Sonntag, 26. November 2023

# 419 - Solmeckes juristischer Adventskalender

Christian Solmecke ist Rechtsanwalt und vielen YouTube-Nutzern durch seinen Kanal WBS LEGAL bekannt. Dort nimmt er zu Rechtsfragen Stellung, die ein breites Publikum interessieren. Fast 950.000 Abonnenten sind ein deutliches Indiz, wie groß das Interesse an juristischen Alltagsfragen ist.

Mit seinem Buch Recht besinnlich - Der juristische Adventskalender richtet sich Solmecke an alle, die sich die Zeit bis zum Weihnachtsfest nicht mit dem täglichen Verzehr von Süßigkeiten vertreiben wollen, sondern ihren juristischen Horizont erweitern möchten. Solmecke geht dabei durchaus kreativ vor. An manchen Tagen nimmt er die Weihnachtsgeschichte genauer unter die Lupe und fragt seine Leserinnen und Leser, wie sie den einen oder anderen Sachverhalt mithilfe ihres sog. Bauchgefühls beurteilen würden: Stören Engel durch ihr unkoordiniertes Herumfliegen den Luftraum? Durfte der unfreundliche Herbergsvater Maria und Josef seines Hauses verweisen, obwohl sie sich in einer Notlage befanden? 

Selbstverständlich wird jede dieser Rechtsfragen von Solmecke beantwortet, sodass nichts unklar bleibt. Aber ich verrate nicht zu viel, wenn ich sage, dass das Bauchgefühl bei juristisch strittigen Sachverhalten nicht der beste Ratgeber ist.

Solmecke belässt es in seinem besonderen Adventskalender aber nicht bei der Weihnachtsgeschichte, sondern wendet sich auch Ereignissen zu, die in den letzten Jahren stattgefunden und einen Bezug zum christlichen Glauben haben. Da ist die das Wort "Jesus" enthaltende Grußformel eines Callcenter-Mitarbeiters ebenso zu nennen wie der Tod eines evangelikalen Missionars, der sich dazu berufen fühlte, trotz eines Kontaktverbots der indischen Regierung die völlig von der Außenwelt isoliert lebenden Sentinelesen zu bekehren. Er schlug nicht nur das Regierungsverbot, sondern auch die unübersehbar ablehnende Reaktion der Bewohnerinnen und Bewohner auf North Sentinel Island in den Wind. Die juristische Frage, die sich nun stellt: Kann man die Sentinelesen für die Tötung des Missionars zur Rechenschaft ziehen?

Lesen?

Recht besinnlich - Der juristische Adventskalender ist eine unterhaltsame Abwechslung zu den üblichen Adventskalendern und beweist, dass Jura nicht "trocken" sein muss.

Das Buch ist 2023 bei Yes Publishing erschienen und kostet 12 Euro.

Sonntag, 19. November 2023

# 418 - Von Menschen und Krähen

Der Schriftsteller Alexander Höch hat gerade eine
Chemotherapie hinter sich. Aber anstatt sich um ihn zu kümmern, beschließt seine Frau Eva, gerade jetzt das gemeinsame Haus renovieren zu lassen. Alexander wird in der Wohnung seines Bruders Georg untergebracht, der gerade auf Reisen ist. Eva duldet keinen Widerspruch, die dominante Psychotherapeutin weiß, wie sie ihren Mann "überzeugen" kann. Christina Walker gibt in ihrem Roman Kleine Schule des Fliegens einen tiefen Einblick in den Seelenzustand eines Mannes, der eine große Lebenskrise (vorläufig) überstanden hat und sich ungewollten neuen Herausforderungen gegenübersieht.

Alexander fühlt sich abgeschoben, lästig und alleingelassen. Georgs Wohnung ist ihm fremd. Fremd ist ihm auch Melitta Müller, die immer wieder kurz vorbeikommt, um die Blumen zu gießen, ein bisschen zu putzen und kleine Besorgungen zu erledigen. Sie steht jedes Mal unverhofft in der Wohnung, was Alexander als ein Eindringen in seine Privatsphäre empfindet. Melitta behauptet jedoch jedes Mal, vorher geklingelt zu haben.

