Dienstag, 20. Dezember 2022

# 376 - Culture-Clash: Ein Alman feiert selten allein

Kurz vor Weihnachten muss es ein Buch sein, das sich mit dem Fest der Liebe beschäftigt, in diesem Fall ein Hörbuch. In diesem Herbst kam das Debüt der Autorin Aylin Atmaca heraus: In Ein Alman feiert selten allein begleitet ihre Hauptfigur Elif zum ersten Mal ihren Freund Jonas zu dessen Eltern. Aber die beiden machen sich nicht nur auf den Weg, damit sich Elif ihren Schwiegereltern in spe vorstellen kann, sondern auch, um mit etlichen weiteren Verwandten von Jonas gemeinsam Heiligabend zu feiern. 

Elif kennt deutsche Bräuche nur in dem Maße, in dem man sie daran teilhaben ließ. Sie weiß, dass ein Weihnachtsbaum, gutes Essen und Geschenke üblich sind, alles andere ist ihr fremd. Ihre eigene Familie hat den Brauch, einen Baum aufzustellen, groß aufzutafeln und sich gegenseitig zu beschenken, übernommen. Wenn alle beisammen waren, ging es dabei immer laut und fröhlich zu. Dass Heiligabend und Weihnachten in deutschen Familien völlig anders begangen werden, kam ihr nie in den Sinn.

Nun ist sie also bei den Neubauers eingeladen und muss feststellen, dass sie sich alles ganz anders vorgestellt hat. Mutter Neubauer beginnt schon im September mit dem Verschicken der Weihnachtskarten und ruft für die Planung des Heiligen Abends eine WhatsApp-Gruppe ins Leben. Elif lernt, dass nichts dem Zufall überlassen und das Fest nach einem fein ausgearbeiteten Ablaufplan vorbereitet wird.

Und dann kommt der große Tag. Elif ist bemüht, bei der Familie einen möglichst guten Eindruck zu machen und allen denkbaren Fettnäpfchen auszuweichen. Aber schon nach wenigen Stunden merkt sie, dass sie nicht nur vom detaillierten Zeitkorsett, sondern auch von scheinbar harmlosen Bemerkungen, die sich auf ihren Migrationshintergrund beziehen, überfordert ist. Dass sie sich nicht wie sie selbst verhält und obendrein ihr Freund als "Sohn des Hauses" in Verhaltensmuster zurückfällt, die sie bislang nicht an ihm kannte, gibt ihr den Rest.

Die Situation eskaliert derart, dass die Beziehung der jungen Leute auf der Kippe zu stehen scheint. Doch Elif wird in einem ruhigen Moment auch bewusst, dass sie das, was sie Jonas ankreidet, ihren eigenen Eltern gegenüber ebenfalls praktiziert: Auch sie hat vor ihnen Geheimnisse und gaukelt bei Familientreffen vor, eine brave Tochter ohne Laster zu sein. "Wir sind für immer die Kinder unserer Eltern - ob wir wollen oder nicht", resümiert sie zum Schluss.

Lesen?

In Ein Alman feiert selten allein nimmt sich Aylin Atmaca sehr überspitzt die deutschen Bräuche rund um Heiligabend und Weihnachten sowie die Vorurteile, die Menschen mit ihrem persönlichen Hintergrund immer noch entgegenschlagen - immerhin 67 Jahre nach dem Abschluss des ersten Anwerbeabkommens mit Italien und 61 Jahre nach dem Abkommen mit der Türkei -, vor. Was die Hauptfigur Elif erlebt, ist ein Hardcore-Heiligabend, wie ich ihn von niemandem kenne und auch niemandem wünsche.

Elif hat mit ihrer Schöpferin viel gemeinsam: Beide wurden als Kinder von aus der Türkei stammenden Eltern in Deutschland geboren und sind zwischen zwei Kulturen aufgewachsen. Beide haben wegen ihrer nicht-deutschen Herkunft Verletzungen erfahren. Auch das klingt im Buch immer wieder an.

Der Roman hat viel Humor und einen lockeren Schreibstil. Sollte er jedoch der Versuch gewesen sein, den Deutschen mit ihren Feiertagsbräuchen den Spiegel vorzuhalten, ist das nicht gelungen, weil die Überzeichnung zu stark ausgefallen ist. Atmacas Kritik an Stereotypen, denen sie immer wieder ausgesetzt ist, kann ich hingegen gut nachvollziehen.

