Sonntag, 19. Dezember 2021

# 320 - Fröhliche Weihnacht' überall...

In fünf Tagen ist Heiligabend. Passend zu den Weihnachtstagen zeige ich euch zwei Bücher, die weniger bekannt sind als beispielsweise Eine Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens oder Der Grinch von Dr. Seuss.

Keine Sorge, es geht nicht ums Plätzchenbacken oder die ultimative Anleitung zum Baumschmücken. Diese Weihnachtsbücher entsprechen nicht dem Klischee von klingelnden Glöckchen oder jubilierenden Schalmeien. Kurz: Es wird ein bisschen schräg. Ein kleines bisschen.

2016 hat Daniel Glattauer die Welt mit der Gebrauchsanleitung für Weihnachten beglückt. Ist es nicht das, wonach wir ein Leben lang gesucht haben: Orientierung in der Welt der Nordmanntannen und Christbaumkugeln? Glattauer hat sich gewissermaßen den Kernthemen des Weihnachtsfestes gewidmet und sie humorvoll analysiert. Er schreibt über die Typologie der Christbaumkäufer (immerhin neun "Unterarten") ebenso fachkundig wie über die der Vanillekipferl-Esser. Fazit: Weder das eine noch das andere ist so einfach oder eindeutig, wie man das vor dem Lesen dieses Buches möglicherweise geglaubt haben mag. 

Enorm hilfreich ist die 'Gebrauchsanleitung für das familienfreundliche Absingen der wichtigsten Weihnachtslieder'. Hat uns das nicht seit jeher gefehlt, wenn wir im Lichterglanz vor dem Tannenbaum saßen und die erste Strophe von 'O du fröhliche' anstimmten? Glattauer erläutert mit ganz offensichtlichem Expertenwissen immerhin neun der bekanntesten deutschen Weihnachtslieder - von 'Es ist ein Ros' entsprungen' bis 'Stille Nacht, heilige Nacht'. Er erklärt kurz den Inhalt eines Liedes, gibt wertvolle Hinweise auf besonders knifflige Textzeilen, weist auf die in der Melodie lauernden Hürden hin und vermittelt dem Laien-Weihnachtschor die Schlüsselpassagen. Besser als nach dieser Lektüre hat man sicher nie ein Weihnachtslied intoniert.

Bei aller Harmonie soll nicht verschwiegen werden, was die ersehnten Weihnachtstage leider oft mit dem nicht weniger ersehnten Sommerurlaub gemeinsam haben: Man sitzt sich im Familienkreis ziemlich dicht auf der Pelle, verschiedene Vorstellungen und Meinungen prallen alkoholgeschwängert aufeinander und - voilà! - fertig ist der erste Streit. Glattauer widmet den 'beliebtesten Weihnachtskrisen und besten Anlässen für Streit' ein eigenes Kapitel. Das unterstreicht, wie wichtig es ist, so viel wie möglich über dieses heikle Thema zu wissen. Da gibt es nicht nur die Vorweihnachts-, Weihnachts- und Nachweihnachtskrise, sondern sage und schreibe weitere sieben Krisenvarianten, die in irgendeiner Beziehung zu Weihnachten stehen und die es zu umschiffen gilt. Selbstverständlich ist das mit diesem Buch kein Problem.

Gebrauchsanleitung für Weihnachten ist ein kleines Buch, das beim Lesen ein Lächeln aufs Gesicht zaubert und typische Weihnachtsszenen, die die meisten von uns kennen, ein bisschen auf die Schippe nimmt. Es ist im Deuticke Verlag erschienen und nur als E-Book zum Preis von 3,99 erhältlich.


Joachim Ringelnatz geht eigentlich fast immer. 2015 wurde das kleine Buch Weihnachten mit Joachim Ringelnatz herausgegeben und vereint mehr als vierzig der für ihn typischen Gedichte. Und weil der nächste Anlass zum Feiern quasi gleich um die Ecke liegt, hat sich Ringelnatz auch reimend um Silvester und Neujahr gekümmert. Die Verse sind mal heiter, mal ironisch, mal besinnlich oder auch kritisch. Ringelnatz schreibt über die besondere Weihnachtsstimmung, die durch die menschliche Nähe, alte Weihnachtslieder und den Kerzenschein entsteht ('Weihnachten'). Er erinnert seine Leserinnen und Leser in seinem Gedicht 'Schenken' aber auch daran, was ein Geschenk ausmacht: 

"Schenke mit Geist ohne List,  
Sei eingedenk,
Daß dein Geschenk
Du selber bist."

