Freitag, 16. April 2021

# 286 - Eine zerstörte Kindheit in den 1970-ern

Der belgische Schriftsteller Dimitri Verhulst lässt in seine Romane viel aus seiner eigenen Biografie einfließen. Das ist in seinem 2011 erschienen Buch Die letzte Liebe meiner Mutter nicht anders.

Der Roman spielt in den 1970-er Jahren, als die Vorstellungen davon, wie Dinge zu sein hatten und wie man mit Problemen umging, sich deutlich von den heutigen unterschieden.
Im Mittelpunkt steht der elfjährige Jimmy. Seine Mutter Martine hat sich von ihrem Mann, einem gewalttätigen Säufer, der seinen Lohn in die nächste Kneipe trug, getrennt und ist schon kurze Zeit später eine neue Beziehung eingegangen: Wannes Impens ist Arbeiter bei VW, findet aber, dass er irgendwie nicht zu den einfachen Leuten dort gehört. Er zieht rasch bei Martine ein und lässt so das Leben bei seinen Eltern hinter sich. Dass zu der neuen Partnerschaft auch ein Kind gehört, nimmt er zunächst hin, entwickelt sich für ihn allerdings immer mehr zu einem Ärgernis. Daraus, dass er Jimmy für einen Störfaktor hält, macht Wannes keinen Hehl.

Martine sehnt sich nach einer bürgerlichen Normalität und blendet Wannes' unschöne Eigenschaften kurzerhand aus. Er ist für sie eine Art Erlöser, der sie aus der Armut in ein besseres Leben führt. Da liegt der Gedanke an einen gemeinsamen Urlaub nah, und Wannes bucht für die kleine Patchworkfamilie eine einwöchige Busreise in den Schwarzwald. Unterwegs ist er bemüht, den Mitreisenden eine heile Familie vorzugaukeln und schärft Jimmy ein, ihn nur mit "Vater" anzusprechen. Dem Jungen ist jedoch sonnenklar, dass er in der Gunst seines wahrscheinlich künftigen Stiefvaters nicht höher als eine Waldameise steht, und ignoriert Wannes' Ansagen. Zwischen den beiden wächst eine Feindschaft heran, die während des Urlaubs ihren Höhepunkt findet, als Jimmy in eine lebensgefährliche Situation gerät. Und dann trifft die schwangere Martine eine Entscheidung, die Jimmys Leben von Grund auf verändert und über die sich Wannes gefreut haben wird. Der Umstand, dass der Junge wie das Abbild seines Vaters aussieht, dürfte zu der verhängnisvollen Entwicklung beigetragen haben.

Lesen?

Verhulst schildert sehr authentisch das Leben der sog. "kleinen Leute" in Belgien während der 1970-er Jahre, das sich in Deutschland ganz ähnlich abgespielt hat. Alles, was den Anschein einer heilen Familie trüben könnte, wurde unter den Teppich gekehrt und der Wunsch, sich etwas leisten zu können, war immer präsent. Vorurteile waren durch praktisch nichts zu erschüttern, was insbesondere bei der Schilderung der Busfahrt durch das Steuerparadies Luxemburg mit seinen überteuerten Raststätten-Toiletten und Frankreich mit seinen Zollbeamten, die sich nach dem Verzehr eines schlechten Essens an den Touristen rächten, indem sie deren Autos akribisch durchsuchten, deutlich wird.

Die Handlung ist dann aber ziemlich abrupt an ihrem Ende angekommen, als Verhulst lässig die nächsten achtzig Jahre überspringt und auf den nun 91-jährigen Jimmy blickt. Kurz vor dem Ende seines Lebens kommt es zu einer Begegnung, auf die er seit Jahrzehnten gewartet hatte.

Lesen? Ja, denn das einzige, was man an diesem Roman vermisst, ist ein längerer Blick auf Jimmys Leben nach dem Schwarzwaldurlaub.

Die letzte Liebe meiner Mutter ist 2011 erstmals als E-Book im Luchterhand Verlag erschienen (siehe Coverfoto) und kostet 7,99 Euro. 2013 wurde bei btb eine broschierte Ausgabe zum Preis von 8,99 Euro herausgegeben.

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