Montag, 25. August 2025

# 486 - VW, China und eine Familiengeschichte

Wer kennt Wenpo Lee? Vermutlich nur wenige Menschen; und das, obwohl Herr Lee für den Volkswagen-Konzern buchstäblich der Türöffner für den Einstieg ins China-Geschäft war und eine beeindruckende Lebensgeschichte hat. Der Journalist Felix Lee hat sich mit seinem Buch China, mein Vater und ich der Lebensgeschichte seines Vaters gewidmet, die eng mit Deutschland und dem Volkswagen-Konzern verknüpft ist.

Wenpo Lee wurde 1936 in Nanjing, der damaligen Hauptstadt Chinas, geboren. Seit dem Sturz der Qing-Dynastie - und damit der Beendigung der 2.000-jährigen Herrschaft chinesischer Kaiser über China -  im Oktober 1911 und der Ausrufung der Republik drei Monate später befand sich das Land im Aufruhr. Die unruhige und instabile Situation mündete 1927 in den bis 1949 dauernden Chinesischen Bürgerkrieg, der mit dem Sieg der Kommunisten über die nationalistische Partei Kuomintang und der Gründung der Volksrepublik China endete. Am 1. Oktober 1949 proklamierte Mao Zedong die Chinesische Volksrepublik.

Das ist ein stark verkürzter geschichtlicher Abriss, der die Not, in der sich die Bevölkerung während dieser jahrzehntelangen Machtkämpfe befand, nicht annähernd beschreiben kann. Die Armut der Menschen war so groß, dass jeder um sein eigenes Überleben kämpfte. 

Die Familie Lee lebte vom Getreidehandel. Als die Soldaten der Kommunistischen Partei 1948 auf Nanjing zumarschierten, war Wenpo Lees Vater klar, dass sein Geschäft unter deren Herrschaft am Ende war. Wenpo floh als 12-Jähriger mit zwei Schwestern und einem Schwager nach Taiwan. Doch seine Hoffnung, seine Familie bald wiederzusehen, erfüllte sich fast dreißig Jahre lang nicht: Mao Zedong schirmte Festland-China völlig von der Außenwelt ab. Die geflüchteten Chinesen und Chinesinnen galten als Klassenfeinde, der Kontakt zu ihnen war verboten.

Wenpo arbeitete in Taiwan in einem Fahrradgeschäft und lernte dort die Grundlagen der Mechanik. Einer Fachhochschuldozentin fiel dort die besondere Begabung des Jungen auf. Sie nahm ihn bei sich auf und bezahlte seinen Schulbesuch. Danach besuchte Wenpo erfolgreich eine Fachhochschule und eine Militärhochschule, an der er Fahrzeugtechnik studierte. Sein nächster Schritt war wieder einem glücklichen Umstand zu verdanken: Einer der dortigen Professoren hatte in Deutschland Motorentechnik studiert und riet Wenpo, das ebenfalls zu tun. Der junge Mann folgte dem Rat 1962, studierte in Aachen Maschinenbau und promovierte. Er bewarb sich erfolgreich auf eine Stelle als Ingenieur bei Volkswagen in Wolfsburg, heiratete eine Chinesin und wurde nicht viel später zum ersten Mal Vater. 

1972, nachdem Mao Zedong zu einer Rückkehr zur Normalität aufgerufen hatte, wagte es Wenpo, seinem Vater einen Brief zu schreiben. Das war die erste Kontaktaufnahme mit der Familie auf Festland-China seit 24 Jahren. Es sollte noch weitere fünf Jahre dauern, bis Wenpo Lee seine Heimatstadt Nanjing wiedersah. Zwei Jahre zuvor war sein zweiter Sohn Felix geboren worden.

Lesen?

Felix Lee hat mit China, mein Vater und ich ein spannendes Buch geschrieben, in dem er anschaulich die Entwicklung Chinas von einem bitterarmen und unbedeutenden Land zu einem machtbewussten und wirtschaftlich stark prosperierenden Staat beschreibt, der einen großen Einfluss auf die Weltpolitik ausübt.