Eine Abwechslung bieten die Krähen, die auf der gegenüberliegenden Platane dabei sind, Nester zu bauen. An den Tieren scheiden sich allerdings die Gemüter der Nachbarschaft: Bewohnerinnen und Bewohner eines Altenheims füttern die Vögel heimlich, andere Nachbarn - allen voran Melitta - setzen alles daran, sie zu vertreiben.

"Das ist eine der schönsten Straßen der Stadt", sagte die Frau mit den kurzen blonden Haaren, "eine Krähenkolonie hat hier einfach keinen Platz."
Kommt einem dieser Satz nicht aus anderen Zusammenhängen bekannt vor?

Es ist Eile geboten, denn sobald die Nester fertig sind, müssen die Krähen in Ruhe gelassen werden. Der Eifer der Krähengegner scheint keine Grenzen zu kennen: Es beginnt mit einem gelben Vergrämungsballon, der in den Zweigen der Platane hängt und dessen eckige Augen den Krähen Angst machen sollen. Statt weniger kommen jedoch mehr von ihnen. Die Krähenhasser versuchen es mit dem gesamten Sortiment des Vergrämungsmarktes, haben aber keinen Erfolg. Eines Morgens findet Alexander auf dem Küchentisch einen Revolver. Er gehört Melitta, die auch die passende Schreckschussmunition dabei hat. 

"Wo sich eine Saatkrähe niederlässt", erwiderte Melitta Miller, "folgen bald die nächsten. Das ist der Beginn einer Migrationsbewegung, wenn wir nichts tun." 

Lesen?

Kleine Schule des Fliegens ist ein sensibler Roman über die Einsamkeit eines Menschen und die Parallelen zwischen zwischen dem Wesen Alexanders und dem der Krähen. Nicht zuletzt verbirgt sich in dem Roman auch eine Portion Gesellschaftskritik, die aber nicht mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommt.

Kleine Schule des Fliegens ist 2023 im Braumüller Verlag erschienen und kostet in der gebundenen Ausgabe 22 Euro. Das Buch stand auf der Longlist des Österreichischen Buchpreises 2023.


Sonntag, 12. November 2023

# 417 - Männer töten

Absicht oder Zufall? Je nachdem, ob man im Titel von Eva Reisingers Debütroman Männer töten das erste oder zweite Wort betont, ergibt sich ein völlig entgegengesetzter Sinn. Grund genug, sich dieses Buch genauer anzusehen.

Anna Maria ist 30 Jahre alt, Österreicherin und lebt in Berlin. Sie arbeitet seit drei Jahren für ein Praktikantinnen-Salär in einer Agentur für Online-Marketing und hat in der Hoffnung, dort beruflich aufsteigen zu können, ihr Studium geschmissen. Sie hat in Berlin zwei enge Freundinnen, fühlt sich dort aber immer unwohler. Die On-Off-Beziehung mit dem selbstbezogenen Friedrich ist eine Belastung. Anna Marias Leben fühlt sich an, als sei es in einer Sackgasse. 

In dieser Situation lernt sie in einem Club Hannes kennen. Er ist ebenfalls Österreicher und hat in dem abgelegenen oberösterreichischen Dorf Engelhartskirchen den Hof der Eltern übernommen. Kurz, nachdem die beiden einen One-Night-Stand haben, hat Anna Maria einen Fahrradunfall. Der einzige, der ihr auf die Frage des Krankenhausarztes: "Wer kann sie abholen?" einfällt, ist Hannes.

