Freitag, 26. November 2021

# 317 - Der Aufstand der katholischen Frauen

Lisa Kötter ist eine der Gründerinnen der katholischen Reformbewegung Maria 2.0. Sie und einige andere Frauen trafen sich jeden Monat in Münster, als Kötter der Runde im Januar 2019 von einer Reportage erzählte, die vom ZDF gezeigt worden war: Das Schweigen der Hirten. Dort geht es um das systematische Vertuschen von Kindesmissbrauch, begangen von Priestern. Die katholische Kirche hat nicht etwa die Opfer beschützt, sondern die Täter: Sie wurden, sobald Missbrauchsfälle offenkundig wurden, weltweit auf andere Gemeinden verteilt. Dass hohe Kleriker von dieser Praxis nichts mitbekommen haben könnten, ist ausgeschlossen.

Das, was über Jahrzehnte nur geraunt und gemunkelt wurde, wurde durch die Reportage greifbar und war bewiesen worden. Jeder einzelnen Frau in diesem Kreis war klar, dass weiteres Schweigen dazu führen würde, das bestehende System zu erhalten. Die katholische Kirche schützte nicht die Menschen, sondern nur sich selbst. Sie hatte Erbarmen mit den Tätern aus ihren Reihen, aber keines mit den Opfern. Es handelte sich um einen einzigen großen Männerbund mit überkommenen Vorstellungen.

Von da an gab es die Initiative Maria 2.0., von der Kötter in ihrem Buch Schweigen war gestern erzählt. Die Frauen, die sich ihr anschlossen, zeigten symbolisch, dass ihre Kirche sie ausgeschlossen hatte, indem sie ihre Gottesdienste vor der Heilig-Kreuz-Kirche in Münster abhielten. Dazu waren kein Altar und kein Pfarrer nötig, in der Gemeinschaft der Getauften haben sich die Frauen gegenseitig gesegnet. Die Gemeinschaft wuchs, auch Männer kamen dazu.

Kötter beschreibt, wie aufgewühlt vor allem ältere Frauen waren. Sie hatten sich häufig über Jahrzehnte ehrenamtlich für die Kirche eingesetzt und dabei nicht wahrgenommen, dass sie und ihre Arbeit von dieser nicht wertgeschätzt wurden. Und oft nicht nur das: Durch die von der Kirche auferlegten Moralvorstellungen sind  zahlreiche Frauen sog. "Muss-Ehen" eingegangen, unehelich geborene Kinder galten als unrein und wurden nicht getauft. Die Kirche hatte alles Weibliche als minderwertig eingestuft.

Die Bewegung Maria 2.0 formulierte 2019 einen offenen Brief an Papst Franziskus, der von mehr als 42.000 Menschen unterzeichnet, aber bis heute nicht beantwortet wurde. Darin prangerte sie die Vergehen und Versäumnisse der katholischen Kirche im  Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen durch Kleriker an und stellte einen Katalog von Forderungen auf. Im Zentrum: Die Kirche muss sich endlich an Jesus ausrichten. Er kam aus einfachen Verhältnissen und arbeitete als Handwerker, bevor er sich von Johannes taufen ließ. Er war nur zwei bis drei Jahre in der Öffentlichkeit aktiv, aber hat in dieser kurzen Zeit bewirkt, dass eine neue Zeit anbrach. 

Jesus vermittelte den Menschen, von Gott geliebt und nicht kontrolliert und bedroht zu werden. Er wandte sich gerade denen zu, die am Rand der Gesellschaft standen und von ihr gemieden wurden. Und er sprach in der Öffentlichkeit mit Frauen, was in seiner Zeit sehr ungewöhnlich war. Frauen wurden nur als Hausfrauen und Mütter wahrgenommen, Entscheidungen durften sie nicht treffen. Doch Jesus gab ihnen eine Stimme und agierte mit ihnen auf Augenhöhe. Durch sein Verhalten, was sich so deutlich von dem, was als normal angesehen wurde, unterschied, stellte er die damaligen auf Angst aufgebauten Machtstrukturen infrage.

Lisa Kötters Buch ist nicht nur eine Anklage in Richtung der katholischen Kirche, sondern auch ein Appell, sich zu öffnen. Sie wünscht sich, dass auch außerhalb der gewohnten Umgebungen und Strukturen Menschen zusammenkommen, um Gottesdienste zu feiern, an denen auch diejenigen teilnehmen können, die der Kirche bisher nicht nahestanden. Von der Autorin stammen auch die Frauenporträts auf dem Cover, deren verklebte Münder das erzwungene Schweigen symbolisieren.