Und inwiefern war Wenpo Lee für VW ein Türöffner ins China-Geschäft? Das ist eine Anekdote, die Felix Lee gleich im ersten Kapitel beschreibt. 1978, als sein Vater dort eine Forschungsabteilung zur Entwicklung sparsamer Motoren leitete, standen einige Chinesen unangemeldet am Werkstor. Niemand wusste, was sie wollten. Einer von ihnen bezeichnete sich selbst als den chinesischen Maschinenbaumeister. Man bat ihn, den einzigen Chinesen im Werk, zu dolmetschen. Die Familie Lee war völlig in Deutschland integriert. Ihr Leben unterschied sich in nichts von dem deutscher Familien. Wenpo Lee hatte sich lange Zeit nicht mehr für die chinesische Politik interessiert und starke Zweifel, dass es sich bei der Gruppe am Werkstor tatsächlich um Chinesen handeln könnte. Für Deutsche sahen Asiaten schließlich alle gleich aus. Doch er sollte sich irren: Die Delegation wurde vom chinesischen Minister für Land- und Industriemaschinen angeführt und interessierte sich für Nutzfahrzeuge. Dieser Tag markiert den Grundstein für das Engagement von Volkswagen in China, das ohne Wenpo Lees Vermittlung so nicht oder erst später zustande gekommen wäre.

Wenpo Lee starb vor wenigen Wochen im Alter von 89 Jahren in Wiesbanden.

China, mein Vater und ich ist 2023 im Aufbau Verlag erschienen. Mir lag die Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung aus dem Jahr 2024 vor, die 5,-- Euro kostet.

Felix Lee gewann 2023 mit seinem Buch den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis.

Dienstag, 12. August 2025

# 485 - Tod, Liebe - Mallorca

Es fällt fast gar nicht auf, dass ich ein Fan von 
Mallorca bin. In meiner Bücherkiste habe ich bislang fünf Titel vorgestellt, die mit der Baleareninsel in Verbindung stehen (siehe unten). Klar, dass ich Das Teufelshorn von Anna Nicholas lesen musste. Nicholas ist Britin, lebt aber schon viele Jahre auf Mallorca.

Dort hat sie nun den ersten Band ihrer Cosy-Crime-Reihe um die ehemalige Polizistin Isabel Flores Montserrat angesiedelt. Isabel ist Anfang 30, Single, in ihrem fiktiven Heimatdorf Sant Martí beliebt und hat vor zwei Jahren den Polizeidienst in Palma gegen die Arbeit in der Vermittlungsagentur für Ferienwohnungen ihrer Mutter getauscht. Dort wird sie von Pep, dem Bruder ihrer besten Freundin, unterstützt. Seitdem Isabel sich um die Agentur kümmert, hat diese sich zu einem lukrativen Unternehmen entwickelt. Insgeheim trauert sie der Polizeiarbeit jedoch ein bisschen nach.

Doch dann passiert am Montag, dem 20. August um 14 Uhr etwas Schreckliches: Die achtjährige Britin Miranda Walters verschwindet unbemerkt am Strand von Pollença, als ihre Mutter einen kurzen Moment abgelenkt ist. Es gibt keine Anhaltspunkte, ob es sich um einen Unfall oder ein Verbrechen handeln könnte. Aber die Lokalpolitik ist sich einig: Der Fall muss so rasch wie möglich aufgeklärt werden, um schlechte Presse zu vermeiden. Isabels Ex-Chef in Palma, Hauptkommissar Tolo Calbot, bittet seine frühere Kollegin noch am selben Tag um ihre Hilfe.

Die Suche nach dem Kind sollte alle Alarmglocken schrillen lassen, aber wie so oft zieht ein Verbrechen ein weiteres nach sich. Mindestens. So ist es auch diesmal: Ein alter Mann, der gemeinsam mit seiner Haushälterin in seiner Finca lebt, wird grausam ermordet aufgefunden. Die ebenfalls betagte Angestellte wurde von den Tätern an einen Stuhl gefesselt. Beide stammen ursprünglich aus Kolumbien. Der Senior ist dem örtlichen Pater wegen seiner Frömmigkeit bekannt, auch die Haushälterin ist eine eifrige Kirchgängerin. Ansonsten lebten die beiden alten Leute sozial isoliert. Wer hatte einen Grund, diesen Mord zu verüben? Auch für diesen Fall wird Isabel von der Polizei um Unterstützung gebeten.

