Freitag, 23. Juli 2021

# 300 - Robert Koch - eine Spurensuche

Spätestens seit dem Beginn der Covid-19-Pandemie ist der Name Robert Koch in aller Munde: Das nach ihm benannte Robert Koch-Institut sammelt und veröffentlicht die zur Risikoeinschätzung nötigen Daten und gibt auch Informationen zu anderen Erkrankungen wie z. B. der Influenza heraus. 

Was bringt man mit diesem Namen noch in Verbindung? Der Mikrobiologe, Mediziner und Hygieniker Koch entdeckte das für die Infektionskrankheit verantwortliche Bakterium, gilt als einer der Begründer der modernen Bakteriologie und bekam 1905 in Anerkennung seiner Leistungen auf dem Gebiet der Tuberkuloseforschung den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin.

Doch was Robert Koch darüber hinaus ausgemacht hat, ist kaum bekannt. Was trieb ihn an? War er kritikfähig? Ein Altruist? Ein Menschenfreund? Ein guter Ehemann? Ein verlässlicher Freund? Michael Lichtwarck-Aschoff nähert sich Koch in seinem Buch Robert Kochs Affe - Der grandiose Irrtum des berühmten Seuchenarztes an. Mithilfe von Originaldokumenten wie beispielsweise von Koch verfassten wissenschaftlichen Arbeiten und Aufsätzen zeichnet er in Romanform ein Bild des vielfach bewunderten Wissenschaftlers, das hier allerdings einige Risse bekommt.

Der erste Teil des Buches beschreibt das Leben Kochs im Jahr 1903 in Berlin. Dort wohnte er mit seiner ersten Frau Fanny, dem Mediziner Walther Hesse und dessen Frau, einem etwas verschrobenen Gärtner (der viele von Kochs Ansichten nicht teilte) sowie einem Affen mit einem Faible für kunterbunte Militäruniformen zusammen. Koch unterhielt enge Beziehungen zum Kriegsministerium, namentlich zu Minister Karl von Einem, der im Ersten Weltkrieg Generaloberst wurde. Schon hier ahnt man, worum es bei der Typhusforschung im Kern ging: die deutschen Soldaten gesund und damit kriegsfähig zu erhalten. Dafür war das Kriegsministerium bereit, Kochs Forschungsarbeit mit viel Geld zu unterstützen. Für den Wissenschaftler Koch war diese Form der Vereinnahmung kein Problem; man hat ohnehin immer wieder den Eindruck, dass er die Erkrankten weniger als Menschen, sondern mehr als Forschungsobjekte betrachtete. Den Status ihrer körperlichen Verfassung beurteilte er anhand von entnommenen Blut-, Urin- und Stuhlproben, die Menschen sah er sich nicht näher an.

Im zweiten Teil des Romans kommt mit Johann Kindsmüller ein Soldat zu Wort, der 1906 an Robert Kochs Expedition nach Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Burundi und Ruanda) teilgenommen hatte. Er war 1925 Patient in einer Nervenklinik in Ingolstadt und wurde dort von einem Psychiater befragt. Robert Koch war von der preußischen Regierung damit beauftragt worden, die Ursachen für die Schlafkrankheit herauszufinden. Die oft tödliche Krankheit war in Afrika zu einer Epidemie geworden, und die Kolonialherren sorgten sich, dass durch sie die Zahl der zur Verfügung stehenden Arbeiter zu sehr dezimiert werden könnte. Die Menschen sollten nicht krank werden, sondern für den Aufbau der Infrastruktur sorgen. Die Gruppe, zu der Kindsmüller gehörte, war mit der ihnen anvertrauten Aufgabe, die erkrankten Einheimischen zu internieren, zu versorgen, ihnen Proben zu entnehmen und sie einem äußerst brutalen Experiment mit dem arsenhaltigen Präparat Atoxyl zu unterziehen, komplett überfordert. Atoxyl durfte in Deutschland wegen seiner Gefährlichkeit nicht mehr eingesetzt werden, im fernen Afrika interessierte das niemanden. 