Ein Alman feiert selten allein ist 2022 bei Harper Collins erschienen und kostet als Taschenbuch 16 Euro, als E-Book 13,99 Euro sowie als Hörbuch (gelesen von Sandra Voss) 12,99 Euro.


Freitag, 16. Dezember 2022

# 375 - Eine Frau - ein besonderer Blick auf die verstorbene Mutter

Im April 1986 stirbt Annie Ernaux' Mutter im Alter von 80 Jahren in einem Altenheim in der Nähe von Paris. Zwei Jahre hat sie dort gelebt - dement und hilfsbedürftig.

Knapp zwei Wochen später schreibt Ernaux in Eine Frau auf, was das besondere Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter geprägt hat. Zehn Monate benötigt sie, um ihre Erinnerungen an ihre Kindheit und Jugend zu Papier zu bringen, aber auch, um über das oft angespannte Mutter-Tochter-Verhältnis zu schreiben, das die beiden Frauen verband.

Die Eltern stammten aus sozial einfachen Verhältnissen und wollten, dass es ihr Kind einmal besser hat als sie. Dass Bildung der Schlüssel zum sozialen Aufstieg ist, war insbesondere der Mutter klar. Damit das gelingt, sollte es bei einem Kind bleiben. Das erste Kind der Eltern stirbt 1938 an Diphtherie, 1940 wird Annie geboren. Obwohl das Geld knapp ist, ermöglichen die Eltern ihrer Tochter den Besuch guter Schulen. Das Kind Annie weiß genau, mit welchem Anliegen sie sich an den Vater oder die Mutter wenden muss: "Er ging mit mir auf den Jahrmarkt, in den Zirkus, in Filme mit Fernandel, er brachte mir Radfahren bei und welches Gemüse im Garten wuchs. Mit ihm hatte ich Spaß, mit ihr 'unterhielt ich mich'. Sie war die dominante Figur, das Gesetz."

Annie Ernaux beschreibt sehr genau und prägnant, wie sich das Verhältnis zwischen ihr und ihrer Mutter verändert, als die Tochter vom Kind zur Jugendlichen wird. Durch deren Unterstellung, die Tochter würde mit dem Erstbesten ins Bett gehen und sich schwängern lassen, erzeugt die Mutter ungewollt eine Distanz. Ernaux empfindet bei dem Gedanken an ihre Mutter in dieser Zeit eine so deutliche Mutlosigkeit, dass sie eine Parallele zieht zu "afrikanischen Müttern, die ihren Töchtern die Arme auf dem Rücken festhalten, während eine Beschneiderin ihnen die Klitoris entfernt".

Spätestens mit dem Beginn des Studiums wird spürbar, dass sich Ernaux und ihre Eltern in verschiedenen Welten bewegen und einander kaum noch etwas zu sagen haben. An der Uni lernt die junge Frau ihren späteren Ehemann kennen, der aus einem Elternhaus stammt, in dem Bildung etwas Selbstverständliches ist. Ihr wird der soziale Unterschied zwischen ihren Eltern und Schwiegereltern sowie insbesondere den beiden Müttern immer deutlicher.
Einige Zeit nach dem Tod des Vaters zieht die Mutter in das Haus ihrer Tochter ein, in dem diese mit ihrem Mann und den zwei Söhnen lebt. Es ist keine Überraschung, dass sich dabei Konflikte ergeben: Die Erwartungen von Mutter und Tochter an das gemeinsame Zusammenleben sind nur schwer in Einklang zu bringen. Nach wenigen Jahren zieht die Mutter zurück in ihre Heimatstadt Yvetot.

Dann stellt Ernaux fest, dass sich ihre Mutter verändert. Sie wird immer verwirrter, und nach einiger Zeit wird bei ihr die Alzheimer-Krankheit diagnostiziert. Ernaux holt die alte Frau zu sich, muss aber feststellen, dass sie mit deren Pflege auf Dauer überfordert ist. Es bleibt nur die Unterbringung in einem Pflegeheim.

Lesen?

