Samstag, 27. Juli 2024

# 445 - Annie Ernaux und ihre Beziehung zu einem jungen Mann

Kurz bevor Annie Ernaux 2022 den Literatur-
Nobelpreis erhielt, veröffentlichte sie mit Le jeune homme eine Kurzgeschichte, die ein Jahr später unter dem Titel Der junge Mann auf Deutsch erschien.

Sie erzählt darin von einer Liebesbeziehung, die auch heute noch viele Menschen als skandalös empfinden würden: Mit Mitte 50 war Ernaux zwei Jahre mit einem fast 30 Jahre jüngeren Studenten liiert. Doch die Schriftstellerin empfand weder heute noch damals Scham wegen dieses Altersunterschiedes.

In ihrer gewohnt nüchternen und etwas distanzierten Art berichtet sie, welche Bedeutung diese Beziehung für sie hatte: Blickte sie den jungen Mann an, fühlte sie sich an ihre eigene Zeit als Studentin in Rouen erinnert. Wie er war sie Jahrzehnte zuvor ebenfalls an der dortigen Universität eingeschrieben gewesen, und wie er kam sie aus einfachen sozialen Verhältnissen. Doch während ihr Partner A., wie sie ihn im Buch nennt, sein Leben und seine Entwicklung noch vor sich hat, blickt Ernaux auf einen Berufsweg, ihre Ehe mit einem Mann aus dem Bildungsbürgertum und die Zeit mit ihren beiden Söhnen, die etwa so alt wie A. sind, zurück.

Die Beziehung findet nicht auf Augenhöhe statt. Ernaux erkennt im Alltagsverhalten ihres Freundes Hinweise auf seine soziale Herkunft wieder, die sie selbst ihr Leben lang abschütteln und überwinden wollte. Auch eine im Grunde banale Erkenntnis schiebt sich immer wieder zwischen sie: Ernaux' Erinnerungen reichen bis weit vor die Geburt von A. zurück, während der Großteil seiner künftigen Erinnerungen stattfinden wird, wenn sie nicht mehr lebt.

Der junge Mann hat ihretwegen seine 20-jährige Freundin verlassen und wünscht sich sogar ein gemeinsames Kind. Beides schmeichelt ihr, die Familiengründung mithilfe einer bei ihr eingepflanzten fremden Eizelle lehnt sie jedoch ab - sie hat schon Kinder, mehr möchte sie nicht.

Es beginnt ein Prozess, der aus der Sicht der Schriftstellerin unvermeidlich zu sein scheint. In dieser Phase beginnt sie ihre Arbeit an einem Buch, in dem es um ihre heimliche Abtreibung 30 Jahre zuvor gehen soll. Vom Wohnungsfenster des Freundes ist die mittlerweile leerstehende Klinik gut zu sehen, in die Ernaux wegen der danach auftretenden Komplikationen gegangen ist.

Lesen?

Die Entscheidung, Der junge Mann zu lesen, kann man sich leicht machen: Das Buch ist mit 48 Seiten (Verlagsangabe) zu Ende gelesen, kurz nachdem man es begonnen hat. Wie von ihr gewohnt, schreibt Annie Ernaux sehr offen und schont sich selbst nicht. Irritierend ist allerdings eine gewisse Egozentrik: Wie hat Ernaux den jungen Mann kennengelernt? Was hat ihn an ihr fasziniert? Wie schwer fiel ihm der Abschied von ihr? All das bleibt ungesagt und hinterlässt eine Leerstelle.

Der junge Mann ist in der deutschen Übersetzung von Sonja Finck 2023 im Suhrkamp Verlag erschienen. Das Buch kostet als gebundene Ausgabe 15 Euro, broschiert 10 Euro und als E-Book 9,99 Euro.

Montag, 22. Juli 2024

# 444 - Ein Krimi aus dem Herzen eines Ministeriums

Der österreichische Journalist Wolfgang Ainetter wurde
2018 Sprecher des damaligen Bundesverkehrsministers Andreas Scheuer und erhielt so Eindrücke, wie ein Ministerium "tickt". In seinem als 'Ministeriumskrimi' untertitelten Buch Geheimnisse, Lügen und andere Währungen gibt er rund drei Jahre nach seinem Ausscheiden Einblicke, wie es dort zugegangen ist. Oder doch nicht?