Anna Marias neues Leben beginnt in Engelhartskirchen an Hannes' Seite. Insbesondere die Frauen des Dorfes nehmen sie in ihrer Mitte auf. Gleich zu Beginn wird sie zum Junggesellinnenabschied von Sabine und Josepha eingeladen, dessen wichtigstes Merkmal der maßlose Alkoholkonsum ist. Anna Maria registriert zunächst alles, was ein österreichisches Dorf klischeehaft ausmacht: die idyllische Landschaft, die Kühe auf den Weiden, die Kirche. Doch dann wundert sie sich über die ihr fremden Gepflogenheiten wie die Arbeit der selbsternannte Pastorin, aber nach und nach begreift sie, was diesen Ort von allen anderen im Land unterscheidet: Hier wird das Matriarchat gelebt, und zwar bis zur letzten Konsequenz. Im Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen hält die weibliche Dorfgemeinschaft eisern zusammen: die mit Verächtlichmachung gepaarte Homophobie des Hausarztes, Friedrichs in einer Vergewaltigung mündendes Stalking, ein der Frauengemeinschaft gefährlich werdender Journalist... Sie alle geben Anlässe, sich gegen Männer zu wehren. 

Lesen?

Es ist nicht schwer zu erkennen, welchen roten Faden Eva Reisinger in ihrem Roman verfolgt. In Engelhartskirchen wird die Umkehrung des andernorts vorherrschenden Patriarchats gelebt. Eines Patriarchats, das in Österreich zu durchschnittlich einem Femizid alle zwei Wochen und jährlich 50 Mordversuchen an Frauen führt. In Deutschland verliert im Durchschnitt alle drei Tage eine Frau durch einen Femizid ihr Leben.

Im Unterschied zu den Männern, die einen (versuchten) Femizid begehen, weil sie Frauen nicht als gleichwertig ansehen, verachten die Frauen von Engelhartskirchen die Männer jedoch nicht grundsätzlich. Sie haben allerdings kollektiv beschlossen, sich nicht mehr kleinmachen zu lassen. Und wenn das doch passiert...

Männer töten ist ein gedankliches Experiment, das nicht zur Selbstjustiz aufrufen will. Der Roman dient eher dazu, der Gesellschaft - insbesondere dem männlichen Teil - den Spiegel vorzuhalten. Das hat das Buch sehr gut geschafft. Das schien auch die Jury des Österreichischen Buchpreises so zu sehen, das den Titel auf die Shortlist des Debütpreises 2023 setzte.

Männer töten ist 2023 im Leykam Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro sowie als E-Book 18,99 Euro.

Sonntag, 5. November 2023

# 416 - Ein Sommer vor 50 Jahren

Thomas Oláh, der in der Film- und Theaterbranche als Kostüm- und Bühnenbildner bekannt ist, hat mit Doppler sein Romandebüt veröffentlicht.

Sein namenloser Ich-Erzähler ist ein Junge, der an einem Sommertag mit seinen Eltern und seinem kleinen Bruder mit dem Auto ins Wochenende fährt. Doch die Familie wird ihr Ziel nicht erreichen: Der Wagen kommt von der Straße ab, überschlägt sich und bleibt auf dem Dach liegen. Der Junge hat, wie er im Krankenhaus erfährt, eine Gehirnerschütterung. Was aus den Eltern und dem Bruder geworden ist, erfährt er nicht. Ein Onkel holt ihn aus dem Krankenhaus ab und bringt ihn zu seinen Großeltern, die er kaum kennt.

Die Handlung spielt 1970 im fiktiven österreichischen Dorf Frankenhayn, in dem die Großeltern des Jungen und weitere Verwandte wohnen. Der Ort ist geprägt vom Weinanbau. Oláh beschreibt das Leben der österreichischen Landbevölkerung, wie es vor rd. 50 Jahren auch in Deutschland oft üblich war. Es werden nicht mehr Worte als nötig gemacht, dem sozialen Miteinander haftet etwas Archaisches an, Zärtlichkeiten gibt es nicht.
Die oft grausame Art, mit Menschen und Tieren umzugehen, findet ihre Erklärung in der Geschichte und den Erfahrungen jedes einzelnen Familienmitglieds, wobei Oláh den Bogen in seinem Roman bis zurück in die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs spannt. Der Hang zur Brutalität wird an die nächste Generation, hier an die beiden Cousins des Jungen, weitergegeben.

