Donnerstag, 24. Oktober 2024

# 457 - Allein durch die Wüste - eine wahre Geschichte über die Flucht eines Kindes

Vor 25 Jahren wird ein neunjähriger Junge auf eine
lange und gefährliche Reise von El Salvador nach Tucson, Arizona, geschickt. Der Versuch, ein reguläres Visum zu bekommen, ist da bereits gescheitert. Er wird einem Schlepper anvertraut, sein Großvater begleitet seinen Enkel auf der Busfahrt durch Guatemala bis nach Ocós an der mexikanischen Grenze. Ab dort ist das Kind auf sich allein gestellt. Dieses Kind ist der Autor Javier Zamora, der diese unglaubliche und rd. 6.000 Kilometer lange Reise in seinem Buch Solito beschreibt. Der Titel trifft die Sache genau, denn 'solito' bedeutet 'allein'.

Javiers Eltern sind schon einige Jahre zuvor als "Illegale" in die USA geflüchtet. Der zwölfjährige Bürgerkrieg in ihrer Heimat hatte zu einer Gewaltspirale geführt und El Salvador auch wirtschaftlich zerrüttet. Doch 1999 beschließt die Familie, dass Javier seinen Eltern nach 'La USA' folgen soll. Für den Jungen wird ein Traum wahr.

Javier kennt seinen Vater, der zuerst das Land verlassen hat, nur noch durch regelmäßige Telefonate und weiß durch Fotos, wie er aussieht. An seine Mutter kann er sich jedoch gut erinnern. Die Fotos zeigen seine Eltern vor schönen Häusern, die gepflegte Gärten und Swimmingpools haben. Javier schließt daraus irrtümlich, dass auch sie in solch einer Umgebung leben. Das steigert - neben seiner Sehnsucht nach ihnen - seine Vorfreude auf das neue Leben in den USA.

Javier fährt auf dem Pazifik in einem überladenen Boot von Ocós (Guatemala) nach Oaxaca (Maxiko); er schläft mit seiner Flüchtlingsgruppe in billigen Motels oder überfüllten Wohnungen und läuft nachts durch die eiskalte Wüste, die sich am Tag wie ein brütend heißer Ofen anfühlt; er erlebt Gewalt und Korruption und verbringt eine Nacht und einen Tag in der überfüllten und stinkenden Sammelzelle eines amerikanischen Grenzgefängnisses. Menschen, die mit der Gruppe nicht mehr Schritt halten können, werden in der Wüste zurückgelassen.

Doch Javier hat Glück: Er bekommt unterwegs Hilfe vom 19-jährigen Chino und der 27-jährigen Patricia, die mit ihrer kleinen Tochter Carla ebenfalls auf dem Weg in die USA ist. Die Vier werden auf dem Boot bis zu ihrer Ankunft zu einem Team, das zusammenhält und aufeinander achtet. Sie erleben gemeinsam, an der Grenze ihres Traumlands zu scheitern und motivieren sich gegenseitig, nicht aufzugeben. Die Familie auf Zeit ist Javiers rettender Anker. 

Lesen?

Solito war 2022, als die Originalausgabe in den USA erschien, wochenlang auf der Bestseller-Liste der New York Times. Das Thema illegale Migration spaltet seit etlichen Jahren das Land und trieb die Wählerinnen und Wähler im Wahlkampf sowohl in diesem Jahr als auch vor vier Jahren um. Zamora hat mit seinem Buch dazu beigetragen, sich in die Situation der Migranten, gegen die Ex-Präsident Trump das Land mit einer Mauer schützen will, hineinzuversetzen. 

Javier Zamora arbeitet zwar mit konkreten Datumsangaben, es darf jedoch bezweifelt werden, dass sich ein neunjähriger Junge, der mit dem nackten Überleben beschäftigt ist, täglich Notizen macht. Seine in Romanform verarbeiteten Erlebnisse geben jedoch Einblicke, wie gefährlich eine Flucht durch Schlepper und wie groß die Hoffnung ist, die Angehörigen wiederzusehen und ein Leben in Frieden zu führen.

Zamora hat viele Jahre lang niemandem von seiner fast zehnwöchigen Flucht erzählt. Die Erlebnisse haben ihn so schwer traumatisiert, dass er sich in psychotherapeutische Behandlung begeben hat. Seine Erzählung enthält sehr viele Eindrücke aus der Perspektive eines Kindes, das sich immer wieder orientieren und eine Situation einschätzen muss: Zamora schildert Gerüche in Unterkünften oder von Menschen, das Mienenspiel von Mitflüchtlingen, Schleppern oder Polizeibeamten oder den Geschmack von Staub. Es ist der Blickwinkel eines Kindes, von dem das Verhalten eines Erwachsenen erwartet wird. Die Angst ist ein ständiger Begleiter - bis zum Schluss, als der kleine Javier hofft, dass seine Eltern ihn vom letzten Schlepper freikaufen und abholen.