Mich hat das Buch interessiert, weil ich selbst einige Jahre in einem Ministerium gearbeitet habe, etwa drei Mal länger als Wolfgang Ainetter in "seinem". Ich kenne gewöhnungsbedürftige Mechanismen, habe Ministerinnen und Minister verschiedener Parteizugehörigkeiten kommen und gehen sehen, die Zahl der Staatssekretäre während dieser Zeit war noch größer. Nacheinander, versteht sich. Was ich nicht erlebt habe, waren Vorgänge, die sich für einen Ministeriumskrimi geeignet hätten.

Worum geht's?

Die Handlung dreht sich um einen hohen Beamten im Bundesverkehrsministerium, der so etwas wie die graue Eminenz des Hauses ist. Seit Jahrzehnten führt der direkte Zugang zum jeweiligen Minister nur über Ministerialdirektor Hans-Joachim Lörr. Sämtliche Vorgänge für den Minister gehen über seinen Schreibtisch, er terrorisiert alle nachgeordneten Beamtinnen und Beamten, senkt oder hebt den Daumen, wenn es um Beförderungen geht, ist extrem geizig, intrigant und korrupt. Wenn es einen Preis für den meistgehassten Kollegen gäbe, wäre Lörr ein kochend heißer Anwärter.

Lörr steht kurz vor seiner Pensionierung. Das hält ihn aber nicht davon ab, sich und seine Frau von Coronamasken-Fabrikanten zu einem Zehngang-Menü in ein Berliner Nobelrestaurant einladen zu lassen. Da erreicht ihn ein Anruf seiner Büroleiterin, die ihn dringend um ein vertrauliches Gespräch bittet. Lörr verlässt das Lokal, kehrt aber nicht zurück. Verschwand der Beamte aus freien Stücken oder wurde er entführt?

Der aus Österreich stammende und nun bei der Berliner Polizei arbeitende Polizeioberkommissar André Heidergott und seine Vorgesetzte Emily Schippmann werden von ihrem Chef beauftragt, sich die Sache näher anzusehen. Die Liste der Menschen, die sich Lörr zum Feind gemacht hat, ist endlos. Von einem schnellen Ermittlungserfolg kann keine Rede sein. Lörr ist wie vom Erdboden verschluckt.

Lesen?

Wolfgang Ainetter hat in Interviews immer wieder betont, dass es sich bei seinem Krimi um eine Persiflage der Ministeriumsgepflogenheiten handelt. Das möchte, nein: das will man glauben, wenn man liest, dass der besoffene Minister Felix Rohr einer Kellnerin an die Brüste fasst oder seinen Sprecher mitten in der Nacht anruft, weil er seine Öffentlichkeitswirksamkeit für zu schlecht hält. Hat das etwa auch Andreas Scheuer getan? Dagegen ist die Anekdote, dass der Minister bei einem Tag der offenen Tür alle Besucher - sogar einen Formel-1-Weltmeister - beim Bürostuhlrennen geschlagen hatte, zwar wenig ministrabel, aber immerhin ganz lustig. So ähnlich hat es diese Begebenheit tatsächlich gegeben: 2018 lieferte sich Scheuer ein Rennen auf E-Karts gegen Nico Rosberg. Hier gibt es noch Fotos von der Veranstaltung, auf einem (dem dritten) ist auch Wolfgang Ainetter in seiner damaligen Funktion als Scheuers Pressesprecher zu sehen.

Sicherheitshalber hat Ainetter seinem Krimi einen Hinweis vorangestellt: Diese Geschichte ist ebenso wahr wie die Lebensläufe von Abgeordneten. Die handelnden Personen existieren tatsächlich - in der Halluzination des Autors. Sofern man sich in den handelnden Figuren wiedererkenne: Medienanwalt Christian Scherz wird sich um Sie kümmern, leider nur gegen Honorar. 

Christian Scherz hat übrigens die Ex-Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner vertreten, als die sich 2023 von ihrem Mann scheiden ließ. Auch sie taucht als "Weinkönigin" mit einem ungewöhnlichen Verschleiß an Pressesprecherin in Ainetters Buch auf. Oder ist am Ende doch jemand anders gemeint?

