Freitag, 27. Dezember 2024

# 460 - Couchsurfing in der Ukraine während des Krieges

Warum macht man eine Couchsurfing-Reise in ein
Kriegsgebiet und setzt sich dem hohen Risiko aus, im Bett, im Supermarkt oder wo auch immer von einem russischen Geschoss oder einer einstürzenden Hauswand getötet zu werden? Und haben die Menschen in der Ukraine derzeit nichts Besseres zu tun, als einem deutschen Journalisten einen Schlafplatz in ihrer Wohnung inmitten einer Stadt, die zu einem großen Teil nur noch aus Trümmern besteht oder einem Dorf, in dem nur noch wenige Bewohner ausharren, zu ermöglichen?

Die erste Frage hat Stephan Orth in seinem Buch Couchsurfing in der Ukraine so beantwortet: "Erstens wohnt Julija in Kyjiw, wir sind seit gut einem Jahr zusammen." Und: "Ich möchte durch die Ukraine reisen und couchsurfen." 
Die Antwort auf die zweite Frage lautet: Die meisten Frauen und Männer, denen Orth begegnet ist, waren ihm gegenüber aufgeschlossen und hilfsbereit. Sie haben bereitwillig über ihr Leben vor und seit dem 24. Februar 2022 erzählt: ihre Ängste, ihre Hoffnungen und ihre Verluste.

Orth macht sich im April 2023 mit dem Zug auf den Weg nach Kyjiw. Durch seine Freundin hat er den Krieg vom ersten Tag an aus der Ferne miterlebt. Aber er will selbst sehen, was aus der schon seit vierzehn Monaten von Russland angegriffenen Ukraine geworden ist.

Was er in den folgenden fast acht Monaten erlebt, ist Gastfreundschaft unter erschwerten Bedingungen, ein unerschütterlicher Durchhaltewille und viel Optimismus. Orth startet in Kyjiw, von wo aus er sternförmig ins Land fährt und immer wieder zu seiner dort wohnenden Freundin zurückkehrt. Er beginnt im Westen im Karpatenvorland und wohnt bei den Trekking-Guides Polina und Roman, die ihn auf eine Wandertour in den Karpaten mitnehmen. Während einer Pause denkt Polina darüber nach, ob Menschen aus der Geschichte lernen oder sich Ereignisse in großen Abständen wiederholen: "Manchmal glaube ich, in jedem Land ist etwa alle achtzig Jahre ein großer Krieg möglich. Weil dann alle tot sind, die noch von dem vorherigen Krieg berichten können." Man blickt beim Lesen dieses Satzes unwillkürlich auf die Geschichte des eigenen Landes und die aktuelle Situation.

Stephan Orth besucht auch Charkiw, wo er von der Lehrerin Wiktorija erfährt, wie die russische Propaganda einen Keil zwischen sie und ihre in Russland lebende Verwandtschaft getrieben hat. Auch die eigene Mutter glaubt dem russischen Fernsehen mehr als den Berichten der Tochter.
Seine Gastgeberin Swetlana macht ihm deutlich, wie wenig sich die Menschen mittlerweile von Raketeneinschlägen beeindrucken lassen: "Unterrichten, leben, kochen, schlafen. Wenn eine Rakete im Nachbarviertel in einen Supermarkt einschlägt, gehe ich trotzdem am nächsten Tag einkaufen."

Orths weitere Ziele sind unter andrem die Oblast Lwiw, Poltawa, Odesa, Dnipro oder Saporischschja - Orte, die im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg immer wieder in den Nachrichten genannt werden und für Tod und Zerstörung stehen. Doch der Journalist erlebt auch, dass Spaß zu haben und sich in einem Krieg zu befinden sich nicht ausschließen: Die intakten Restaurants und Cafés sind gut besucht, die Theater bieten Aufführungen an - nun allerdings ohne Stücke von russischen Autoren. Diese schönen Erlebnisse brauchen die Menschen, um die ständige Bedrohung auszuhalten.

