Wie aus Anpassung Auflehnung werden kann
Das Buch für diese Woche wirft einen Blick in die Zukunft, und zwar ins Jahr 2057, also gar nicht mehr weit weg. Es heißt Corpus Delicti - ein Prozess und wurde erstmals 2009 veröffentlicht. Die Autorin Juli Zeh beschreibt darin eine Rechts- und Gesellschaftsform, die auf der Einhaltung von strikten Gesundheitsvorgaben beruht, was eine lückenlose Überwachung einschließt. Im Buch wird diese Ordnung als "die METHODE" bezeichnet.
Private Gefühle? Nicht erwünscht in der Gesellschaft von morgen
Im Mittelpunkt des Geschehens ist die 30-jährige Naturwissenschaftlerin Mia Holl, die vor Kurzem ihren Bruder Moritz verloren hat. Moritz Holl war angeklagt worden, eine Frau vergewaltigt und ermordet zu haben und wurde aufgrund eines positiven DNA-Tests verurteilt. Moritz hatte seiner Schwester immer wieder seine Unschuld beteuert. Doch auch wenn Mia „eigentlich“ nicht glauben konnte, dass ihr Bruder zu so einer Tat fähig sein könnte, nagte doch immer ein leiser Zweifel in ihr. Ein DNA-Test ist nun mal sicher.
Als die Situation für ihn unerträglich wurde, erhängte sich Moritz Holl in seiner Gefängniszelle. Die Trauer um den Bruder übermannt Mia dermaßen, dass sie darüber vergisst, ihr staatlich vorgeschriebenes Gesundheitsprogramm einzuhalten, was ihr als treue Anhängerin der METHODE früher nie passiert ist. Sie vernachlässigt die täglichen Einheiten auf dem Ergometer, sie isst verbotene Lebensmittel und entsorgt Erbrochenes in einem Gully, weil die Sensoren in der Toilettenschüssel sofort die Magensäure messen und die Ergebnisse melden würden. Ihr ist klar, dass ihr Verhalten früher oder später bemerkt wird, denn allen Menschen wurde ein Chip implantiert, der ständig Auskunft über den körperlichen Zustand und das gesundheitsfördernde oder -schädliche Verhalten eines jeden Bürgers gibt.
Schon bald wird Mias Fall dem Amtsgericht vorgelegt, aber sie hat Glück und wird wegen ihrer Schlamperei nur verwarnt. Doch ab sofort ist sie unter der Beobachtung von Heinrich Kramer, dem fanatischen Chefideologen der METHODE. Er ist ein selbstsicher auftretender Mann mit dem Habitus eines Gentlemans. Kramer besucht Mia Holl zu Hause und versucht zunächst mit Charme, die junge Frau zum Einlenken und zu einer „Normalisierung“ ihres Verhaltens zu bewegen. Doch ihm schlägt sofort Mias geballter Hass entgegen. Sie erträgt es nicht, dass Kramer Moritz vorwirft, selbst schuld an seinem Unglück gewesen zu sein. Ihr Bruder hatte bis zum Schluss seine Unschuld beteuert, obwohl die Indizien gegen ihn sprachen. Sein Verhalten war ein Bruch mit den üblichen Gepflogenheiten. Die METHODE erwartet von ihren Bürgern, dass ihr persönliches mit dem öffentlichen Wohlergehen deckungsgleich ist. "Ihr opfert mich auf dem Altar eurer Verblendung!" war der Satz, den Moritz Holl so oft aussprach, wie sich eine Gelegenheit bot. Sein Auftreten, was völlig vom Gewohnten abwich, geriet zum öffentlichen Skandal und spaltete die Bevölkerung in Bewunderer und Menschen, die ihn aus tiefstem Herzen ablehnten.
Was passiert, wenn sich Bürger nicht systemkonform verhalten?
Als sich anhand der erhobenen Daten ablesen lässt, dass Mia die Gesundheitsvorgaben immer noch nicht einhält, wird sie zu einer Anhörung vor dem Amtsgericht vorgeladen. Die Richterin ist Mia grundsätzlich wohlgesonnen und bietet ihr medizinische Hilfen an. Ihr ist völlig unverständlich, warum diese sofort von Mia abgelehnt werden. Auch von der Begründung ist sie irritiert: Mia Holl hält ihre psychischen Probleme doch tatsächlich für eine Privatangelegenheit!