Geheimnisse, Lügen und andere Währungen gehört in die Kategorie der Cosy-Krimis, Unterkategorie Soft-Cosy. Es stirbt niemand, keiner wird körperlich oder seelisch außergewöhnlich gequält, eine anschließende Psychotherapie wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung wird für keine der Figuren nötig sein. Der skizzierte Kriminalfall ist eher der Aufhänger für das Drumherum: Die Ermittlungen öffnen den Beamten Türen, die anderenfalls erzählerisch verschlossen geblieben wären.
Auf der letzten Seite habe ich mich gefragt, ob es das Pendant zum Beamten Lörr während Ainetters Ministerialzeit tatsächlich gegeben hat. Wenn ja, würde ich von dieser Person gern wissen, wie man eine ganze oberste Bundesbehörde derart dauerhaft in Schach hält und was die unter ihr Leidenden davon abgehalten hat, das Haus zu verlassen. Karriere macht man schließlich nicht nur im Bundesverkehrsministerium. 

Geheimnisse, Lügen und andere Währungen ist 2024 im Haymon Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 13,95 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro.

Sonntag, 14. Juli 2024

# 443 - Trophäenjagd

Hunter White ist ein schwerreicher US-Bürger, der sein Geld mit Börsenspekulationen verdient sowie verheiratet und kinderlos ist. Seit seiner Kindheit geht er seinem Lieblingshobby, der Jagd, nach. Sein erstes Tier erlegte er als Sechsjähriger, sein bester Lehrer war sein Großvater.

Seit Jahren liegt sein Jagdrevier in Afrika. Hunter hat die sogenannten "Big Five" - Afrikanischer Elefant, Nashorn, Kaffernbüffel, Leopard und Löwe - fast alle erlegt und die Trophäen seiner Frau nach Hause gebracht. Sie liebt die Trophäen, aber nicht das Jagen. Der Einstieg in Gaea Schoeters' Roman Trophäe kommt zu Beginn eher harmlos daher.

Nun will Hunter ein Spitzmaulnashorn erlegen. Die dafür nötige Lizenz hat er für einen sehr hohen Betrag über einen Umweg ersteigert, um seine Identität zu verschleiern und so Umweltschützern aus dem Weg zu gehen. Wie immer wird der Afrika-Trip von Hunters Freund van Heeren organisiert, der vor Ort über ausgezeichnete Kenntnisse und Kontakte verfügt. Mit dem für die Lizenz bezahlten Geld trägt Hunter zum Erhalt der Art bei. Doch kurz, bevor er zum Schuss kommt, wird die Jagd von Wilderern gestört, die das Tier brutal abschlachten.

Hunter ist nicht einfach nur wütend, weil ihm die Jagd verdorben wurde; in ihm staut sich ein hoher Adrenalin-Pegel an, der sich normalerweise mit dem Schuss entladen hätte, es nun aber nicht kann: 
"Hunter brüllt. [...] Es ist kein Schrei des Entsetzens oder des Mitleids, sondern der Urschrei eines Raubtiers, das um seine Beute gebracht wurde: tierische Raserei."

In dieser Gemütsverfassung macht ihm van Heeren ein Angebot: Ob Hunter schon mal von den Big Six gehört habe? Worum es sich bei der sechsten Beute handelt, schockiert den erfahrenen Jäger zunächst: Sein Freund spricht von der Jagd auf einen Menschen. Genauer: auf einen jungen Mann, der zu einem Stamm gehört, der einst von den Kolonialherren vertrieben wurde, und den man nun 're-integriert' hat. Hunter müsste eine enorm hohe Gebühr bezahlen, die dem Stamm zugute käme: Mit dem Geld wäre es möglich, einen anderen, begabteren jungen Mann zur Ausbildung in die USA zu schicken und von seinem Wissen zu profitieren, wenn er danach (hoffentlich) zurückkehrt. Der Getötete jedoch würde auf eine Weise überleben wie die Tiere, die Hunter White bereits geschossen hat: als Trophäe, die in die USA reist.

Hunter ringt mit sich und diesen Regeln, die die Einheimischen jedoch offenbar normal finden: Das Wohl der Gemeinschaft steht über dem des Einzelnen. Diese Mechanismen waren ihm bislang neu, denn: "Für ihn ist Afrika ein großes Naturreservat, von Gott geschaffen, um ihm Freude zu bereiten; dass dort auch Menschen leben, richtig leben, hat er nie bewusst realisiert. [...] Afrika ist sein Vergnügungspark, sein Jagdgebiet. Mehr nicht."

