr nie erhört wurde. Stendhal hat die Dame nie berührt und die in seinem Inneren mit ihr geführten Gespräche nie in der Realität umgesetzt. Er hatte sein Leben lang keine Liebesbeziehung, weswegen Fischer ihn mit einem mittelalterlichen Minnesänger vergleicht. Wie sollte er etwas Sinnvolles über die Liebe sagen können, wenn er nur das Stadium des Verliebtseins kannte?

Veronika Fischer nähert sich der Liebe von mehreren Seiten und es wird deutlich, was wir schon ahnten: Es ist nicht immer alles eitel Sonnenschein, sondern eine Liebesbeziehung basiert auch darauf, dass man an ihr arbeitet und - schöne Grüße an Paare, die sich nur noch anschweigen - miteinander kommuniziert.

Die meisten Überlegungen, die Fischer in Liebe anstellt, sind nachvollziehbar. Einige Stellen fand ich jedoch irritierend, zum Beispiel die Aussage, dass in Liebesbeziehungen nicht automatisch Liebe im Spiel ist. Die Begründung hat mich leider nicht überzeugt.
Auch die Passage, in der es heißt, dass "in vielen anderen Kulturen [...] arrangierte Ehen ein fester Bestandteil der Liebespraxis (sind), bei deren Nicht-Befolgung ein Verstoßen aus der Gemeinschaft droht", ließ mich ratlos zurück. 

Lesen?

Liebe ist ein lesenswerter Exkurs in ein Thema, über das wohl schon nachgedacht wird, seitdem Menschen Sätze formen können. Dem Text ist zwar manchmal anzumerken, dass seine Autorin mit ihm ursprünglich etwas anderes vor hatte, den für wissenschaftliche Arbeiten verwendeten sprachlichen Duktus vermeidet Fischer jedoch. Manche Aussagen werden jedoch nicht weiter vertieft und bleiben einfach im Raum stehen. Da wäre an einigen Stellen mehr möglich gewesen.

Liebe ist 2024 im Verlag Kremayr & Scheriau erschienen und kostet als Hardcover-Ausgabe 20 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.