Das Buch ist sehr interessant, die immer wieder eingestreuten spanischen Begriffe und Aussprüche, die im Glossar übersetzt werden, haben den Lesefluss allerdings leider gehemmt und waren für das Verständnis nicht nötig.

Zamora ist in den USA bis zur Veröffentlichung von Solito als Lyriker bekannt gewesen und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. 

Solito ist 2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundenes Buch 26 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.


Tipp: Im Laufe der Handlung werden immer wieder Bands aus Mittelamerika und ihre bekanntesten Lieder genannt. Man muss kein Fan dieser Musik sein, aber sie sich zwischendurch anzuhören trägt dazu bei, die Atmosphäre des Buches zu erfassen.


Freitag, 18. Oktober 2024

# 455 - Lügen verboten! Sonst...

Tessa Weidrich und Philipp Bajon sind neunzehn Jahre alt, kennen sich (bislang) nicht und finden unabhängig voneinander eine mysteriöse Silbermünze. Obwohl finden nicht das richtige Wort ist: Tessa stiehlt ihr Exemplar aus dem Portemonnaie ihres verhassten Onkels Henrik, Philipp bekommt seine von einer Kommilitonin, die diese in einer Packung Teelichter entdeckt hat. An dieser Stelle läuft sich Scandor von Ursula Poznanski noch warm, wird aber schon kurz danach spannend.

Auf der einen Münzseite ist ein Barcode, der zu einer Website führt, in die man sich mit dem auf der zweiten Seite abgedruckten Pin einloggen kann. Dort stoßen sie auf einen Wettbewerb, der es in sich hat: Es geht darum, eine Zeit lang nicht zu lügen. Keine Notlügen, keine Halbwahrheiten, keine ausweichenden Antworten auf Fragen von Gesprächspartnern. Keine leichte Aufgabe, wenn man dem ständig meckernden Nachbarn einen guten Morgen wünscht oder das neue Kleid, das die beste Freundin begeistert vorführt, scheußlich findet. Kleine Lügereien sind gesellschaftlich akzeptiert und werden in bestimmten Situationen sogar erwartet, weil man seine Mitmenschen nicht verletzen will. Aber sie sind bei diesem ungewöhnlichen Spiel absolut tabu: Wer von den 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern lügt, scheidet sofort aus.

⮚ [...]Alles deutet darauf hin, dass dieser Tag ein Scheißtag wird. Als sie sich das nächste Mal aufrichtet, steckt gerade der Briefträger - der neue, hübsche - ein paar Umschläge in den Postkasten. Er lächelt ihr zu. "Wie geht es Ihnen heute?"
Sie lächelt zurück [...]. "Danke, gut."
Dass das nicht der Wahrheit entspricht und dass Scandor auch dahingesagte Floskeln abstraft, begreift sie erst, als Kälte ihren Arm durchströmt. Ein Gefühl, als hätte sie Eiswasser in den Adern. 

Die Mühe, die die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf sich nehmen, wird belohnt: Die Person, die zum Schluss alle anderen mit ihrer absoluten Wahrheit besiegt hat, bekommt fünf Millionen Euro.
Aber während des Auswahlgesprächs wird klar, dass alle, die ausscheiden, sich ihrer größten Angst stellen müssen. Die Furcht, Dinge tun oder aushalten zu müssen, die einem schon beim bloßen Gedanken an sie den Angstschweiß auf die Stirn treiben, ist eine zusätzliche Motivation.

Philipp kommt aus einer wirtschaftlich gut situierten Familie. Er leidet jedoch unter den ständigen Streitereien seiner Eltern, die seine Kindheit und Jugend begleitet haben. Er möchte sich mit dem Preisgeld den Traum vom Auslandsstudium erfüllen. Weit weg von den Eltern.

Auch Tessas Entscheidung, bei dem Wettbewerb mitzumachen, hängt mit ihrer Familie zusammen. Ihr Vater hatte einen Motorradunfall, als Tessa ein kleines Mädchen war. Seitdem ist er stark gehbehindert und hadert mit seinem Schicksal. Die Eltern leben zur Miete in einer Wohnung, die Tessas Onkel Henrik gehört. Hendrik unterstützt die beiden auch finanziell, behandelt sie jedoch wie Bettler und generiert sich als barmherzigen Samariter. Mit dem Gewinn wären die Eltern für immer von Henrik unabhängig. Und sie selbst natürlich auch.

