Jede Woche stelle ich ein Buch vor, das ich gelesen habe und das mich auf irgendeine Weise berührt hat.
Freitag, 17. April 2020
# 236 - "Pfarrers Kinder, Müllers Vieh gedeihen selten oder nie"
Melissa Dreyer ist die Hauptfigur im Roman Stummer Wechsel von Karin Nohr. Sie als ambitioniert zu bezeichnen, wäre eine große Untertreibung. Die promovierte Leiterin eines Gymnasiums scheint nur zwei wirkliche Leidenschaften zu kennen: ihren Beruf, durch den sie sich Achtung und Anerkennung erworben hat, und den Chor, in dem sie dank ihres außergewöhnlichen Soprans eine wichtige Rolle inne hat. Doch nicht nur der Gesang treibt die Frau jede Woche pünktlich zur Probe, sondern vor allem der charismatische Chorleiter Herbert Michaelis. Melissa ist in ihn verliebt und glaubt, zwischen sich und dem Mann eine Seelenverwandtschaft zu erkennen.
Doch dann tritt Marie Baumgarten als neues Mitglied in den Chor ein. Als sich Harald für die junge Frau interessiert, bricht Melissa tief verletzt den Kontakt zu ihm und ihre Mitarbeit im Chor abrupt ab und verfällt in eine persönliche Krise, unter der auch ihre Arbeit in der Schule leidet. Ihre äußerst loyale Schulsekretärin Anja Miljes hält ihr die Stange, was vor allem durch deren intime (und geheime) Beziehung zu Schulrat Jürgen Pönsgen gut gelingt. Als dann ein zunächst Unbekannter Melissa zu Hause mit einem Messer niedersticht, nimmt ihr Leben eine radikale Wendung.
Dass Karin Nohr promovierte Psychologin und Psychoanalytikerin ist, merkt man ihrem Roman an. Die Hauptfiguren, die zum Teil über Eigenschaften verfügen, die sie dem Leser zunächst suspekt oder unseriös erscheinen lassen, lassen im Laufe der Handlung gewissermaßen ihre Hüllen fallen. Man erkennt, welche Last aus der Vergangenheit sie mit sich herumtragen und wie sie von ihnen nahestehenden Menschen verletzt wurden. Ihnen ist gemeinsam, dass sich jede auf eigene Weise mit ihrem Schicksal arrangiert, sich aber niemand professionelle Hilfe geholt hat.
Stummer Wechsel ist spannend geschrieben und bekommt durch Nohrs Humor einen unverwechselbaren Stil. Am Ende des Romans fragt man sich unwillkürlich, welche Lasten aus der Vergangenheit sich bis heute auf das eigene Verhalten und den Lebensweg auswirken und was sich hinter der Fassade unserer Mitmenschen verbergen mag. Die Redewendung, die der Titel dieser Rezension ist, gibt einen Hinweis darauf. Lesen!
Stummer Wechsel ist im Größenwahn Verlag erschienen und kostet in der mir vorliegenden Taschenbuchausgabe 15 Euro, als gebundenes Buch 21,90 Euro und als E-Book 9,99 Euro.
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