Und dann ist da noch das mysteriöse Kokain in einer Meereshöhle, das vermutlich von Drogenschmugglern dort versteckt wurde. 
Als ob das nicht reichen würde, kommt noch eine dem Okkultismus anhängende Bruderschaft hinzu, die vor langer Zeit vom Drogenbaron Pablo Escobar gegründet wurde. Hier kommt der Buchtitel ins Spiel: Das Geheimzeichen dieser Bruderschaft ist ein Teufelshorn gewesen.

Lesen?

Das Teufelshorn ist genau das Richtige für einen entspannten Sommertag auf Mallorca oder anderswo. Der Roman ist leichte Lektüre, die man genießen kann, wenn man die Dinge nicht so eng sieht. Ich finde allerdings, dass der Respekt vor den Leserinnen und Lesern beinhaltet, ihnen keine falschen Informationen anzubieten. Einige Beispiele, über die ich in diesem Buch gestolpert bin: 

Wer Mallorca kennt, weiß, dass Pollença keinen Strand hat, sondern man nach Port de Pollença fahren muss, um das Meer zu genießen. 
Nicholas beschreibt das Innere einer Höhle im Westen Mallorcas, in der Jahre zuvor die Knochen von Tausenden von Höhlenziegen gefunden worden waren. In diesem Zusammenhang spricht sie von einem "Elfenbeinberg", der ein Geschenk für Paläontologen war. Als Elfenbein werden die Stoßzähne von Elefanten oder Mammuts, manchmal auch die Eck- oder Stoßzähne einiger Säugetiere wie zum Beispiel Pott- oder Narwale bezeichnet. Kein Teil einer Ziege ist als Elfenbein bekannt.
Die toxikologische Untersuchung des ermordeten alten Mannes ergibt, dass er mit einer Substanz vergiftet wurde, "die als Burundanga bekannt ist. Das Pulver wird aus einem Nachtschattengewächs hergestellt, das in Kolumbien verbreitet ist. Wohlgemerkt, es wächst auch hier auf Mallorca." Doch diese Nachricht des Rechtsmediziners überrascht Isabel nicht: "Ich kenne Burundanga. [...] Enthält Scopolamin." Das geht knapp an den Tatsachen vorbei: Burundanga ist die in kriminellen Kreisen verwendete Bezeichnung für Scopolamin. Scopolamin ist Burundanga und nicht ein Teil davon. Für seine Herstellung kommen viele Nachtschattengewächse infrage und nicht nur eines. Einige davon (z. B. Engelstrompete, Stechapfel, Bilsenkraut) gibt es auf Mallorca, aber auch in den meisten anderen Teilen der Erde. 
Diese und weitere Ungenauigkeiten können als dramaturgische Kniffe bewertet werden, haben mich allerdings gestört. 

Irritierend ist auch Isabels Cleverness als Alleinstellungsmerkmal unter allen mit den Fällen befassten Personen. Sie lässt ihre früheren Kontakte spielen (hat ihr Ex-Chef keine?), hat immer den richtigen Riecher und ist einfach unverzichtbar. Man will nicht wissen, wie die mallorquinischen Polizeibehörden zurechtkommen, wenn sich Isabel eines Tages entschließt, sich nur noch um die Agentur zu kümmern. 

Die Handlung ist abseits des kriminellen Anteils in eine Atmosphäre voller Harmonie und Zuneigung eingebettet. Außer von den Bösen fällt keine hässliche Bemerkung, niemand ist ungeduldig. Die Beschreibung von Mallorcas Schönheit vervollständigt die Idylle. Zum Schluss warten noch ein Liebes-Cliffhanger und die Auflösung des Rätsels um das Verschwinden von Isabels Onkel auf die Leserinnen und Leser des zweiten Bands.