Lesen?

Ja, denn Lisa Kötter beschreibt das Tun und die Haltung der katholischen Kleriker aus weiblicher Sicht. Dieses Buch richtet sich nicht nur an Menschen, die dem christlichen Glauben nahestehen, sondern an alle, die an einer gesellschaftlichen Veränderung teilhaben wollen: dem Überwinden von männlichen Machtstrukturen, die es nicht nur in der katholischen Kirche gibt.

Schweigen war gestern ist 2021 im bene! Verlag erschienen und kostet 14 Euro.


Freitag, 19. November 2021

# 316 - Einmal quer durch die Welt des Wissens

Dieses Buch basiert auf einer ziemlich abgefahrenen
Idee: Der Journalist Peter Grünlich hatte sich vorgenommen, alle deutschsprachigen Wikipedia-Einträge zu lesen. Er hatte sich dafür ein Jahr Zeit genommen und täglich einige Stunden in der Online-Enzyklopädie gelesen. Seine Erfahrungen mit Wikipedia und das, was er dort gelernt hat, hat er in seinem Buch Der Alleswisser zusammengetragen.

Aber geht das überhaupt? Kann man zumindest alle deutschen Wikipedia-Seiten durchlesen? Ja, wenn man bereit ist, dafür elf Jahre seines Lebens zu investieren und während dieser Zeit auf Schlaf zu verzichten. Das würde aber nur dann klappen, wenn ab sofort keine weiteren Artikel hinzukämen. Aber so ist es nicht: Jeden Tag wächst die Zahl der deutschen Artikel um mehrere Hundert.

Da bleibt nur eins: Man muss dieses Projekt mit einem System angehen. Grünlich versucht es mit dem Lesen in alphabetischer Reihenfolge, doch schnell wird klar: Es gibt kaum etwas Ermüdenderes, als sich auf Gedeih und Verderb todlangweilige Texte anzutun, nur um das selbstgewählte Prinzip einzuhalten. Der Autor versucht es deshalb mit dem zufallsgesteuerten Durchklicken und stößt dabei auf  Inhalte, die ihn überrascht, abgestoßen oder fasziniert haben und alle eines gemeinsam hatten: Sie waren interessant, aber kaum bekannt.

Das, was Grünlich in seinem Buch zusammengetragen hat, ist jedoch weit entfernt davon, Bestandteil eines Bildungskanons zu werden. Er pflügt im Zickzack-Kurs durch die Themen und stößt dabei auf Erklärungen zu Redewendungen oder Begriffen wie beispielsweise "Scheißtag", die wir häufig benutzen, aber deren Herkunft wir meistens nicht kennen. 

Weiter geht es mit Skandalen (z. B. der sog. Perdicaris-Zwischenfall von 1904, der sich erst Jahrzehnte später als ein Versagen von US-Präsident Roosevelt herausstellte), ungewöhnlichen Todesarten (darunter der Grund für die kürzeste Amtszeit eines US-Präsidenten oder die Todesart des griechischen Dichters Aischylos 456 v. Chr.) sowie unglaublichen Artikeln über Tiere (ganz vorn dabei: 'Mike the Headless Chicken', der anderthalb Jahre mit einem fast ganz abgetrennten Hals weiterlebte, und ein Bärenpavian, der 1890 in Südafrika die Prüfung zum Schrankenwärter ablegte).

Auch die blutigste Kneipenschlägerei der Geschichte ist eine Erwähnung wert. Sie ereignete sich 1355 in Oxford, zog sich mehrere Tage hin und kostete über 90 Menschen das Leben.

Lustiger ist da schon die Geschichte des französischen Pups-Künstlers Joseph Pujol, der ab 1892 dem staunenden Publikum zeigte, welche Töne er seinem Darmausgang entlocken konnte. Das Auspusten von Kerzen mithilfe der Blähungen war da noch die leichteste Übung. Diese Biographie ist eine von mehr als 763.000 (Stand Mai 2020) der deutschsprachigen Wikipedia. Darunter befindet sich auch die des Franzosen Michel Lotito, der im Laufe seines Lebens 18 Fahrräder, 15 Einkaufswagen, sieben Fernseher, sechs Kronleuchter, zwei Betten, ein Paar Ski, einen Sarg und eine Cessna verspeiste. Nichts davon hat ihm geschadet. Das sehr skurrile Verhalten geht auf eine Essstörung mit dem Namen Pica-Syndrom zurück.