Bereits bei der Eignungsprüfung bekommen Tessa und Philipp einen ersten Eindruck von dem, was da auf sie zukommt: Wie alle Kandidatinnen und Kandidaten sind sie mit einem sehr zuverlässig arbeitenden Lügendetektor verbunden, der schon bei der kleinsten Nachlässigkeit anschlägt. Das ist ein Vorgeschmack auf das, was sie im Wettbewerb erwartet. Wie alle anderen werden Tessa und Philipp mit Scandor ausgestattet, einem neuartigen Gerät, das seinen Träger Tag und Nacht auf Ehrlichkeit und Offenheit scannt. Die flache Vorrichtung wird den Mitspielern auf dem Unterarm fixiert, sie können sie nicht selbst entfernen.

Bald wird deutlich, dass mit dem Gewinnspiel ein bestimmtes Ziel verfolgt werden soll und der Wettbewerb nur den Rahmen bildet. Tessa und Philipp haben jedoch mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Sie müssen ihren normalen Alltag leben, also zur Uni gehen und in ihren Jobs arbeiten: Tessa in einem Callcenter und als Servicekraft, Philipp als Aushilfe in einem Jeansladen. Und dann sind da noch die Konkurrenten, die mit fiesen Tricks versuchen, die anderen Mitspieler auszuschalten, sowie zusätzliche Aufgaben, die erfüllt werden müssen. Wer ist der oder die Nächste, die durch einen Kältestoß von Scandor erfährt, dass das Spiel für ihn oder sie zu Ende ist?

Tessa und Philipp gewöhnen sich an, keine spontanen Antworten zu geben und die gewohnten Floskeln aus ihrem Sprachschatz zu tilgen. Mit ihrer Taktik machen sie ihrer Konkurrenz schwer zu schaffen. Doch mit dem, was sie gegen Ende erwartet, haben sie nicht gerechnet. Die meisten Leserinnen und Leser vermutlich auch nicht.

Lesen?

Scandor spielt mit der Frage, wie aufrichtig Menschen sind. Wie oft lügen wir pro Tag? Lange Zeit wurde gesagt, dass durchschnittlich 200 Lügen pro Tag normal seien. Doch mittlerweile weiß man, dass es bedeutend weniger sind: Die meisten von uns lügen nur ein bis zwei Mal täglich.

Ursula Poznanski sorgt mit ihrem Jugendroman (ab 14 Jahre) für reichlich Spannung und vermittelt wie nebenbei, dass wir uns unserer Verantwortung für unser Handeln stellen müssen - auch, wenn es schmerzhaft werden kann.

Scandor ist 2024 im Loewe Verlag erschienen und kostet 19,95 Euro sowie als E-Book 14,99 Euro.

Freitag, 11. Oktober 2024

# 456 - Wer war Magda Goebbels, die Frau des Reichspropagandaministers?

Ein junger Mann ist die Hauptperson des Romans Reichskanzlerplatz von Nora Bossong: Die fiktive Figur des Hans Kesselbach, 1907 geborener Sohn eines im Ersten Weltkrieg schwer verwundeten Generals, übernimmt die Rolle des Erzählers. Durch Kesselbachs Augen wird die Geschichte von Johanna Maria Magdalena Behrend erzählt, die unter dem Namen Magda Goebbels bis heute bekannt ist.

Magda Goebbels wurde 1901 als uneheliche Tochter eines Dienstmädchens und eines Bauunternehmers  geboren. Nach einer kurzen Ehe ihrer Eltern heiratete die Mutter später den wohlhabenden jüdischen Kaufmann Richard Friedländer. Friedländer adoptierte die achtjährige Magda, sodass diese von da an seinen Nachnamen trug.

1920 lernte Magda Friedländer zufällig den deutlich älteren verwitweten Industriellen Günther Quandt kennen. Da der Protestant keine Frau mit einem jüdisch klingenden Namen heiraten wollte, nahm sie übergangsweise den Namen ihres leiblichen Vaters, Ritschel, an, ehe sie 1921 durch ihre Heirat den Namen Quandt bekam. Ihr Ziel war der soziale Aufstieg, Quandts Antisemitismus war für sie kein Ehehindernis. Eine Äußerung, die Nora Bossong Magdas Stiefsohn Hellmut in den Mund legt, bringt es auf den Punkt:
Sie wechselt so oft ihren Namen und ihren Glauben, sagte Hellmut, was weiß ich, was sie in Wirklichkeit ist. Vermutlich kann sie das nicht mal selbst sagen. Weißt du, sagte er leise, Mama hätte gemerkt, dass Madame Quandt auch unseren Namen nur wie eine Maske trägt.