Stephan Orth macht sich in seinem Buch auch Gedanken über die eigenen moralischen Wertvorstellungen, als er von Polina erfährt, was sie in den ersten Kriegswochen tat, um "runterzukommen": Sie sah sich im Internet Videos an, in denen russische Soldaten getötet wurden. Orth verurteilt ihre Freude am Tod von Menschen in einem ersten Reflex. Doch dann kommen ihm Zweifel, ob er es sich erlauben kann, Polinas Verhalten auf diese Weise zu bewerten: "Die Schwelle zwischen dem, was wir Zivilisation nennen, und einem sehr düsteren Abgrund ist nicht so hoch, wie ich bislang dachte."

Lesen?

Couchsurfing in der Ukraine bietet einen guten Einblick in den Alltag der Ukrainerinnen und Ukrainer unter Kriegsbedingungen. Trotz des vielen Leids bewahren sich die Menschen die Hoffnung auf eine bessere Zeit, viele von ihnen glauben an den Sieg ihres Landes über Russland.

Stephan Orth macht deutlich: Die Ukraine wird sich gegen ihren Angreifer nur behaupten können, wenn sie weiterhin von den westlichen Staaten unterstützt wird.
Er empfiehlt, das Land zu bereisen, sobald Frieden ist, und es auf diese Weise dabei zu unterstützen, wirtschaftlich wieder auf die Beine zu kommen.
Eine Café-Inhaberin, die mit ihrem Mann aus Cherson geflüchtet ist und in Winnyzja in der West-Ukraine eine Konditorei und Eisdiele eröffnete, bringt ihre Zukunftsperspektive auf den Punkt: "Als klar war, dass ich tatsächlich hier einen Laden aufmachen kann, war das mein glücklichster Tag seit Langem. Weil ich verstand: Das Leben geht weiter."

Couchsurfing in der Ukraine ist 2024 im Piper Verlag erschienen und enthält mehr als neunzig Fotos. Das Buch kostet als Paperback 18 Euro sowie als E-Book 13,99 Euro.


Dienstag, 17. Dezember 2024

# 459 - Vaterländer

Der erfolgreiche Schauspieler Sabin Tambrea hat mit
seinem zweiten Roman Vaterländer ein sehr persönliches Buch vorgelegt. Er erzählt darin die Geschichte von drei Generationen seiner aus Rumänien stammenden Familie. 

Wer sich mit der rumänischen Geschichte beschäftigt hat, weiß, wie viel Gewalt und Leid der Bevölkerung angetan wurde, seitdem aus dem Land 1948 eine stalinistisch geprägte Volksrepublik wurde. Im selben Jahr entstand die Geheimpolizei Securitate, deren willfährige Helfer vor keiner grausamen Gewalttat zurückschreckten, um die Bevölkerung mundtot zu machen. 

Die Securitate entwickelte sich unter der Diktatur von Nicolae Ceaușescu zu einer Folterorganisation, die half, die herrschenden Machtverhältnisse zu festigen. Das wahre Ausmaß ihrer Barbarei kam erst ans Licht, nachdem die Diktatur mit der Hinrichtung von Nicolae Ceaușescu und seiner Frau Elena ihr Ende gefunden hatte.

In diesem Zeitraum bewegt sich die Handlung von Vaterländer. Tambrea beginnt 1987 mit der Auswanderung seiner Familie nach Deutschland, die außer ihm aus dem Vater Béla, der Mutter Rodica und der Schwester Alina bestand. Sabin Tambrea ist zu diesem Zeitpunkt zweieinhalb Jahre alt und Béla bereits seit zwei Jahren in Marl. Er hatte bei einer Konzertreise die Gelegenheit zur Flucht genutzt. Wie seine Frau ist er Berufsmusiker.