Wer schon ein Elternteil verloren hat, kann sehr viel von dem nachempfinden, worüber Ernaux geschrieben hat. Das Verhältnis zu den Eltern - nicht nur zur Mutter - ändert sich im Laufe des Lebens. Dazu gehört auch, dass sich die Beziehungen oft umkehren, wenn die alten Eltern mit ihren Kräften am Ende sind oder eine Demenz beginnt, das Leben zu beherrschen: Während früher die Eltern (meistens) als Menschen erlebt wurden, die so schnell nichts umhaut, nehmen sie im Alter oft de facto die Rolle von Kindern ein, die von ihren eigenen Kindern Unterstützung erhoffen.

Annie Ernaux hat nicht nur diesen Rollenwechsel sehr genau beschrieben, sondern auch das wechselhafte Verhältnis zu ihrer Mutter, die durch von unterschiedlichen sozialen Status geprägten Leben und Konflikte der beiden Frauen sowie ihren eigenen  Trauerprozess, der mit der letzten Zeile des Buches nicht zu Ende war. Das alles in einer schnörkellosen Sprache, die die Leserschaft direkt anspricht.

Eine Frau wurde in der Originalfassung Une femme 1987 veröffentlicht. 1993 und 2007 wurden die deutschen Titel Das Leben einer Frau bzw. Gesichter einer Frau herausgebracht. 
Die aktuelle Übersetzung aus dem Jahr 2019 erschien im Suhrkamp Verlag. Die gebundene Ausgabe kostet 20 Euro, das E-Book 11,99 Euro und das Taschenbuch 12 Euro.

Annie Ernaux erhielt 2022 den Nobelpreis für Literatur.


Freitag, 9. Dezember 2022

# 374 - Kaputte Wörter - kann da noch etwas repariert werden?

In Matthias Heines Buch Kaputte Wörter? kreist alles um die Frage, ab wann ein Wort so "kaputt" ist, dass man es auf keinen Fall weiterhin verwenden darf. Doch woran kann man erkennen, ob ein Wort noch gebrauchsfähig ist?

Heine erläutert das anschaulich an 78 Begriffen von "Abtreibung" bis "Zwerg". Ihnen ist gemeinsam, dass ihre Benutzung durch einen Sprecher oft dazu führt, dass sein Gesprächspartner sich nicht über den gesagten Inhalt, sondern über die Verwendung des "kaputten" Wortes erregt. Die eigentliche Botschaft des Sprechers gerät dabei völlig in den Hintergrund.

Diskussionen um den richtigen Gebrauch der Sprache sind in Deutschland nichts Neues. Schon im 17. Jahrhundert wandten sich die deutsche Aristokratie und das Bildungsbürgertum gegen das Einsickern von französischen Begriffen und die Entstehung der sog. Alamodesprache.
Während des Ersten Weltkriegs tat sich mit dem Allgemeinen Deutschen Sprachverein eine Art Tugendwächter hervor, der die seiner Meinung nach falsche Verwendung von Begriffen wie z. B. Billett anstelle von Fahrkarte mit Vaterlandsverrat gleichsetzte.

Die Sprachdiskussionen, die heute geführt werden, haben allerdings einen anderen Hintergrund. Heute verschaffen sich gesellschaftliche Gruppen Gehör, die bislang ignoriert oder marginalisiert wurden und für sich die Art und Weise beanspruchen, wie man über sie spricht.
Hinzu kommt, dass durch die Veränderung der Medienlandschaft in den letzten zwanzig Jahren ein falsches und/oder unbedachtes Wort deutlich mehr Reichweite hat: Wer früher z. B. das N-Wort am Kneipentresen aussprach, löste nur ein Augenrollen aus. Heute haben Äußerungen durch die sozialen Medien ein Mehrfaches an Publikum - und führen schnell zu einem verbalen Flächenbrand.
Und dann ist da noch ein Phänomen, das Heine als German linguistic angst bezeichnet. Nach seiner Beobachtung haben speziell Deutsche eine große Angst vor falscher Sprache. Ein Indiz dafür sind die Begriffe Sprachkritik und Unwort. Sie gibt es in der Bedeutung, wie wir sie kennen, nur in der deutschen Sprache; ähnliche Begriffe wie z. B. language criticism bzw. non word treffen nicht den Kern der Sache.

Lesen?