Die Großeltern werden als gefühlte Konstante von allen nachfolgenden Generationen mit "Mutter" und "Vater" angesprochen, ebenso konstant ist die Möblierung: Die beiden Alten schlafen in kastenähnlichen Bauernbetten mit hohen Rahmen, die von dem Jungen als Sarkophage bezeichnet werden.
Der Katholizismus wird mit seinen Ritualen gelebt, ihm haftet jedoch etwas Bigottes an. 
Das Leben ist vom Rhythmus der anstehenden Arbeiten und vom ausgiebigen Verkosten des selbst hergestellten Weins geprägt, der in großen Zweiliter-Flaschen, den Dopplern, abgefüllt wird. Dieses Verkosten folgt ebenso wie der katholische Glauben festen Abläufen.

Und dann ist da das Gefühl des Jungen, von seiner Familie, die mit ihm verunglückt ist, vergessen worden zu sein: Eines Nachts bemerkt er die Gespräche der Erwachsenen, die wie dort üblich nur aus einzelnen Worten und Halbsätzen bestehen. Er sieht seinen Vater und seinen kleinen Bruder, die beiden scheinen gemeinsam mit den Großeltern die Mutter besuchen zu wollen. Der Junge ist jedoch nicht sicher, niemand spricht mit ihm darüber oder tröstet ihn. Er hat keine Ahnung, wie lange er in Frankenhayn bleiben muss und wie es mit ihm weiter geht.

Lesen?

Thomas Oláh ist im selben Jahr geboren wie ich. Vieles von dem, das er beschreibt, habe ich so oder so ähnlich selbst in Erinnerung. Oláh schafft es sehr gut, die Haltlosigkeit des in dem Winzerdorf gestrandeten Jungen zu dokumentieren, sodass man durchweg auch in den positiven Szenen Mitgefühl empfindet.

Oláh setzt neben dem Jungen einen Erzähler ein, der die ihm unbekannten Familienhintergründe beschreibt. Dadurch geraten Leserinnen und Leser in die etwas kuriose Situation, dass sie im Gegensatz zur Hauptfigur, dem Jungen, das große Ganze überblicken, das Kind jedoch keine Chance hat, das ebenfalls zu tun und Zusammenhänge zu verstehen.

Unverständlich bleibt, dass der Junge ein sehr guter Beobachter ist und das Erlebte in seiner Rolle als Erzähler in passende Worte kleiden kann, er aber nicht den Antrieb aufbringt, Fragen nach seinen Eltern und seinem Bruder sowie seiner eigenen Zukunft zu stellen.

Thomas Oláh hat in drei eigenen Kapiteln Texte über heute (fast) vergessene Forscher oder Künstler eingefügt: Nikolaus Winkel (Erfinder des Metronoms), Christian Doppler (Entdecker des nach ihm benannten Doppler-Effekts) und Marcel Mariën (belgischer Schriftsteller und Kunstkritiker). Den Zusammenhang zwischen der Handlung und den drei Männern konnte ich nur mühsam konstruieren, die Exkurse lenkten von der eigentlichen Handlung eher ab.

Insgesamt hinterlässt Doppler bei mir einen zwiespältigen Eindruck. Den im Klappentext angekündigten Humor habe ich nicht wahrgenommen, über die über der Kernhandlung stehenden Themen wurde in den letzten Jahren bereits oft geschrieben. Der Roman ist trotz dieser Kritik interessant geschrieben und bringt für alle, denen das Landleben vor 50 Jahren und die Prägungen durch den Zweiten Weltkrieg noch fremd ist, etliche Erkenntnisse.

Doppler ist 2023 im Verlag Müry Salzmann erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro.

Der Roman stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 und ist im Rahmen des Österreichischen Buchpreises für den Debütpreis nominiert.