Dienstag, 27. Februar 2024

# 427 - Der Schiffskoch und der Ziegenbock

Ich wollte eigentlich nur in unseren örtlichen Buchladen, um ein Geschenk zu kaufen. Als ich hatte, was ich gesucht habe, fiel mein Blick auf dieses schmale Buch: Der Schiffskoch von Mathijs Deen. Der Roman hat nur rd. 100 Seiten, aber die haben es in sich.

Bis auf wenige Szenen spielt sich die Handlung auf dem Feuerschiff "Texel" ab, das vor Den Helder in Nordholland liegt. Die Mannschaft bleibt vier Wochen ununterbrochen an Bord, bevor sie von der nächsten Crew abgelöst wird. Das Leben auf der "Texel", die keinen Meter zurücklegt, ist öde. Auf solch einem Schiff, das weder eine Schraube noch ein Ruder hat, geht es darum, die Funktionen eines Leuchtturms zu übernehmen, wo es nicht möglich ist, einen aufzustellen. Die Mahlzeiten des Schiffskochs Lammert sind der einzige Lichtblick und retten die Männer vor der Verzweiflung.

Eines Tages beschließt Lammert, etwas ganz Besonderes zu kochen: Gulai kambing, einen indonesischen Schmortopf mit dem Fleisch eines jungen Ziegenbocks. Lammert schmuggelt das Tier verbotenerweise in seinem Rucksack an Bord und plant, es demnächst zu schlachten. Aber wie das so ist mit Plänen: Trotz Lammerts Hinweis, dem Böckchen auf keinen Fall einen Namen zu geben, wird es zu einem unterhaltsamen Teil der Besatzung. Es gewöhnt sich schnell an das schwankende Schiff und entwischt dem Koch, wenn der es fangen will. Und die Crew gewöhnt sich an das Böckchen.

Doch Lammerts Plan, ein leckeres Gulai kambing zu kochen, wird durch ein weiteres Problem verhindert: Der Koch hatte sich als Kind mit Malaria infiziert. Seitdem kehren immer wieder heftige Fieberschübe zurück. Als es Lammert besonders schlecht geht und er in seiner Koje intensive Fieberträume hat, zieht dichter Nebel auf, der die "Texel" und alle anderen Schiffe in der Umgebung praktisch unsichtbar macht. Das Feuerschiff muss ununterbrochen mit Leuchtfeuer und Nebelhorn auf sich aufmerksam machen, um nicht selbst von vorbeifahrenden Frachtschiffen, die deutlich größer sind, gerammt zu werden. 

Lammert nimmt das Dröhnen der Nebelhörner ebenso wahr wie das Rennen und Rufen der Mannschaft an Deck. Doch alles vermischt sich mit seinen traumatischen Erinnerungen an das Leben im Lager auf Java, als er noch ein kleiner Junge war. Was damals in seiner Kindheit passierte, ist tief in seiner Seele vergraben und bricht während seiner Krankentage in der Kajüte hervor. Eines Tages wurde dem kleinen Lammert gesagt, dass sein Vater nicht mehr wiederkommen würde. Wo er war, das wurde ihm nicht erklärt. Und dann ist da noch eine andere Erinnerung: 
"[...] und sie haben Mutter eingesperrt, und jeden Tag gehen sie dort hinein, und dann hört er sie schreien, und dann schreit er selbst auch, aber seine Tante, wo ist sein Vater, seine Tante, die keine richtige Tante ist, nimmt ihn fest in den Arm und streicht ihm über den Kopf, [...]."


Lesen?

Der Schiffskoch hat mich überrascht, weil in diesem kurzen Roman mehr steckt, als ich erwartet hatte.
Mathijs Deen schildert plastisch, wie es ist, auf engem Raum zusammenleben zu müssen und von anderen nicht ernst genommen zu werden, weil man auf einem Schiff arbeitet, das nie vom Fleck kommt.

Als es zu einem Todesfall kommt, der möglicherweise hätte verhindert werden können, zeigt sich, wie wenig die Männer trotz der räumlichen Nähe voneinander wissen. Als er von Kriminalbeamten befragt wird, antwortet der Maschinist zutreffend: 
"Was weiß man denn wirklich von jemand anderem?"

Mathijs Deen spielt in seinem Roman auf historische Ereignisse an, die der Schiffskoch in seinen Fieberträumen immer wieder durchlebt: Die Insel Java war Teil der niederländischen Kolonie Niederländisch-Indien und wurde im März 1942 im Rahmen des Pazifikkrieges in Südostasien von japanischen Truppen überfallen und eingenommen. Die dort lebenden Niederländer wurden in Lager gesperrt oder getötet, viele Frauen vergewaltigt - eine Parallele, die praktisch alle Kriege gemeinsam haben.

Das Feuerschiff "Texel" war tatsächlich im Einsatz. Wer sich für seine Geschichte interessiert, kann sie hier nachlesen. Es kann heute im Museumhaven Willemsoord besichtigt werden.

Der Schiffskoch ist 2021 als gebundene Ausgabe im mareverlag Hamburg zum Preis von 18 Euro erschienen. Ein Jahr später erschien das Buch in  einer Broschurausgabe für 11 Euro im Insel Verlag.

Freitag, 9. Februar 2024

# 426 - Hass und Liebe während der "Troubles" in Nordirland

Louise Kennedy hat mit Übertretung ihren ersten
Roman veröffentlicht - im dafür ungewöhnlichen Alter von 56 Jahren. Sie wuchs in der Nähe von Belfast auf und hat die auch als "Troubles" bezeichneten bürgerkriegsähnlichen Zustände während des Nordirlandkonflikts, um die es in ihrem Buch geht, aus erster Hand erlebt.

Belfast, 1975: Die 24-jährige Grundschullehrerin Cushla Lavery lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter Gina zusammen und hilft häufig im Pub ihres Bruders Eamonn aus. Der Pub befindet sich in einem Stadtteil, der überwiegend von Protestanten bewohnt wird, die Laverys sind allerdings Katholiken. Das ist mitten im Nordirland-Konflikt, in dem trotz der vereinbarten Waffenruhe täglich Attentate von beiden Seiten verübt werden, nicht einfach. Katholisch zu sein ist dort eine Sache, es zu zeigen eine andere und in dieser Gegend keine gute Idee. Niemand ist davor geschützt, nicht Opfer eines Anschlags zu werden. Wer nicht hinterrücks in seinem Haus erschossen werden will, zieht mit Einbruch der Dunkelheit die Vorhänge vor die Fenster. Schon ein geringes Fehlverhalten von pro-britischen Protestanten oder pro-irischen Katholiken kann zu einer Eskalation führen.

Cushla ist mit ganzem Herzen Lehrerin und nimmt wahr, wie belastend die ständige Gewalt um sie herum für ihre Schülerinnen und Schüler ist. Am meisten haben Kinder aus sogenannten Mischehen zu leiden, bei denen ein Elternteil katholisch und das andere protestantisch ist. Das erfährt auch der kleine Davey McGeown, dessen Klassenlehrerin Cushla ist. Sein Vater wird eines Tages derart zusammengeschlagen, dass ihn die massiven Verletzungen zu einem lebenslang behinderten Mann machen, der seine Familie nicht mehr ernähren kann. Um Davey kümmert sich Cushla besonders.

Cushla lernt während ihrer Arbeit im Pub den Prozessanwalt Michael Agnew kennen. Der Jurist ist Protestant, verheiratet, Vater eines Sohnes und etwa doppelt so alt wie die junge Frau. Er ist in Nordirland sehr bekannt, weil er vor allem Menschen verteidigt, die wegen politischer Delikte angeklagt sind. Ihre Konfession ist Michael egal. Es gibt somit genügend Gründe, zu ihm Abstand zu halten. Eigentlich. Doch zwischen Cushla und Michael beginnt eine leidenschaftliche Beziehung, die strikt geheim gehalten werden muss. Sie ahnen nicht, dass sie schon bald ins Visier genommen werden. Über ihnen braut sich ein Unheil zusammen, das sich in einem dramatischen Ereignis entlädt.

Lesen?