Tambrea beschreibt das Heimweh der Mutter, die vor allem ihre Eltern vermisst, und wie es ist, alles aufzugeben, um in einem fremden Land neu anzufangen. Béla hat sich bereits eingelebt, aber Rodica fällt es schwerer, sich an die fremde Umgebung zu gewöhnen. Als sie nach dem Sturz Ceaușescus 1989 zum ersten Mal wieder in die Heimat fahren, erleben sie an der rumänischen Grenze, dass die im Regime übliche Korruption nicht mit diesem verschwunden ist.

Sabin Tambrea hat seinen Roman in drei Abschnitte aufgeteilt. Im ersten geht es um die Ankunft der Mutter mit ihren beiden Kindern in Marl, wo der Vater eine Wohnung gemietet hat, und ihre Schwierigkeiten, beruflich Fuß zu fassen und mit der ständigen Geldnot zurechtzukommen. Tambrea schreibt über seine Verlustängste in dieser Zeit, die er als Junge lange nicht überwinden konnte. 

Béla und Rodica legen großen Wert auf die musikalische Erziehung ihrer Kinder. Der Geigenunterricht ist selbstverständlich, und es wird erwartet, dass Alina und Sabin bei Wettbewerben zu den Besten gehören. Als Rodica endlich eine feste Stelle in einem Orchester bekommt, bessert sich die Situation der Familie. Doch weil der Familienzusammenhalt auch über die Grenzen hinweg besteht, wird viel Geld dafür aufgebracht, die Verwandten in Rumänien zu unterstützen.

Im zweiten Teil des Romans kommt Tambreas Großvater Horea zu Wort, den er immer als freundlich lächelnden Mann wahrgenommen hatte. Nach dessen Tod werden in seinem Kleiderschrank seine Memoiren gefunden, in denen er ausführlich die Umstände seiner Verhaftung im April 1949 durch die Securitate wegen einer Nichtigkeit beschreibt. Er wird unter grausamen Umständen ohne Gerichtsurteil in mehreren Gefängnissen unschuldig festgehalten und erst nach fast drei Jahren freigelassen. Nach dieser Zeit gilt er als ehemaliger politischer Gefangener, was ihn für den Rest seines Lebens immer wieder benachteiligt.

Im dritten Abschnitt erklärt Tambrea, wie sich seine Eltern kennengelernt haben und es zu der Entscheidung, das Land zu verlassen, gekommen ist. Die schlechten Bedingungen, unter denen die Bevölkerung zu leiden hatte, sowie eine vom Regime geförderte Kultur der Denunziation machten das Leben in der Ceaușescu-Diktatur unerträglich.

Lesen?

Sabin Tambrea zeigt in Vaterländer den Bruch, den eine Flucht mit sich bringt. Er zeigt auch, dass starke Gründe dazu führen, dass man das, was einem lieb und teuer ist, verlässt: die Heimat, die Menschen, das gewohnte Umfeld. Die, die diesen Weg gehen, wissen nicht, ob sie ihre Familie jemals wiedersehen. Béla Tambrea hat damals viel Mut aufgebracht, diesen Schritt zu gehen. Und Großvater Horea hat die schwersten Jahre seines Lebens in den Fängen der Securitate nicht nur überlebt, sondern sich trotz allem sein freundliches und zugewandtes Wesen bewahrt.

Vaterländer ist 2024 im Gutkind Verlag erschienen und kostet gebunden 24 Euro sowie als E-Book 20,99 Euro.


Mittwoch, 4. Dezember 2024

#458 - Ein anderes Leben - aber wessen?

Die Schauspielerin Caroline Peters hat ihr erstes Buch geschrieben. Bislang war sie dem breiten Publikum als Teil des Ensembles am Wiener Burgtheater und in der Rolle der Kommissarin Sophie Haas in der Krimi-Serie "Mord mit Aussicht" bekannt.