Das Grauen, das der Soldat während dieser Zeit erlebt hat, ließ ihn sein Leben lang nicht mehr los: Im Lager waren katastrophale hygienische Bedingungen, die Atoxyl-Spritzen waren äußerst schmerzhaft und für tausende Menschen tödlich. Viele Menschen erblindeten durch diese "Behandlung" dauerhaft - was auch Koch bekannt sein musste, da diese Wirkung schon damals in der Fachliteratur beschrieben wurde. Kindsmüllers Seele war zerstört und damit auch seine Zukunft. Robert Koch hat sich um das Team nicht gekümmert, sondern ist in einem Camp direkt am Victoriasee geblieben. Ihm waren nur die regelmäßigen Berichte, die ihn aus dem Lager erreichten, wichtig.

Im letzten Abschnitt steht die amerikanische Ärztin Sara Josephine Baker im Mittelpunkt. Baker hatte sich dem Kampf gegen Erkrankungen verschrieben, die um das Jahr 1900 herum im New Yorker Slum "Hell's Kitchen" gehäuft auftraten. Auch Typhus gehörte dazu. Schon zu Beginn ihrer Berufstätigkeit war es ihr gelungen, die irische Einwanderin Mary Mallon in ihren Verstecken aufzuspüren. Mallon war der erste Mensch in den USA, bei dem Typhuserreger nachgewiesen worden waren, der aber nicht erkrankte. Als sog. Dauerausscheiderin steckte sie als Köchin, die in wohlhabenden Privathaushalten arbeitete, über 50 Menschen mit Typhus an, einige von ihnen starben. Die von der Presse als "Typhoid Mary" betitelte Frau war die Personifizierung von Robert Kochs großem Irrtum, von dem im Buchtitel die Rede ist. Um niemanden mehr anzustecken, verbrachte sie 26 ihrer 69 Lebensjahre in Quarantäne in einem New Yorker Krankenhaus.

Lesen?

Über viele berühmte Persönlichkeiten, die fachlich Großes geleistet haben weiß man, dass ihr Charakter ethisch und moralisch eine gähnende Leerstelle aufweist. Hier reiht sich auch Robert Koch ein: Ihm gingen die Wissenschaft und seine fachliche Reputation über alles, die Einheimischen in Deutsch-Ostafrika waren für ihn unrein und minderwertig. Er vertrat außerdem die Meinung, dass Infektionskrankheiten durch die Isolation der Erkrankten begegnet werden kann: Die an der Schlafkrankheit Erkrankten sollten in Internierungslager gebracht werden. Da die Menschen dort sowieso früher oder später stürben, würden seiner Meinung nach nur die Gesunden übrig bleiben.

Michael Lichtwarck-Aschoff hat sich an die historischen Fakten gehalten und war nur bei den korrekten Datierungen etwas kreativ: Er weist selbst darauf hin, dass Robert Koch der Nobelpreis vor der Expedition nach Deutsch-Ostafrika und nicht danach verliehen wurde.

Robert Kochs Affe - Der grandiose Irrtum des berühmten Seuchenarztes gibt einen interessanten Einblick in die deutsche Kolonialgeschichte und die Entwicklung der Bakteriologie. Leseempfehlung!

Das Buch ist 2021 im Hirzel Verlag erschienen und kostet in der gebundenen Ausgabe 24 Euro sowie als E-Book 21,90 Euro.


Freitag, 16. Juli 2021

# 299 - Wie Augsburg zu seiner Puppenkiste kam

Wer kennt sie nicht: Lukas, den Lokomotivführer, Urmel aus dem Eis, Kater Mikesch oder Frau Mahlzahn? Wer die Aufführungen der Augsburger Puppenkiste nicht live vor Ort verfolgen konnte, saß oft vor dem Fernseher, um die Abenteuer der Puppen zu sehen.

Vor 73 Jahren hat der Schauspieler Walter Oehmichen die heutige Augsburger Puppenkiste gegründet. Ihr Vorläufer war der sog. "Puppenschrein": Oehmichen war während des Zweiten Weltkriegs in Calais stationiert und hatte dort die deutschen Soldaten mit selbstgemachten Puppen unterhalten. Wieder zurück in Augsburg baute er ein mobiles Haustheater, das nur einen Türrahmen und einen Tisch benötigte. Damit gab er auch im Krankenhaus Vorstellungen.