Kaputte Wörter? bietet eine Fülle von Einsichten. Matthias Heine beleuchtet jedes einzelne Wort sehr genau, indem er nicht nur seinen Ursprung und Gebrauch erläutert, sondern auch die Gründe, die zu der Kritik an ihm geführt haben. Jedes Kapitel schließt mit einer persönlichen Einschätzung des Autors ab.

Viele der von Heine gewählten Wörter waren mir als "kaputt" bekannt. Neu war mir jedoch die Diskussion um beispielsweise "Altes Testament", "Schamlippen" oder "bester Freund". 
Matthias Heine bezieht zwar immer Stellung, betont aber, dass sein Buch ein Beitrag zur Sprachdiskussion sein soll, er aber niemandem seine Sichtweise aufzwingen will. Das ist ihm gelungen.

Kaputte Wörter? ist 2022 im Dudenverlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 22 Euro sowie als E-Book 15,99 Euro.

Sonntag, 4. Dezember 2022

# 373 - Meine Mutter sagt... Ach, wenn sie doch mal schweigen würde

Meine Mutter sagt ist das zweite Buch von Stine
Pilgaard, das hier in der Bücherkiste vorgestellt wird. Es ist jedoch das Debüt der dänischen Autorin, das übersetzt wurde, nachdem ihr zweiter Roman Meter pro Sekunde in Deutschland ein großer Erfolg war.

Die namenlose Ich-Erzählerin wird von ihrer Freundin verlassen, mit der sie dreieinhalb Jahre zusammengelebt hatte. Es bricht ihr das Herz, denn sie hatte sich so sehr gewünscht, dass diese Beziehung für immer halten würde. Man durchlebt mit der Erzählerin sämtliche verzweifelten und hoffnungsvollen Momente und fühlt, wie schwer es ihr fällt, mit der Situation zurechtzukommen. Doch das Buch ist keineswegs trübsinnig: Pilgaard hat ihre leidende Protagonistin mit einem trockenen Humor ausgestattet, der immer wieder für Lacher sorgt.

Die Verlassene kommt übergangsweise bei ihrem Vater unter, einem Pastor, der mit seiner zweiten Frau zusammenlebt. Man erfährt von der länger zurückliegenden Scheidung der Eltern und der unterschiedlichen Art und Weise, wie diese damit umgehen. Warum sich die Erzählerin entschieden hat, bei ihrem Vater einzuziehen, wird schnell klar: Im Gegensatz zu seiner Ex-Frau ist er ruhig und verständnisvoll. Die Mutter hingegen haut ihrer Tochter wie nebenbei ihre Kritik um die Ohren, obwohl diese in ihrer Situation Zuspruch und Trost gebrauchen könnte. Pilgaard schildert sie als egozentrisch und wenig empathisch. Kurz: anstrengend.

Zum Glück ist da die beste Freundin Mulle, die von der Erzählerin als ihre Spindoktorin bezeichnet wird. Sie ist bodenständig und praktisch und damit eine gute Stütze für die trauernde junge Frau.
Auch der Arzt, der in der Trauerphase ständig von der Erzählerin aufgesucht wird, erweist sich als guter und einfühlsamer Zuhörer. Er geht nicht nur auf die körperlichen Beschwerden, sondern auch auf den seelischen Zustand seiner Patientin ein. Ein Traum.

Eine Besonderheit des Romans sind die eingestreuten Seepferdchenmonologe. Sie spielen auf die Hirnregion Hippocampus an, die für das Abspeichern und Abrufen von Erinnerungen notwendig ist. Mit einer spielerischen Sprache gelingt es Pilgaard, zu zeigen, wie nahe der Erzählerin der Verlust der geliebten Freundin geht.

Lesen?

Stine Pilgaard ist mit Meine Mutter sagt ein Roman gelungen, der bei aller Verzweiflung zeigt, dass es nach einem tiefen Tal auch wieder aufwärts geht und sich die Beziehung zu einem (immer noch) geliebten Menschen neu gestalten lässt, nachdem man diesen losgelassen hat.

Meine Mutter sagt ist als deutsche Übersetzung 2022 im Kanon Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 22 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.

Stine Pilgaard erhielt für das Original Min mor siger 2012 den Bodil und Jørgen Munch-Christensen-Debütantenpreis (Bodil og Jørgen Munch-Christensens debutantpris).