Weihnachten mit Joachim Ringelnatz macht fröhlich, nachdenklich oder melancholisch. Das kann sich von einer Seite auf die andere ändern. Wer sich an Ringelnatz' Sprache stört, der sollte wissen, dass der Schriftsteller bereits 1934 verstorben ist.
Das Buch ist im Insel Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 7,-- Euro.

Die Bücherkiste macht nun Weihnachtsferien. Die, die hier immer schreibt, schlägt sich in ein paar Tagen gemeinsam mit lieben Menschen den Bauch voll und schaut verzückt in wechselnde Tannenbäume. Danach rutscht die Bücherkiste gemütlich ins Jahr 2022 und ist am 7. Januar wieder mit einem neuen Buch zur Stelle. Es wird ein gutes sein, soviel kann ich hier schon mal verraten. 😉

Euch allen wünsche ich frohe Weihnachtstage und einen guten Start ins neue Jahr.

Samstag, 11. Dezember 2021

# 319 - Über Sprachen aus der ganzen Welt

Die Literaturwissenschaftlerin Rita Mielke hat in ihrem
neuen Buch Als Humboldt lernte, Hawaiianisch zu sprechen 42 Geschichten gesammelt, in denen es um die Verständigung in fremden Sprachen geht.

Mielke nimmt ihre Leserinnen und Leser nicht nur auf eine Sprachreise mit, die rund um den Globus führt; sie macht deutlich, dass die Geschichte der Menschheit nicht zuletzt auch eine der Sprachbegegnungen ist - beeinflusst von den Menschen, die mit unterschiedlichen Sprachkenntnissen aufeinander getroffen sind. Da geht es zum Beispiel um baskische Walfänger, die es nach Island verschlägt, oder einen Deutschen, der auf mongolische Nomaden trifft. Diese Art, auf die Entwicklung der menschlichen Sprache zu schauen, ist bislang einzigartig.

Die am längsten zurückliegende Geschichte stammt aus der Zeit Karls des Großen (768 bis 814), die aktuellste von Autoren wie zum Beispiel Galsan Tschinag (geb. 1944). Jede ist für sich sehr besonders und zeigt, wie sich der Umgang mit Sprache verändert hat. Mielke schildert die Ignoranz, die insbesondere europäische Kolonialmächte den Sprachen der Bewohnerinnen und Bewohnern der von ihnen okkupierten Länder entgegenbrachten: Die europäischen Sprachen wurden zwar von den Besetzern als die höherwertigeren angesehen, dennoch war es für sie ärgerlich, sich damit nicht vor Ort verständigen zu können. So kam es zur Bildung von zahlreichen Mischsprachen, die Elemente aus beiden Ursprungssprachen übernahmen. 

Diese sprachliche "Einwanderung" kennen wir aus unserem eigenem Alltag, die Herkunft vieler Begriffe ist uns allerdings oft nicht bewusst. So stammt beispielsweise das arabische Wort biira vom deutschen Bier und das deutsche Wort Beduine vom arabischen badawī. Mielke macht deutlich, dass in der Vielzahl der gesprochenen Sprachen ebenso viele unterschiedliche Weltsichten verborgen sind. Sehr treffend zitiert sie den österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt."

Jedes Kapitel  schließt mit einer kurzen Übersicht über die dort beschriebene Sprache. Hier erfährt man u. a., welche Sprachen sich um ihr Aussterben keine Sorgen machen müssen (z. B. Arabisch, Chinesisch, Mongolisch)  und welche nicht mehr oder kaum noch gesprochen werden (z. B. Arabana, Yámana, Navajo).

Rita Mielke schreibt auch über Themen, die das Buch weiter inhaltlich aufwerten. Was als das älteste Gewerbe der  Welt gilt, dürfte jeder wissen. Aber welches ist das zweitälteste? Auskunft gibt ein Relief, das im Grab des Pharaos Haremhab gefunden wurde, das aus dem Jahr 1330 v. Chr. stammt und einen Dolmetscher zeigt. Mielke beschreibt die Aufgaben und Anforderungen der Dragoman, die sich deutlich von denen der heutigen Dolmetscher unterschieden.

Lesen?

Als Humboldt lernte, Hawaiianisch zu sprechen ist ein Buch, in dem Rita Mielke Sprach-Geschichte(n) sehr spannend erzählt. Wer sich für Sprachen interessiert, dem wird dieses Buch sicher gefallen. Die sehr schönen Illustrationen von Hanna Zeckau runden den Titel ab.

Als Humboldt lernte, Hawaiianisch zu sprechen ist 2021 im Duden Verlag erschienen und kostet 28 Euro.