Ein Bombentreffer zerstörte den Puppenschrein. Oehmichen musste erneut in den Kriegsdienst, wurde jedoch wegen einer Erkrankung in eine Darmstädter Klinik eingeliefert. Dort lernte er einen Holzbildhauer kennen, der ihm das Schnitzen beibrachte. Der Grundstein für die spätere Augsburger Puppenkiste wurde dort mit den ersten beiden Figuren gelegt.

Mit diesen Anfängen der Augsburger Puppenkiste beschäftigt sich Thomas Hettches Roman Herzfaden. Dieses Wort stammt von Oehmichen und ist keine Erfindung des Autors. Oehmichen bezeichnete so den wichtigsten Faden seiner Puppen, denn er "macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht".

Hettche schildert die Geschichte des Puppentheaters aus der Sicht von Hannelore Oehmichen, eine der Töchter von Walter Oehmichen. Sie, die von allen "Hatü" genannt wurde, war es, der die Arbeit in er Puppenkiste mindestens so am Herzen lag wie ihrem Vater. Doch der Autor bringt noch einen weiteren Dreh hinein: Das Buch beginnt damit, dass ein zwölfjähriges Mädchen mit seinem Vater eine Vorstellung der Puppenkiste besucht, obwohl es das für Kinderkram hält. Es versteckt sich und findet zufällig eine Holztür, die auf einen in Mondlicht getauchten Dachboden führt. Mit jeder Stufe, die nach oben führt, schrumpft das Mädchen ein Stückchen. Als es den Dachboden erreicht hat, ist das Mädchen nur noch so groß wie eine Marionette. Dort oben trifft es nicht nur auf die bekanntesten Figuren der Augsburger Puppenkiste, die lebendig geworden sind und sprechen können, sondern auch auf den Geist der längst verstorbenen Hatü, der vom eigenen Leben und dem Werdegang der Puppenkiste erzählt.

In dieser Erzählung ist die deutsche Geschichte während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit eingeflochten. Hatü schildert, was sie als Kind und junge Erwachsene wahrgenommen und erlebt hat: die Probleme des Kriegsalltags ohne den Vater, die Deportationen von Juden aus der Nachbarschaft, die unentschlossene Haltung von Walter Oehmichen, der kein Nazi, sondern eher ein unauffälliger Mitläufer war.

Hatü spricht auch über ihre Angst vor dem Kasperl, die sich auch auf dem Dachboden immer wieder zeigt. Ihn hat sie während eines Aufenthalts der Kinderlandverschickung geschnitzt und ihm unbewusst Merkmale zugefügt, die von den Nazis als antisemitische Stereotype propagiert wurden. Das schleichende Gift der nationalsozialistischen Propaganda hatte sich auch bei der kleinen Hatü ausgebreitet, ohne dass es ihr zunächst bewusst geworden war. Seitdem fürchtet sie sich vor ihrer eigenen Marionette.

Lesen?

Herzfaden ist mit seinem Wechsel zwischen Hatüs Rückschau und den Szenen auf dem Dachboden ein modernes Märchen, das dazu beiträgt, nicht nur die Geschichte der Augsburger Puppenkiste, sondern auch Deutschlands ein Stück weit lebendig und im Gedächtnis zu behalten. Leseempfehlung!

Thomas Hettche hat bereist zahlreise Preise für seine Werke erhalten. Herzfaden stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020.

Herzfaden ist 2020 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

Freitag, 9. Juli 2021

# 298 - Wie funktioniert die Bildung von Schwärmen?

Prof. Helmut Satz hat sich in seinem Buch Heuschrecken haben keinen König ganz den Fragen gewidmet, wie und warum es in der Tierwelt zur Bildung von Schwärmen kommt, wie die einzelnen Schwarmmitglieder aufeinander reagieren und was Tiere dazu bringt, sich "getaktet" zu verhalten. Doch Satz belässt es nicht dabei, sondern spannt den Bogen auch in die Physik (seinem eigenen Fachgebiet), die Mathematik und die Informatik.