Hans Kesselbach lernt Magda in einer Zeit kennen, in der sie bereits mit Quandt verheiratet ist, sich an dessen Seite jedoch langweilt. Magda hatte sich mit ihrer Heirat nicht nur den sozialen Aufstieg, sondern auch ein aufregenderes Leben versprochen. Ihr Mann war jedoch vor allem an seinem Unternehmen interessiert.

Hans hat sich mit Quandts gleichaltrigem Sohn Hellmut angefreundet, mit dem er in derselben Schulklasse ist, und erhält durch seine Besuche in dessen Elternhaus Einblick in das Leben der Oberschicht. Hellmuts Mutter ist die erste Ehefrau Günther Quandts, die 1918 an der Spanischen Grippe verstarb. 

Hans verliebt sich in Hellmut und sucht seine Nähe. Doch er registriert, dass Hellmut und Magda viel Zeit miteinander verbringen. Hellmut ist in der lieblosen Ehe mit Günther Quandt Magdas Halt. Als die beiden 1927 gemeinsam nach Paris reisen, erkrankt Hellmut an einer Blinddarmentzündung und verstirbt in einem Krankenhaus.

Hans nimmt 1927 nach seinem Militärdienst ein Jurastudium auf. Es beginnt die Zeit, in der er heimlich abends an den Wochenenden seine Homosexualität in den Büschen des Berliner Tiergartens auslebt. Sexuelle Handlungen unter Männern waren nach § 175 Strafgesetzbuch bereits seit 1871 strafbar. Das Verbot wurde erst im Juni 1994 abgeschafft.

Diese Heimlichkeit bestimmt auch in den nächsten Jahren sein Leben, und so ist es für beide von Vorteil, dass Hans Magdas Geliebter wird: Er kann von seiner Homosexualität ablenken und sie sich von ihrer unglücklichen Ehe. 1929 wird die Ehe geschieden und Magda bezieht eine Wohnung am Reichskanzlerplatz in Berlin. Dank des üppigen Unterhalts ihres Ex-Mannes führt sie ein angenehmes Leben. In ihrer Wohnung trifft sich die deutsche Wirtschafts- und Politprominenz.

Als die Affäre beendet ist, gerät Magda sowohl für Hans als auch die Leserinnen und Leser aus dem Fokus. Seine berufliche Laufbahn im diplomatischen Dienst richtet er danach aus, sich so weit wie möglich von der Berliner Politik und der Wehrmacht zu entfernen. Hans lebt seine Sexualität weiter heimlich aus und sieht das Erstarken des Nationalsozialismus' sehr kritisch. Doch er ist ein Mitläufer, der es versteht, das System für sich zu nutzen und Probleme zu umschiffen.

Lesen?

In Reichskanzlerplatz  beschreibt Nora Bossong zwei verschiedene Arten von Opportunisten: Hans will keinen Ärger und laviert sich mit Lügen und Täuschungen durch sein Leben. Die Gräuelmeldungen über die Judenverfolgung redet er klein. Dazu passt, dass er sich von einem jüdischen Bekannten abwendet, als der ihn verzweifelt um Hilfe bittet. Magda hingegen hat keine gefestigten Überzeugungen: Obwohl ihr Stiefvater Jude war und ihre erste große Liebe ein jüdischer junger Mann gewesen ist, passt sie ihr öffentliches Verhalten an das antisemitische Gedankengut der Nationalsozialisten an. Magda geht es allein um ihren gesellschaftlichen Aufstieg, für den sie alles andere hintanstellt. 

Magda Goebbels historische Bedeutung wird leider kaum herausgearbeitet. Sie wirkt wie eine vom Wunsch nach Höherem angetriebene Frau, die sich im Glanz eines bedeutenden Mannes sonnen und so beachtet werden will. Es bleibt unklar, was sie zu der lieblosen Frau gemacht hat, die eine große Liebe erlebt hat, danach die Männer aber nur aus nüchternem Kalkül auswählte. Woran sich die Nachwelt vor allem erinnert, ist der Mord, den sie an ihren sechs Kindern, die sie gemeinsam mit Joseph Goebbels hatte, begangen hat. 

Bossong schildert die historische Entwicklung Deutschlands von einer Demokratie mit großen wirtschaftlichen Problemen zu einer faschistischen Diktatur wie die Hintergrundmusik zur eigentlichen Romanhandlung. Alles, was die monströsen Untaten dieses Regimes ausgemacht hat, wird nur angedeutet. Das Wort "Konzentrationslager" fällt nur einmal, die Lage der Zwangsarbeiter, die für das Unternehmen Quandt in Hannover Akkumulatoren herstellen mussten, wird nur angerissen. 

Reichskanzlerplatz ist ein unterhaltsamer Roman, dem es aber an manchen Stellen an Tiefe fehlt. Das Buch war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024.

Reichskanzlerplatz ist 2024 im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet 25 Euro.