Auch die Geschäftsidee der Britin Elizabeth Ruth Belville ist eine Erwähnung wert. Belville lebte von 1854 bis 1843 und machte ihr Geld 40 Jahre lang damit, die amtliche Zeit (Greenwich Mean Time) mit einer eigenen Uhr abzugleichen und die abgelesene Uhrzeit Abonnenten wie beispielsweise Uhrmachern mitzuteilen. Sie ist als 'Greenwich Time Lady' ein Teil der Londoner Stadtgeschichte.

Lesen?

Es würde hier zu weit führen, weitere Beispiele für spannende Artikel aufzuführen. Der Untertitel, den Grünlich seinem Buch gegeben hat, weist bereits in die richtige Richtung: Wie ich versucht habe, Wikipedia durchzulesen, und was ich dabei gelernt habe. Man lernt beim Lesen der Wikipedia-Artikel eine ganze Menge, und irgendetwas nimmt man immer für sich mit. Die Internet-Enzyklopädie hat einen unfassbaren Umfang angenommen, sodass man zu fast allen Themen Inhalte findet. Die von Grünlich verwendete Methode ist allerdings gewöhnungsbedürftig, denn sie verführt dazu, sich im Dickicht der Informationen zu verlieren. Dass das Grünlich passiert ist, ist dem Buch an einigen Stellen anzumerken. Er kommt oft vom Hölzchen aufs Stöckchen, manche Themen werden hingegen in ein oder zwei Sätzen nur angerissen. Das schnelle Springen von einem Thema zum anderen macht das Buch zwar sehr interessant, das Lesen aber etwas anstrengend. 

Der Alleswisser ist 2020 im Yes Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 14,99 Euro sowie als E-Book 11,99 Euro.


Freitag, 5. November 2021

# 315 - All you need is love

Dieses Buch ist als Irrläufer zu mir gekommen. Normalerweise hätte mich schon das Cover von Das kunterbunte Liebesbuch abgeschreckt, es zur Hand zu nehmen: eindeutig zu viel Pink. Aber der Untertitel ist ein deutlicher Hinweis, dass man es nicht mit einem vor Herzschmerz überquellenden Titel zu tun hat, in dem es ständig um geflügelte Insekten geht, die sich im Verdauungstrakt der Menschen herumtreiben: Seltsame und kuriose Fakten rund um klopfende Herzen und Schmetterlinge im Bauch.

Harald Havas hat sich dem Thema 'Liebe' von etlichen Seiten genähert: Da geht es zum Beispiel um Koseworte, wie sie nicht nur unter Liebespaaren üblich sind, und deren Systematik. Er schreibt da eher unromantisch über Fakten als weiche Knie.

Natürlich dürfen auch "die drei magischen Worte" nicht fehlen. Aber sind es auch in anderen Sprachen ebenso viele Worte, um seiner oder seinem Angebeteten seine Liebe zu gestehen? Havas liefert die Übersetzung in zahlreiche Sprachen von A wie Afrikaans bis Z wie Zulu. Und wer sich lieber auf Elbisch, Dothrakisch, Klingonisch oder Esperanto erklären möchte, wird ebenfalls fündig. Spoiler: In manchen Sprachen reicht ein einziges Wort für eine Liebeserklärung.

In weiteren Kapiteln widmet sich Havas verschiedenen Fragen rund um die Liebe: Wann und wo waren oder sind Eheschließungen unter Verwandten üblich und gewollt? Wo und warum gibt es Polygamie? In welchen Ländern und aus welchen Gründen nimmt die Sologamie (Selbstheirat) zu? Welche Arten von Liebe gibt es? Welche sündhaft teuren Liebesgeschenke sind bekannt? Welche berühmten Liebespaare gab es? Wie unterscheiden sich Hochzeitsbräuche? Und natürlich darf auch ein Kapitel mit der Überschrift "Liebe geht durch den Magen" nicht fehlen, das sich mit Lebensmitteln beschäftigt, die in irgendeiner Weise mit der Liebe in Verbindung gebracht werden - vom Aphrodisiakum bis zur Hochzeitstorte.

Lesen?

Das kunterbunte Liebesbuch ist ein flott lesbares Buch, das viel Interessantes und Unterhaltsames über die Liebe bietet. Es hält Stoff für einige schöne Lesestunden bereit.

Das kunterbunte Liebesbuch ist 2021 im Goldegg Verlag erschienen und kostet 15 Euro.