Das Buch richtet sich ausdrücklich an Laien und kommt mit wenigen mathematischen Formeln aus. Wer weniger mathebegeistert ist, kann diese kurzen Passagen überspringen, ohne den Faden zu verlieren.

Es wird deutlich, welche Unterschiede es bei der Schwarmbildung zwischen Vögeln und Insekten gibt, wann auch Menschen sich als Teil eines Schwarms verhalten, wovon Wissenschaftler vor einigen hundert Jahren ausgegangen sind (Stichwort: Telepathie bei Vögeln) - und wo die Grenzen des aktuellen Wissens liegen.

In 21 Kapiteln beleuchtet Satz die komplexe Thematik, indem er sich unterschiedlichen Tierarten zuwendet und auch auf die Kommunikation von Tieren innerhalb eines Schwarms eingeht. Wer noch mehr einsteigen möchte, kann das mit den beiden Anhängen tun. Sie bieten dann auch Stoff für alle, die sich den geschilderten Phänomenen mathematisch nähern wollen.

Das Buch wird durch ein Literatur-, Personen- und Sachverzeichnis abgerundet.

Lesen?

Heuschrecken haben keinen König ist auch für Laien gut lesbar, weil fast völlig auf die sonst in Fachbüchern übliche wissenschaftliche Formulierung verzichtet wird. Trotzdem gehört es zu den anspruchsvollen Sachbüchern und lässt sich aufgrund seines nicht populärwissenschaftlichen Schreibstils nicht "in einem Rutsch" lesen. Interesse an der Thematik sollte also vorhanden sein, wenn man das Buch zur Hand nimmt.

Heuschrecken haben keinen König ist 2021 beim Verlag Wiley-VCH erschienen und kostet als broschierte Ausgabe 24,90 Euro sowie als E-Book 21,99 Euro.

Freitag, 2. Juli 2021

# 297 - Mallorca, immer wieder Mallorca

Tessa Hennig ist bekannt für ihre unterhaltsamen und
locker geschriebenen Romane, die mit einer guten Prise Humor gewürzt sind. Da ist ihr neuestes Buch Erben wollen sie alle keine Ausnahme.

Bianca Stegemann ist fast 75, verwitwet und lebt allein in ihrem schönen Haus mit Meerblick auf Mallorca. Ihre in Deutschland wohnenden Kinder sind mit sich selbst beschäftigt und haben nur wenig Kontakt zu ihrer Mutter. Nur Enkelin Luisa besucht gern ihre Oma, wenn ihr das Medizinstudium die Zeit dazu lässt.

Biancas etwas eintöniges Leben bekommt neuen Schwung, als sie in Sollér in einem Hafencafé den einige Jahre jüngeren und gutaussehenden Wolfgang - "Wolfi" - kennenlernt. Die beiden verlieben sich sofort ineinander und schon nach wenigen Wochen schmieden sie Pläne: Wolfi schlägt eine gemeinsame Weltreise vor. Sein Enthusiasmus steckt Bianca an, und sie überlegt, ihr Haus zu verkaufen, um die Reise finanzieren zu können.

Als Biancas Kinder Anja und Steffen davon Wind bekommen, sehen sie ihr Erbe den Bach hinuntergehen. Sie laden sich selbst sowie Steffens Frau Yvonne und Luisa nach Mallorca ein. Unter dem Vorwand, mit ihrer Mutter deren 75. Geburtstag feiern zu wollen, reisen sie kurzfristig an. Und es kommt, wie es kommen muss: Wolfi hat ein Geheimnis, dem Steffen und Yvonne auf die Spur kommen.

Doch auch Bianca, die sich einige Zeit vor dem Tod ihres Mannes von ihm getrennt hatte, hat den wahren Grund für diesen Schritt all die Jahre für sich behalten. Tessa Hennig schafft es, ihre Leser zunächst auf die falsche Spur zu schicken, was der Handlung noch mehr Schwung gibt.

Lesen?

Erben wollen sie alle ist das richtige Buch für laue Sommerabende oder Tage auf der Sonnenliege. Ein bisschen Klischee, viel Gefühl und eine schwungvolle Handlung - Leseempfehlung!

Erben wollen sie alle ist im Juli 2021 im Ullstein Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 10,99 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro.