Manche Entscheidungen wollen wohlüberlegt sein. Auch die, in
ein kleines, entlegenes Dorf zu ziehen. Alle, die von einem idyllischen
Landleben, hilfsbereiten Nachbarn, einer Dorfkneipe und ganz viel Ruhe träumen,
empfehle ich Unterleuten. Der große Gesellschaftsroman von Juli Zeh räumt
nachhaltig auf mit der Dorfromantik, wie sie sich Stadtmenschen gerne erträumen.
Das Dorf Unterleuten mit seinen 250 Einwohnern mitten in
Brandenburg gibt es zwar nicht, aber bei näherem Hinsehen stellt man fest, dass es
stellvertretend für zahlreiche andere Dörfer steht. So oder so ähnlich.
Unterleuten wirkt wie aus der Zeit gefallen: Es gibt weder eine Arztpraxis noch
eine Schule, kein Internet, und die Renten der alten Bewohner sind so klein,
dass der Tauschhandel blüht. Doch da geht es nicht um Geld gegen Naturalien,
sondern um „Eine Hand wäscht die andere“. Probleme werden innerhalb der
Dorfgemeinschaft gelöst, die Polizei wird nicht gebraucht. Alles, was außerhalb
des Dorfes passiert, ist für die Bewohner uninteressant.
Aber auch ein auf den ersten Blick so rückständiges Dorf
verändert sich. Es kommen neue Menschen hinzu, die sich hier ein „neues Leben“
aufbauen wollen. Da ist zum Beispiel der frühere Soziologieprofessor Gerhard
Fließ, der als neuer Mitarbeiter des Vogelschutzbunds Unterleuten Gefallen
daran findet, bei jedem Bauantrag beinahe zwanghaft Einspruch einzulegen, weil er die Existenz
des seltenen Kampfläufers bedroht sieht. Man muss kein Hellseher sein, um zu
ahnen, dass er sich damit keine Freunde und das Leben zur Hölle macht. In
seinem Schlepptau sind seine 22 Jahre jüngere Ehefrau Jule und ihre gemeinsame
sechs Monate alte Tochter Sophie. Jule war bei Gerhard Studentin und muss im
Verlauf der Handlung erkennen, dass ihr Mann ein anderer Mensch ist, als sie
geglaubt hat.
Doch auch Linda Franzen, die mit ihrem Freund Frederik Wachs
ein heruntergekommenes Gutshaus gekauft hat, das sie jetzt renovieren will, ist
mit ihrem ausgeprägten Ehrgeiz ein Fremdkörper in der Dorfgemeinschaft. Ihr ist
fast jedes Mittel recht, um an eine Baugenehmigung zu kommen, die es ihr möglich
macht, einen Stall für ihr Pferd Bergamotte zu bauen. Hat es etwas zu bedeuten,
dass alle vorherigen Bewohner des Gutshofs nur kurz dort gelebt haben, weil es sie
frühzeitig dahingerafft hat?
Konrad Meiler ist der große Unbekannte des Dorfes. Er hat
bei einer Versteigerung riesige Flächen rund um Unterleuten gekauft, ohne zu
wissen, was er damit tun soll. Doch seine Ratlosigkeit dauert nur kurze Zeit.
Wohnen wird er dort nicht.
Die Zugezogenen sehen sich den Alteingesessenen gegenüber,
die teilweise seit Jahrzehnten ihre Konflikte so ausdauernd pflegen wie andere
Leute einen seltenen Bonsai. Die Unterleutener, die schon zu Zeiten der DDR
dort gewohnt haben, sind in einem von außen nur mühsam zu durchschauenden
Beziehungs- und Abhängigkeitsgeflecht miteinander verbunden, in dem Alte gegen
Junge, Frauen gegen Männer, Betriebsleiter gegen LPG-Veteranen und alle
zusammen gegen ihr Leben arbeiten.
Erneuerbare Energien? Wer will das schon!
2010 wird für das fast 700 Jahre alte Unterleuten ein
Schicksalsjahr. Das Flurstück „Schiefe Kappe“, eine bislang karge und
uninteressante Anhöhe, rückt in den Mittelpunkt des Dorfinteresses, als es zum
Eignungsgebiet für einen neuen Windpark erklärt wird. Die Aufregung ist groß,
viele Einwohner befürchten eine Verschandelung der Landschaft. Doch es gibt
auch Nachbarn, die sich davon ein einträgliches Geschäft versprechen, dessen
Ertrag sie für den Rest ihres Lebens unabhängig machen würde. Es beginnt ein
Krieg, in dessen Verlauf Konflikte, die bisher dicht unter der Oberfläche
schwelten, aufbrechen. Die Situation eskaliert, es wird intrigiert und gelogen, aber nicht wirklich
kommuniziert. Der Dorffunk behält dabei immer die Oberhand; den Gerüchten, die er
transportiert, wird vorbehaltlos geglaubt. Kein Wunder, dass Unterleuten sich
mit jedem neuen Gerücht vom Frieden immer weiter entfernt. Da ist es fast schon
zwangsläufig, dass auch gestorben wird. Schließlich kommt kein Krieg ohne Tote
aus.
Lesen?
Unterleuten nimmt seine Leser mit in die Unterleutener Heide
mitsamt aller zwischenmenschlichen Verwerfungen. Es ist egal, wo man das Dorf
ansiedelt: Zerwürfnisse, wie sie in diesem Roman geschildert werden, gibt es
zuhauf auch woanders. Auch das Thema, das hier wie der Funke an der Lunte
wirkt, ist austauschbar: In Unterleuten ist es ein Windpark, in anderen Orten
sorgen Neubaugebiete oder neue Straßen dafür, dass Nachbarn aufeinander
losgehen. Juli Zeh hat ihren Roman spannend auf mehr als 630 Seiten inszeniert
und durch überraschende Wendungen, von denen oft nur der Leser erfährt, dafür
gesorgt, dass es nie langweilig wird.
Unterleuten wurde mir vom Bloggerportal zur Verfügung
gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke. Das Buch ist im Luchterhand Verlag erschienen und kostet als gebundene
Ausgabe 24,99 €, als Kindle- oder epub-Edition 19,99 €, als gekürztes Hörbuch
(Download) 30,49 € sowie als MP3-Version 19,99 €.
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