Das Teufelshorn ist 2025 im Diogenes Verlag erschienen und kostet 18 Euro sowie als E-Book 14,99 Euro.

Nachtrag
Wie oben angekündigt zeige ich euch, welche Bücher über Mallorca sich außerdem in meiner Bücherkiste tummeln:

Freitag, 8. August 2025

# 484 - Abschied: Ein Zeitzeugnis und eine unerfüllte Liebe

Der 1999 verstorbene Sebastian Haffner wurde als
Journalist und Autor von zeitgeschichtlichen Büchern wie Anmerkungen zu Hitler oder Von Bismarck zu Hitler bekannt. Auf Anraten seines Vaters stellte er seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, zurück, und studierte Jura. Erst jetzt, fast einhundert Jahre nach dessen Fertigstellung, erscheint Haffners Roman Abschied.
 

Haffner, der unter dem Namen Raimund Pretzel geboren wurde, schildert seine Liebe zu Teddy während seiner Zeit als Rechtsreferendar am Amtsgericht Rheinsberg. Mit Teddy ist Gertrude Joseph gemeint, die als Jüdin bereits 1930 angesichts des in Deutschland erstarkenden Nationalsozialismus' nach Paris emigrierte und dort studierte. Teddy umgab sich mit interessanten Personen und war für Haffner die Verkörperung von Lebenslust und Unabhängigkeit. Die beiden fühlten sich zueinander hingezogen, wurden aber nie das, was man als Liebespaar bezeichnen würde. Abschied spielt 1930 zwischen Rheinsberg und Berlin sowie 1931 in einer Pension in Paris, in die sich Haffner für seinen Besuch bei Teddy eingemietet hat. Dort wohnt die junge Frau ebenfalls, und der verliebte Referendar erlebt, wie seine Angebetete ihre Zeit verbringt - und mit wem. 

Haffners Beziehung mit Teddy ist ein Wechselspiel zwischen Anziehung und Abstoßung. Man spürt beim Lesen, wie sehr sein Herz an ihr hängt und ahnt früh die Melancholie des Abschieds, die sich auf dem Bahnsteig des Gare du Nord einstellt. Das letzte Gespräch der beiden bleibt im Ungefähren, es werden keine Zusagen oder gar Liebesschwüre ausgetauscht, die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft machen könnten.

Lesen?

Raimund Pretzel emigrierte 1938 nach Großbritannien, nachdem er im nationalsozialistischen Deutschland weder persönlich noch politisch eine Zukunft sah. Da er sich in Deutschland in einem liberalen Umfeld bewegte, befürchtete er Repressalien. In Großbritannien arbeitete er als Journalist und nahm den Namen Sebastian Haffner an, um insbesondere seine Eltern zu schützen. 

Haffner hat Abschied innerhalb weniger Wochen zwischen dem 18. Oktober und dem 23. November 1932 geschrieben. Sein Roman ist in einem gerade für die damalige Zeit gelösten und beschwingten Stil verfasst. Die Sprache macht jedoch deutlich, wie viel Zeit über das Buch hinweggegangen ist: Haffner verwendet häufig veraltet wirkende Begriffe oder Formulierungen, die heute in einem anderen Kontext stehen. So beschreibt er beispielsweise den Inhalt seines überquellenden Reisekoffers mit dem Satz: "In meinem Koffer ging es zu wie in einem Konzentrationslager oder in einem Flüchtlingszug." Das erste NS-Konzentrationslager (Dachau) gab es allerdings erst 1933. Der Begriff war jedoch seit dem 19. Jahrhundert in Zusammenhang mit den kubanischen Unabhängigkeitskriegen (1868-1898) und dem Burenkrieg (1899-1902) in der Welt.

Die Familie von Sebastian Haffner, insbesondere sein Sohn Oliver Pretzel, haben die Veröffentlichung von Abschied ermöglicht. Eine gute Entscheidung.

Abschied wurde 2025 im Carl Hanser Verlag veröffentlicht und kostet 24 Euro.