Der Roman nimmt ab dem Moment Fahrt auf, in dem Hunter van Heerens Angebot annimmt. Aber die Jagd auf den jungen Mann, bei der er ausgerechnet von dessen bestem Freund begleitet wird, der ihm als Fährtenleser zur Seite stehen soll, nimmt einen ganz anderen Verlauf, als es sich Hunter vorgestellt hat. Er wird unmittelbar mit der Wildheit der Natur konfrontiert und zweifelt immer wieder an seiner Wahrnehmung. Spätestens hier wird Trophäe zum Pageturner.

Lesen?

Gaea Schoeters bettet den Konflikt, der durch die Rahmenbedingungen der Großwildjagd entsteht, sehr gekonnt in ihre Geschichte ein: ein Lebewesen muss durch die Jagd getötet werden, damit seine Art mithilfe der Lizenzeinnahmen erhalten werden kann. Dieses Prinzip auf den Menschen zu übertragen, ist im Zusammenhang mit der Romanhandlung brutal, aber konsequent: ein Leben für ein anderes, damit die Stammesgemeinschaft überleben kann. 

Gleichzeitig hält die Autorin ihren Leserinnen und Lesern den Spiegel vor: Afrika als homogenen Kontinent zu betrachten, in dem alle Menschen auf irgendeine Weise gleich arm und unterentwickelt sind und das Land überall vertrocknet ist, ist eine typische Sichtweise der früheren Kolonialherren, die sich bis in unsere Zeit gehalten hat. Dass die Fläche Afrikas etwa drei Mal und die Einwohnerzahl fast doppelt so groß sind wie die Europas, ist hier wahrscheinlich kaum jemandem bewusst. Alles wird in einen Topf geworfen: Zwischen Ägypten (größte afrikanische Volkswirtschaft) und Burundi (ärmstes Land des Kontinents) wird aus unserer Warte kaum ein Unterschied gemacht. Damit sind wir hinsichtlich unseres Wissensstandes auf einer Stufe mit Hunter White. 

Trophäe ist 2024 in der deutschen Übersetzung von Lisa Mensing im Paul Zsolnay Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 24 Euro sowie als E-Book 17,99 Euro.

Freitag, 5. Juli 2024

# 442 - Verkaufte Zukunft

Wenn es um die Klimakrise geht, liest man eine Menge
Meinungsäußerungen. Nicht alle sind von Kenntnis geprägt, sondern eher von so etwas wie Bauchgefühl oder Partikularinteressen - das passende Stichwort ist hier 'Lobbyismus'.

Das Buch Verkaufte Zukunft des Soziologen und Direktors des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsordnung Jens Beckert ist eine Ausnahme. Der Wissenschaftler zieht hier alle argumentatorischen Register, wenn er der Gesellschaft den Spiegel vorhält. Mit dem Untertitel Warum der Kampf gegen den Klimawandel zu scheitern droht wird klar, in welche Richtung die Reise in die Zukunft geht. Beckert verfällt jedoch nicht in ein Wehklagen, sondern präsentiert Fakten. In neun Kapiteln sucht er Antworten auf seine zentrale Frage: Warum sind Gesellschaften nicht in der Lage, dem Klimawandel Einhalt zu gebieten?

Das Buch vermittelt ein Verständnis von Mechanismen, die in unserem Gesellschaftssystem dafür verantwortlich sind, dass sinnvolle Maßnahmen zur Erreichung der Klimaziele nur schleppend oder gar nicht umgesetzt werden. Dabei sollte man doch meinen, dass die Sachlage für die meisten Menschen klar ist: Die Ursachen für die Klimakrise sind bekannt, die Möglichkeiten, sie aufzuhalten, auch. Aber trotz ambitionierter Klimakonferenzen und selbst gesteckter Ziele, die Emissionen von klimaschädlichen Treibhausgasen drastisch abzumildern, werden diese Ziele nicht erreicht und für andere Dinge geopfert: für die nächsten Wahlen oder die anstehenden Unternehmensbilanzen. So verstreicht wertvolle Zeit, die Zukunft wird regelrecht verkauft - unsere, die unserer Kinder und Enkelkinder sowie aller weiteren Generationen.

