Freitag, 27. März 2020

# 233 - Unsichtbare Frauen

Über dieses Buch habe ich irgendwo gelesen, dass es nur von Frauen rezensiert wird. Ich konnte es kaum glauben und habe versucht, die Rezension eines Mannes zu finden. Fehlanzeige. Diejenigen Männer, die gelesen oder gehört werden, scheinen sich für die andere Hälfte der Menschheit nicht zu interessieren. 

Die britische Journalistin Caroline Criado-Perez beschreibt in Unsichtbare Frauen, wie es kommt, dass unsere Welt an den Frauen vorbei kreiert wird. Und merkt an, dass uns Frauen das selbst oft gar nicht (mehr) auffällt, weil wir es nicht anders kennen. Wenn man die Beispiele liest, anhand derer sie diese Situation erläutert, kann einem als Frau durchaus der Hals anschwellen.

Da sind die Dinge, die lediglich unbequem sind wie zum Beispiel Smartphones, die für eine durchschnittliche Frauenhand zu groß sind. Da hört es - man ahnt es bereits - aber noch lange nicht auf. Die übliche Bürotemperatur ist für Frauen zu kalt, Sicherheitstest für Autos werden fast ausschließlich mit männlich konstruierten Dummys durchgeführt, medizinische Forschungen ignorieren spezifische weibliche Besonderheiten wie z. B. die Menstruation, die Menge an Muskel- und Fettgewebe oder das Schmerzempfinden. Die Folge ist, dass Frauen ständig größeren Lebensrisiken ausgesetzt sind. Ein Beispiel: Sie erleiden als Fahrerinnen bei einem Verkehrsunfall eher schwere Verletzungen oder werden getötet als Männer. Die Ingenieure, die mit der Konzeptionierung der Fahrgastzelle beschäftigt sind, gehen in aller Regel davon aus, dass Frauen in der überwiegenden Zeit, die sie in einem Auto sitzen, dies als Beifahrerinnen tun. Daher ist der Platz für den Fahrer für männliche Bedürfnisse optimiert: Die Position der Sicherheitsgurte ist nicht an die weiblichen Brüste angepasst, der Abstand zwischen Sitz und Pedalen für Frauen nicht optimal - woran auch ein Vorschieben des Sitzes nichts ändert, weil dann die Sitzhaltung ungünstig ist.

Richtig irritierend wird es, wenn es um die Erforschung von Erkrankungen geht, unter denen nur Frauen leiden. Das prämenstruelle Syndrom (PMS) beispielsweise, das den meisten Frauen in schöner Regelmäßigkeit eine breite Palette verschiedener Schmerzen beschert, ist in der Welt der Wissenschaft etwa so von Interesse wie ein mit den Ohren wackelndes Pferd. Die allgemeinen Ratschläge sind banal und helfen vielen Frauen nicht weiter.

Frauen sind stärker durch Epidemien beeinträchtigt, tragen - wie schon vor Jahrzehnten - die Hauptlast bei der unbezahlten Familien- und Krankenpflege und sind stärker Gewalt ausgesetzt als Männer.
Caroline Criado-Perez hat ihr Buch in Kapitel wie z. B. 'Am Arbeitsplatz' oder 'Öffentliches Leben' eingeteilt und bildet so das ganze Spektrum von Frauenleben ab. Sie hat sich durch so viele Studien und wissenschaftliche Aufsätze gelesen, dass ihr Quellenverzeichnis 70 Buchseiten umfasst.

Immer wieder räumt sie ein, bei manchen Fragestellungen auf Material zurückgreifen zu müssen, das bereits einige Jahre alt ist. Zu einigen Themen wurden Forschungsreihen angekündigt, die aber nicht durchgeführt oder schnell wieder eingestellt wurden.

Die Autorin stellt allerdings klar, dass sie nicht davon ausgeht, dass diese zulasten der Frauen gehende massive Datenlücke mit Absicht existiert. Sie blickt zurück und stellt fest, dass diese Gender Data Gap praktisch schon immer existiert hat. Lebensläufe von Männern gelten im Allgemeinen als repräsentativ für ihre Zeit. Dieses Bewusstsein ist so fest verankert, dass Männer unausgesprochen die Selbstverständlichkeit und Frauen so etwas wie eine Abweichung davon sind.

Criado-Perez zitiert Simone de Beauvoir mit einer Äußerung aus dem Jahr 1949: "Die Menschheit ist männlich, und der Mann definiert die Frau nicht als solche, sondern im Vergleich zu sich selbst: Sie wird nicht als autonomes Wesen angesehen. [...] Er ist das Subjekt, er ist das Absolute: Sie ist das Andere."

Wer sich jetzt noch fragt, ob man den Feminismus 2020 tatsächlich noch braucht, sollte dieses Buch lesen. Und die Männer, die glauben, dass die Wahrnehmung und Berücksichtigung von Frauen Frauensache sei, sollten darüber nachdenken, wie es ihnen gefällt, ihre Partnerinnen, Mütter, Schwestern und andere Frauen, die ihnen wichtig sind, in einem Umfeld zu sehen, das deren Interessen und Bedürfnisse hintanstellt und sie gefährdet.

Ich habe in einem sozialen Netzwerk die Reaktion eines Mannes auf dieses Buch gelesen. Er schrieb ironisch, dass es unter diesen Umständen ja ein Wunder sei, dass Frauen im Durchschnitt länger lebten als Männer. Ja, das tun sie. Aber weil die Medizin sie als Frauen im Stich lässt, verbringen sie die letzten zwölf Jahre ihres Lebens bei schlechter Gesundheit.

Unsichtbare Frauen ist bei btb erschienen und kostet in der broschierten Ausgabe 15 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.

Caroline Criado-Perez wurde 2013 zum Human Rights Campaigner of the Year und 2015 zum Officer of the Order of the British Empire (OBE) ernannt.

2 Kommentare:

  1. Dieses Buch steht ganz weit oben auf meiner Leseliste. Ich habe die Diskussion darum damals nur am Rande mitbekommen, aber es scheint ja überhaupt nichts von seiner Aktualität und Anziehungskraft eingebüßt zu haben. Im Gegenteil, ich bin sehr gespannt darauf, es auch bald zu lesen. Danke für die aufschlussreiche Besprechung!

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  2. Ich kann das Buch wirklich wärmstens empfehlen. Viele Dinge, die Criado-Perez aufführt, erleben wir in unserem Alltag, aber nehmen sie gar nicht mehr wahr, weil sie schon immer so waren - was sie nicht besser macht. LG

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