Schon zwei Tage später sitzt sie der Richterin erneut gegenüber. Der Vorwurf lautet diesmal „Missbrauch toxischer Substanzen“. Mia hatte in ihrer Wohnung geraucht und war von einer eifrigen Nachbarin denunziert worden. Auch diesmal erntet sie mit ihrer Begründung, sie habe ihrem toten Bruder nahe sein wollen, kein Verständnis und wird zu einer Geldstrafe in Höhe von 20 Tagessätzen verurteilt, was als äußerst milde Strafe gewertet wird. Jetzt trifft sie zum ersten Mal auf ihren neuen Anwalt, Dr. Lutz Rosentreter.
Rosentreter hat sich seine Mandantin mit Bedacht ausgesucht. Auch er hat Probleme mit der METHODE, weil es ihm aus immunologischen Gründen untersagt ist, mit der Frau, die er liebt, zusammen zu sein. Die beiden sind einfach nicht kompatibel. Auch wenn er oft tollpatschig und ungeschickt wirkt, erweist er sich als die treibende Kraft, die Mia letztlich dazu bringt, sich gegen das System zu stellen.
Weil Rosentreter im Namen seiner Mandantin einen Anfechtungsantrag gestellt hat, kommt es zu einer weiteren Gerichtsverhandlung, bei der die ihnen hinlänglich bekannte Richterin den Vorsitz hat. Wegen Mias Uneinsichtigkeit verliert die Richterin zum ersten Mal die Nerven. Als dann auch noch Rosentreter einen Härtefallantrag stellt, weil nach seiner und Mias Ansicht sich die METHODE nicht in die privaten Angelegenheiten der Angeklagten einmischen sollte, reißt der Richterin endgültig der Geduldsfaden. Sie verurteilt Mia zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und kündigt an, ihren Fall dem Methodenschutz zu melden. Damit wird die Privat- zu einer Staatsangelegenheit.
Rosentreter tritt nach
Lutz Rosentreter hat noch Großes vor. Er schlägt seiner Mandantin vor, in einem neuen Verfahren Moritz' Unschuld zu beweisen. Zu diesem Zeitpunkt hat er jedoch noch keine Strategie für einen solchen Prozess, mit dem er sich und Mia klar gegen das System stellen würde. Als hätte ihn jemand gerufen, tritt in diesem Moment Kramer auf den Plan. Im Gespräch mit Mia und dem Anwalt bittet er die junge Frau, etwas über ihren Bruder zu erzählen. Wie nebenbei berichtet sie da von der Leukämieerkrankung, an der Moritz im Kindesalter litt. Die ärztliche Behandlung hatte vollen Erfolg, Moritz konnte restlos geheilt werden. Diese Informationen sind sogar Kramer neu, dem normalerweise nichts entgeht. Doch für Rosentreter sollen diese Neuigkeiten der Schlüssel zum Wiederaufnahmeverfahren sein.