Freitag, 3. Dezember 2021

# 318 - Ein Buch für diesen einen Tag

Wusstet ihr, dass heute der Internationale Tag der Menschen mit Behinderung ist? Seitdem die Vereinten Nationen diesen Tag 1992 ausgerufen haben, findet er jedes Jahr am 3. Dezember statt. Damit soll auf der ganzen Welt das Bewusstsein für die Belange von behinderten Menschen gebildet und gefördert werden.

Ursprünglich hatte ich vor, darüber etwas auf meinem anderen Blog zu schreiben. Es gäbe eine Menge zu diesem Thema zu sagen. Aber dann stieß ich zufällig auf dieses Buch: Im Dunkeln sehen - Erfahrungen eines Blinden von John M. Hull. Hull war Professor für Religionspädagogik an der University of Birmingham und ist Anfang der 1980-er Jahre vollständig erblindet. Damals war er Mitte 40, zum zweiten Mal verheiratet und seine Frau mit dem ersten gemeinsamen Kind schwanger.

Durch Hulls Buch ist sehr deutlich nachvollziehbar, wie er an seine neue Lebenssituation heranging. Zweieinhalb Jahre nach seiner Erblindung begann er, das, was er täglich erlebte, auf Kassetten aufzuzeichnen. Er sprach zunächst täglich, später nur noch in mehrwöchigen Abständen über das, was ihn bewegte. Seine Aufzeichnungen erstrecken sich über einen Zeitraum von drei Jahren und sind die Grundlage für dieses Buch. 

Sehr sachlich schildert Hull, wie sich seine Wahrnehmung auf die Ebene des Hörens verschob. Die Erinnerungen an die Gesichter seiner Frau und seiner Kinder verblassten nach und nach und ließen sich am besten hervorholen, indem sich Hull diese so ins Gedächtnis rief, wie er sie auf Fotos gesehen hatte. Ihm wurde bewusst, dass er nicht sehend erleben würde, wie die Menschen um ihn herum alterten. Seine später geborenen Kinder würde er nur an deren Stimmen erkennen.

Der starke Fokus auf Geräusche ließ Hull die Welt in dieser Hinsicht viel differenzierter wahrnehmen, als er das vor seiner Erblindung für möglich gehalten hätte. Er hörte nicht nur die verschiedenen Arten des Regens, sondern auch, worauf die Tropfen aufschlugen und welches Bild das vor seinem geistigen Auge auslöste: "Regen hat die Eigenart, die Umrisse aller Dinge hervorzuheben; er wirft eine farbige Decke über Dinge, die vorher unsichtbar waren; wo vorher eine unterbrochene und damit zersplitterte Welt war, schafft der gleichmäßig fallende Regen eine Kontinuität akustischer Wahrnehmung."
Seine Erkenntnis: Wer die Augen schließt weiß, dass die Dinge um ihn herum noch da sind. Wer als blinder Mensch keine Geräusche hört, muss schlussfolgern, dass da auch nichts Hörbares ist.

Hull entwickelte nach einigen Jahren eine weitere Fähigkeit: Er war in der Lage, sich auch von größeren Gebäuden eine mentale Karte zu erstellen, sofern er die Gelegenheit hatte, sie in Ruhe und allein zu erkunden.

John Hull berichtet auch von seinen buchstäblich schwärzesten Stunden. Er schreibt von seiner Verzweiflung und dem Gefühl, in einer Art Kohlebergwerk zu versinken. Man erfährt, was ihm half, aus diesem seelischen Tief herauszukommen und nicht zu verzweifeln.

Lesen?

Ja! Im Dunkeln sehen - Erfahrungen eines Blinden bietet einen sehr differenzierten Einblick in das (Seelen-)Leben eines Menschen, der einen großen Teil seines Lebens sehen konnte und für den sich die Welt erst spät in Dunkelheit hüllte. Hull erhebt nicht den Anspruch, für alle blinden Menschen zu sprechen, sondern beschränkt sich auf seine eigene Sichtweise. Gerade sein unprätentiöser und schnörkelloser Schreibstil machen dieses Buch zu etwas Besonderem.

Der bekannte britische Neurologe Oliver Sacks hat das Vorwort für diesen ungewöhnlichen Titel geschrieben und das Buch als Meisterwerk bezeichnet.
2016 wurde Im Dunkeln sehen - Erfahrungen eines Blinden verfilmt - ein Jahr nach John Hulls Tod. Notes on Blindness wurde mit Hulls mündlichen Aufzeichnungen unterlegt und erhielt zahlreiche Preise. 

Im Dunkeln sehen - Erfahrungen eines Blinden erschien erstmals 1992 als deutsche Ausgabe beim Verlag C. H. Beck. Das Buch wurde mehrfach neu aufgelegt und ist im selben Verlag zuletzt 2018 als Taschenbuch für 16,95 Euro sowie als E-Book für 12,99 Euro herausgegeben worden.