Mit Übertretung ist Louise Kennedy ein Roman gelungen, der seine Leserinnen und Leser in den Nordirland-Konflikt, der seit dem Brexit auf kleiner Flamme wieder aufgelebt ist, eintauchen lässt. Mit der verbotenen Liebe zwischen Cushla und Michael transportiert sie die damalige brisante Stimmung in Nordirland und zeigt, wie sehr der Hass das Leben der Menschen bestimmte und Menschlichkeit und Mitgefühl abschaffte.

Kennedy beleuchtet auch, inwieweit die Kirche durch ihren Einfluss auf die Bevölkerung den Konflikt befeuerte und hier in Gestalt des widerwärtigen Paters Flatterly Öl ins Feuer goss. Der Roman ist spannend geschrieben, sodass man ihn kaum aus der Hand legen mag.

Leider sind in der von mir gelesenen E-Book-Erstausgabe etliche Fehler beim Korrekturlesen übersehen worden. Das ist sehr schade, ändert aber nichts am guten Eindruck des Werks.

Übertretung ist 2023 im Steidl Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 25 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.

Freitag, 2. Februar 2024

# 425 - Ein Familiengeheimnis wird entschlüsselt

Matilda war zum letzten Mal vor zwanzig Jahren im Haus ihrer Großmutter Enni am Bodensee. Doch Enni ist vor Kurzem gestorben, und Matilda hat gemeinsam mit ihrer Schwester deren Haus geerbt. Matildas Mutter, Ennis Tochter, hat das Erbe ausgeschlagen. Sie wollte nichts mehr von ihrer Mutter, mit der sie seit Jahrzehnten kein Wort mehr gewechselt hatte, haben. Der Graben zwischen ihnen war offenbar zu tief.

Rike Richstein schickt ihre Protagonistin in ihrem Roman Die Farben des Sees für eine Auszeit an den Bodensee, die Matilda helfen soll, die Trennung von ihrem Freund zu überwinden. Als sie sich in Ruhe im Haus umsieht, stellt sie fest, wie wenig sie über ihre Großmutter wusste. Die Besuche bei ihr fanden damals, als sie noch ein Kind war, ein abruptes Ende. Warum, das hat ihr nie jemand erklärt.

Und dann stößt Matilda im Nachttisch ihrer Großmutter auf das Foto eines jungen Mannes, der nicht ihr verstorbener Großvater ist. Um wen handelt es sich und warum ist dieser Mann für Enni offenbar so wichtig gewesen, dass sie dieses Bild aufbewahrt hat?

Mit einer Mischung aus Neugier und dem Versuch, sich vom eigenen Kummer abzulenken, macht sich Matilda auf die Suche nach einer Antwort. Doch sie hätte nicht gedacht, dass sie am Ende ihrer Nachforschungen ein Familiengeheimnis aufdecken würde, das eine Erklärung für einige Ungereimtheiten, die Matilda im Laufe der Jahre aufgefallen sind, ist.

Lesen?

Die Farben des Sees verknüpft eine besondere Familiengeschichte mit der Atmosphäre des Bodensees, dessen Farben immer wieder anders sind und von einer Person beschrieben werden, die sich erst nach und nach als diejenige herausstellt, die ohne es zu wollen außerhalb der Familie steht.

Mir hätte das Buch noch besser gefallen, wenn die einzelnen Figuren etwas genauer herausgearbeitet geworden wären. So weiß man zum Beispiel von Matilda kaum mehr, als dass sie um das Zerbrechen ihrer Beziehung trauert und ein enges Verhältnis zu ihrer Schwester hat.

Etwas kurios ist, dass ich im Buchtext auch bei einer zweiten Durchsicht keinen Hinweis darauf gefunden habe, dass es sich bei dem beschriebenen Gewässer um den Bodensee handelt. Es ist die Rede von einem See, über den eine Fähre fährt und in dessen Nähe Berge sind. Das trifft jedoch nicht nur auf den Bodensee zu. Die einzige konkrete Benennung findet sich im Klappentext. Immerhin.

Die Farben des Sees ist 2024 im Verlag Friedr. Stadtler Konstanz erschienen und kostet als gebundene Ausgabe mit Lesebändchen 22 Euro.