Freitag, 29. Juni 2018

# 156 - Roman über eine lange Liebe mit Höhen und Tiefen

Stille und Einfachheit prägen die Familie

 

Johanna Lettmann und Wilfried Fiebelkorn werden im 2. Weltkrieg von der Roten Armee aus Hinterpommern vertrieben. Johanna wird schnell schwanger, doch auf der Flucht wird Wilfried von britischen Soldaten aufgegriffen und verbringt die nächsten fünf Jahre in englischer Kriegsgefangenschaft, ohne vorher je einen Schuss abgefeuert zu haben. Johanna erhält während dieser Zeit kein Lebenszeichen von ihm. In seinem Debutroman Ein Fiebelkorn erzählt Matthias Lanin auf eine spezielle Art von einer deutschen Familie, deren Schicksal - wie das vieler anderer auch -  von Umständen abhing, die sie nicht beeinflussen konnten.

Mehr als 50 Jahre Ehe in einem Buch

 

Die Fiebelkorns führen ein stilles Leben und sind immer wieder gezwungen, sich mit einschneidenden Ereignissen auseinanderzusetzen und sie zu verarbeiten. Sie haben vier Töchter, aber eine von ihnen stirbt im Alter von vier Jahren. Zu einer anderen Tochter, die in den USA lebt, haben sie nur gelegentlich Kontakt. Johanna und Wilfried haben das Kriegsende erlebt, ihre Kinder in der DDR großgezogen, haben ungläubig den Mauerfall vor dem Fernseher verfolgt und sind über all dem alt geworden. Jeder kennt genau die Vorzüge und Macken des anderen und kommt damit zurecht, sie haben sich als über 80-Jährige in ihrer bescheidenen Zweisamkeit eingerichtet. Doch man ahnt schon auf den ersten Seiten, dass damit bald Schluss ist: Wilfried spürt ein Gewicht auf der Brust, das ihm das Atmen schwer macht, behält das aber für sich. Aber dann, etwa in der Mitte des Romans, passiert das, wovor sich Johanna gefürchtet hat: Ihr Mann bittet sie, ihn sofort mit dem Auto ins Krankenhaus zu fahren. Wenn er das macht, muss es schlimm um ihn stehen, das ist Johanna klar. Aber sie ist schon eine Ewigkeit nicht mehr gefahren, und ihre Brille hat sie auch verlegt. Wilfried sackt auf dem Beifahrersitz zusammen, noch bevor sie am Krankenhaus angekommen sind.

Wie soll es nun allein weitergehen? 

 

Mithilfe einer ihrer Töchter wird Wilfrieds Beerdigung organisiert, aber Johannas Gemütszustand ist völlig aus den Fugen geraten: In manchen Momenten will sie nicht wahrhaben, dass ihr Mann tot ist und nie mehr zur Tür hereinkommen und auf seinem Platz am Küchentisch sitzen wird. Manchmal ärgert sie sich auch, dass er sich so einfach davongemacht hat, ohne ihr Bescheid zu sagen. Doch vom ersten Moment an, den sie allein in ihrem Haus verbringt, spürt sie die Einsamkeit, die Leere um sich herum. Und dann sieht sie etwas vor dem Fenster, was sie unmissverständlich auf ihre eigene Endlichkeit hinweist.

Wie war's?

 

Matthias Lanin setzt für seinen Roman einen neutralen Erzähler ein, der immer dann, wenn der Fokus auf Johanna oder Wilfried liegt, zu plattdeutschen Ausdrücken greift. Auffällig ist die Sprachlosigkeit der Eheleute: Sie verständigen sich untereinander oft nur mit Blicken oder Gesten, richtige Gespräche finden nicht statt. Das setzt sich auch gegenüber ihren Töchtern fort: Das, was die Eltern denken, lassen diese unausgesprochen und fertigen ihre Kinder oft mit Kurzsätzen barsch ab.
Auf dem Buchcover wird Ein Fiebelkorn als Liebesgeschichte bezeichnet. Wer deswegen eine romantische Lektüre erwartet, ist hier falsch. In der Rückschau gibt es sogar einen Moment, in dem sich die junge schwangere Johanna fast einem anderen Mann zugewandt hätte. Auch das, was die Eheleute voneinander denken, ist nicht immer freundlich, aber nach so vielen gemeinsamen Jahren realistisch.

Ein Fiebelkorn ist im Divan Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 15,90 Euro sowie als epub- oder Kindle-Ausgabe 8,99 Euro. Ich bedanke mich bei der Literaturagentur kongking, die  mir das Buch zur Verfügung gestellt hat. 

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