Rosentreter muss sich jedoch in dieser Hinsicht keine Mühe geben. Dem Methodenschutz ist Mias Verhalten mittlerweile so suspekt, dass sie überfallartig verhaftet wird, als sie rauchend (verboten!) ihre nackten Füße in einen Fluss hält (auch verboten, wegen der vielen Keime!). Es kommt zu einer Gerichtsverhandlung, bei der ihr „methodenfeindliche Umtriebe in Tateinheit mit der Führung einer methodenfeindlichen Vereinigung“ vorgeworfen werden. Dem System ist ihr immer kritischer werdendes Verhalten offenbar ein Dorn im Auge. Der normalerweise vorhersehbare Prozessverlauf nimmt eine jähe Wende, als Rosentreter beantragt, verfahrensrelevante Materialien aus dem Prozess gegen Moritz Holl hier verwenden zu dürfen. Niemand ahnt, wohin seine Erläuterungen führen werden. Er kommt auf Moritz' Leukämie zu sprechen und erklärt das Prinzip der Behandlung: Moritz Holl hatte eine Stammzellentransplantation erhalten, wobei das rote Knochenmark eines Spenders auf ihn übertragen wurde. Da die METHODE über sämtliche medizinisch relevanten Daten ihrer Bürger verfügt, war es sehr einfach, einen geeigneten Spender zu finden. In diesem System muss auch niemand mühsam zu einer Knochenmarkspende überredet werden, da anonyme Pflichtspenden längst vorgeschrieben sind. Kramer scheint als erster zu begreifen, welche Sprengkraft in den noch kommenden Ausführungen des Rechtsanwalts liegen wird. Er versucht, von der Zuschauerbank aus in das Geschehen einzugreifen und Rosentreter das Wort zu verbieten. Doch der lässt sich nicht beirren und erläutert, welche weiteren Folgen eine solche Spende hat: Der Leukämiekranke hat anschließend die Blutgruppe, das Immunsystem und die DNA seines Spenders. Er kann dem Gericht sogar den Namen des Spenders und damit des Mannes nennen, der anstelle von Moritz Holl hätte verurteilt werden müssen. Der Skandal ist da und die Unfehlbarkeit der METHODE ernsthaft beschädigt und infrage gestellt.
Mia Holl sorgt für die prozessuale Amarenakirsche auf dem Sahnehäubchen
Doch Mia ist das noch nicht genug. Jetzt geht sie aufs Ganze und diktiert Kramer eine Proklamation, in der sie dem System und der Gesellschaft ihr Vertrauen entzieht.
Die Konsequenzen folgen auf den Fuß: Drei Männer des Methodenschutzes dringen gewaltsam und spektakulär in ihre Wohnung ein und nehmen sie fest. Doch dieses Mal gibt es keine Anklage, offiziell erfolgte die Verhaftung wegen Suizidgefahr. Daraufhin reicht Rosentreter eine Klage beim Höchsten Methodengericht ein. Wie erwartet wird die Klage wegen mangelnder Aussicht auf Erfolg abgewiesen. Auch der Härtefallantrag hat keinen Erfolg, sodass der Prozess gegen Mia fortgesetzt wird. Es ist keine Überraschung, dass es zu ihrer Verurteilung kommt: Sie soll auf unbestimmte Zeit eingefroren werden. Doch das ist nicht das, was sich die METHODE vorstellt: eine unangepasste Frau, die mit dem Vollzug der Strafe zur Märtyrerin wird. Buchstäblich in letzter Sekunde, als sich bereits der Deckel des Gefriergeräts über ihr gesenkt hat und der erste Kältenebel in den Raum dringt, wird sie begnadigt. Sie ist im Sinne des Systems frei, wird aber mit einer langen Reihe von "Hilfen" belegt, die das genaue Gegenteil von Freiheit sind.
Gesellschaftskritik in einem Zukunftsroman
Juli Zeh zeichnet einen Überwachungsstaat, der seine Bürger bis in jede Pore ausspioniert und ihnen mit seinem Gesundheitswahn und der Dauerüberwachung den letzten Rest Individualität raubt. Jeder Einzelne soll sein Leben tadellos erfüllen und die von der METHODE gesetzten Vorgaben strikt einhalten. Die Autorin führt zwar nicht aus, ob es in dem im Buch dargestellten System so etwas wie Alterung und Leistungsabfall gibt, aber da die Handlung nur eine kurze Zeitspanne abdeckt und es zentral um die Entwicklung der Hauptperson Mia Holl geht, sind solche Überlegungen für die Handlung weniger wichtig. Vielleicht wird es ja mal ein Buch geben, in dem sich Juli Zeh mit dieser Frage beschäftigt?
Juli Zeh ist nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Juristin und hat im Laufe der Jahre etliche Buchpreise gewonnen. Ob auch für dieses Buch, weiß ich nicht, aber das spielt für mein Urteil auch keine Rolle: Lest es! Es ist interessant von der ersten bis zur letzten Seite. Davon gibt es nur 260, sodass es leicht an einem Wochenende zu schaffen ist.
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