Das Problem ist die Struktur unserer Gesellschaftsordnung: Die Politik braucht rasche Erfolge, anderenfalls werden ihre Repräsentanten nicht wiedergewählt; der Erfolg von Unternehmen wird an ökonomischen Kennzahlen gemessen, allen voran am Gewinn. Maßnahmen, die gut für den Klimaschutz wären, haben jedoch einen großen Nachteil: Sie wirken langfristig. Erfolge sind erst Jahre oder Jahrzehnte später zu erkennen. Bis dahin sind die Politiker und Unternehmenschefs von heute nicht mehr aktiv, vielleicht leben sie sogar nicht mehr. Die Folgen dieser Missachtung von sinnvollen Maßnahmen werden sowohl von ihnen als auch den Bürgern "übersehen" oder klein geredet. Schon auf den ersten Seiten schreibt Beckert: "Meine diesbezügliche These lautet schlicht: Die Macht- und Anreizstrukturen der kapitalistischen Moderne und ihre Steuerungsmechanismen blockieren eine Lösung des globalen Problems namens Klimawandel." Und: "Der kurzfristige Gewinn aus der Vermeidung von Klimakosten übersteigt den gegenwärtigen Nutzen zukünftiger Klimasicherheit."

Derzeit wird aber eher aufgeschoben als aktiv gehandelt: Die Rettung der Erde wird an die nächsten Regierungen oder Firmenlenker delegiert. Doch auch die Bürgerinnen und Bürger sind kaum besser: Die Mehrheit bejaht zwar, dass die Klimakrise unsere Welt bedroht, sobald jedoch Klimaschutzmaßnahmen zu Preissteigerungen führen oder die eigene Bequemlichkeit leidet, regen sich Widerstand und Ablehnung. Schon Appelle, sich im Alltag klimabewusster zu verhalten, werden als Einschränkung der persönlichen Freiheit wahrgenommen. Das ähnelt dem sog. Sankt-Florian-Prinzip: "Heiliger Sankt Florian / verschon mein Haus, zünd and're an."

Lesen?

Jens Beckert zeigt nicht nur mit dem Finger auf die Probleme, sondern skizziert auch, wie Lösungen aussehen können. Eins steht fest: Es ist kompliziert. Es sollte in den Industrienationen darum gehen, einen grünen Kapitalismus zu schaffen - schon deshalb, weil sich der Kapitalismus als Gesellschaftssystem nicht abschaffen lässt. Das Vermeiden von Emissionen muss für Unternehmen zu einem wirtschaftlichen Erfolg führen - wie wir bereits gelernt haben, ist der derzeit praktizierte Handel mit Emissionszertifikaten dafür nicht geeignet.

Der Autor verschweigt nicht das Dilemma, in dem sich der globale Klimaschutz befindet: Arme Länder, die bislang nur einen geringen Anteil an der Klimakrise haben, müssen, wenn sie z. B. auf fossile Rohstoffvorkommen stoßen und diese ausbeuten wollen, fair behandelt werden. Beckert führt beispielhaft die Demokratische Republik Kongo an, die für die Ölförderung Regenwald abholzen und so einen wirtschaftlichen Aufschwung erleben will. Ausgerechnet das Land mit den weltweit zweithöchsten Treibhausgas-Emissionen, die USA, verlangt, keine Förderlizenzen zu vergeben. Beckert resümiert: "Die Ungleichheiten der globalen Arbeitsteilung führen zu einer unfassbaren Verlogenheit in der Klimadebatte, bei der die Länder des globalen Südens für den Raubbau  an ihrer Natur verantwortlich gemacht werden, obwohl der Nutzen davon zu großen Teilen dem globalen Norden zugutekommt, der zudem den Raubbau mit seiner Technologie und seinem Finanzkapital erst ermöglicht."

Verkaufte Zukunft enthält viele Fakten und Argumente, die immer wieder in öffentlichen Diskussionen genannt werden. Doch Beckerts "Rundumschlag" ermöglicht ein umfassendes Bild über den aktuellen Stand des schwach ausgeprägten Eifers, die Klimakrise abzumildern. Davon, dass sie gestoppt werden könnte, geht er nicht aus. Eine Erwärmung der Erde um 2° C hält er für das wahrscheinlichste Szenario.

Das Buch ist auch für Laien sehr gut verständlich, die Argumente sind gut nachvollziehbar. Wahrscheinlich auch deshalb wurde der Titel für den Deutschen Sachbuchpreis und den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Verkaufte Zukunft ist 2024 im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 28 Euro sowie als E-Book 23,99 Euro,