Schon viele Schauspieler und Schauspielerinnen haben sich als Autoren versucht. Das gelang mal gut und mal weniger gut. In Ein anderes Leben entwirft Peters das Leben einer Patchwork-Familie, in deren Mittelpunkt die Mutter Hanna steht. Das ist zunächst ein bisschen kurios, weil die Handlung auf dem Friedhof beginnt: Peter, der Vater der Ich-Erzählerin und von allen "Bow" genannt, ist gestorben. Peter war Hannas dritter Ehemann, die ersten beiden waren seine besten Studienfreunde. Von jedem Ehemann hat Hanna, die schon seit etlichen Jahren nicht mehr lebt, eine Tochter: Laura von Klaus, Lotta von Roberto, die Erzählerin von Bow, von dem Hanna ebenfalls seit langem geschieden ist. Treffend lässt Caroline Peters ihre Erzählerin diesen Satz sagen:

Heute ist die Beerdigung meines Vaters, und für mich ist es die Auferstehung meiner Mutter. Ich kann es nicht anders sagen. So viele Jahre vor ihm ist sie gestorben.

Doch Hanna war nicht nur wegen dieser Familienkonstellation eine ungewöhnliche Mutter. Sie versuchte, trotz des Mutter-Seins Konventionen zu ignorieren. Das ist allerdings nicht so einfach: Die promovierte Germanistin und Slawistin mit einem ausgeprägten Faible für das Übersetzen von russischer Literatur musste sich um ihre Kinder kümmern. Ihr dritter Mann Bow war Architekt und hatte so viel zu tun, dass er am Alltag nur sporadisch teilnahm.
Hannas Kompromiss, ihre Leidenschaft und ihre Pflichten als Mutter halbwegs unter einen Hut zu bekommen, war ihre Arbeit in der Universitätsbibliothek.

Doch Hanna entsprach nicht dem traditionellen Mutterbild, das vorsieht, dass die Kinder immer an erster Stelle stehen und die Mutter ihre eigenen Bedürfnisse hintanstellt. Sie wie auch Papa Bow verhielten sich zumindest ihrer jüngsten Tochter gegenüber manchmal fast schon lieblos: Zu ihrer Einschulung reisten die Eltern in die USA, nach vierwöchigen Sommerferien bei der Oma holten sie das Kind nicht vom Bahnhof ab.

Caroline Peters wirbt jedoch auch um Verständnis um manche auf den ersten Blick seltsamen Verhaltensweisen von Mutter und Vater, weil sie oft auf Erfahrungen beruhten, die beide während des Zweiten Weltkriegs gemacht haben.

Ein anderes Leben zeigt jedoch auch, was die meisten von uns selbst schon festgestellt haben werden, wenn sie mit anderen über "früher" gesprochen haben: Die Erzählerin und ihre beiden deutlich älteren Schwestern tauschen sich noch während der Trauerfeier über Ereignisse und Erlebnisse mit Hanna und ihren jeweiligen Vätern aus - um festzustellen, dass es nicht die eine Erinnerung gibt, sondern jeder anders an vergangene Zeiten zurückdenkt.

Lesen?

Caroline Peters hat in Interviews mehrmals betont, dass in ihre Figur Hanna vieles von ihrer eigenen und schon lange verstorbenen Mutter eingeflossen ist, es sich aber nicht um sie handelt. Sie ist sich jedoch sicher, dass ihre Mutter oft gern so wie die Hanna im Roman ihrer Tochter gewesen und Ein anderes Leben gelebt hätte. Die Grenzen zwischen tatsächlicher Familiengeschichte und Fiktion verschwimmen in Peters' Geschichte. Aber ist das im Leben nicht ebenfalls oft so?

Mit Ein anderes Leben hat Caroline Peters bewiesen, dass sie nicht nur eine gute Schauspielerin ist, sondern auch schreiben kann.

Ein anderes Leben ist 2024 im Rowohlt Verlag erschienen und kostet als Hardcover 23 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.