Sonntag, 29. September 2024

# 454 - Verschickungskinder in Kinderkuren - Urlaub mit Schrecken ohne Ende oder pure Erholung?

Lena Gilhaus beschäftigt sich in ihrem Buch Verschickungskinder mit einem Thema, das jahrzehntelag totgeschwiegen wurde. Als die Radio- und Fernsehautorin erfährt, dass ihr damals neunjähriger Vater und dessen sechsjährige Schwester 1967 zu den Kindern gehörten, die ohne die Begleitung ihrer Eltern für sechs Wochen zur Erholung in ein Kinderkurheim geschickt wurden, forscht sie nach.

2022 sitzen Gilhaus, ihr Vater und ihre Tante im Zug von Dortmund nach Sylt, um den Erinnerungen der Geschwister nachzuspüren. Erinnerungen, über die sie lange geschwiegen und die sie größtenteils verdrängt hatten. Das, was sie erzählen, deckt sich mit den Erlebnissen und Erfahrungen zahlreicher Verschickungskinder, die in der BRD und der DDR  zwischen 1945 und bis in die 1990-er Jahre in eines der vielen Heime fuhren. Viele dieser Einrichtungen lagen abseits von Ortschaften und hatten zu wenig oder kaum für diese Aufgabe ausgebildetes Personal. Kontrollen gab es so gut wie nie, vereinzelte Todesfälle wurden verschleiert. Das waren ideale Bedingungen für Übergriffe des Personals: zwangsweises Aufessen (einschließlich des Erbrochenen), erzwungener "Mittagsschlaf", Einsperren in dunkle Kammern als eine von vielen Bestrafungen sowie sexuelle Annäherungen oder Quälereien war in zahlreichen Kurheimen Alltag. Viele Maßnahmen erinnern an pädagogische Dogmen des Nationalsozialismus': Wannenbäder in eiskaltem Wasser sollen die Kinder abhärten, und unwillkürlich fühlt man sich an Hitlers vielzitierten Ausspruch erinnert, wonach die Jugend "hart wie Kruppstahl" sein sollte.  

Es hat schätzungsweise bis zu 15 Millionen Kurverschickungen gegeben. Die genauen Zahlen sind unbekannt, weil sich viele Wohltätigkeitsinstitutionen und kirchliche Einrichtungen beteiligten und diese bis heute kein gesteigertes Interesse an einer Aufklärung über die Zustände in den Heimen haben. Man fühlt sich an das Verhalten der beiden christlichen Kirchen im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Kindern erinnert: Nur der dauerhafte Druck hat sie dazu gebracht, sich (teils widerwillig) an der Aufklärung der Taten ihrer Amtsträger zu beteiligen.

Die Gründe für die Entsendung der Kinder waren unterschiedlich: Bei den meisten spielten Atemwegs- oder Hauterkrankungen, zu wenig oder zu viel Körpergewicht oder eine allgemein schlechte Konstitution eine Rolle. Etliche Kinder sollten aber eine Weile aus ihrem familiären Umfeld herausgenommen werden, um sich an der See oder in den Bergen von prekären Lebensverhältnissen zu erholen und die Eltern zu entlasten.

Lena Gilhaus beschreibt nicht nur, woran sich ihr Vater und seine Schwester erinnern können, sondern nimmt auch Kontakt zu anderen Verschickungskindern auf. Viele sind nachhaltig traumatisiert, was sich auf ihr Leben als Erwachsene auswirkt. Andere wollen sich an die Zeit, die manche mehrmals durchlebt haben, heute nicht mehr erinnern. Viele haben die traumatischen Erfahrungen jahrzehntelang verdrängt.

Doch wie stehen die Träger der Kinderkuren heute zu den Vorwürfen, mit denen sie seit einigen Jahren konfrontiert werden? Gilhaus nimmt mit einigen von ihnen Kontakt auf und stößt auf eine Mauer des Schweigens und Verharmlosens. Doch sie gibt nicht auf, und tatsächlich findet sie konkrete Vorwürfe bei Vor-Ort-Recherchen bestätigt. 

Lesen?

Verschickungskinder gehört zu den wenigen Sachbüchern, die sich mit den Bedingungen in den Kinder-Kurkliniken beschäftigen. Lena Gilhaus hat auch mit Menschen gesprochen, die ihre Kinderkur in guter Erinnerung haben, das sind jedoch Ausnahmen. Die überwältigende Mehrheit hat belastende Erinnerungen an diese Zeit, die ihnen eigentlich guttun sollte.

Gilhaus' Buch liefert einen wertvollen Beitrag zur Aufdeckung dieser Missstände, die zu lange verdrängt wurden. Dieses Thema muss medial am Leben erhalten werden, damit früher oder später alle Fakten offengelegt werden können.

Verschickungskinder ist 2023 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet gebunden 24 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

Freitag, 20. September 2024

# 453 - Alte Eltern: Wenn die Demenz alles ändert

Mit seinem Buch Alte Eltern hat sich Volker Kitz mit
dem Abschiednehmen von einem alten Elternteil beschäftigt. In seinem Fall ist das der Vater.

Kitz ist Jurist und Schriftsteller und hat bereits mehrere Sachbücher veröffentlicht, einige davon mit juristischen Themen. Alte Eltern, als literarisches Essay angelegt, dürfte sein persönlichstes sein.

Anlass, sich dem Thema anzunehmen, waren die Erfahrungen, die Kitz mit seinem betagten Vater gemacht hat. Es ist das passiert, was viele Menschen mit ihren Eltern so oder so ähnlich bereits erlebt haben oder noch erleben werden: Der Vater wohnte nach dem Unfalltod der Mutter lange allein im Familienhaus, die beiden Söhne lebten einige Autostunden entfernt und besuchten ihn regelmäßig. 

Doch dann nähert sich der Zeitpunkt, der zu tiefgreifenden Veränderungen führt. In der Anfangsphase der Pandemie wird 2020 ein demenzielles Syndrom diagnostiziert, der Vater bekommt Medikamente, die den Verlauf der Erkrankung für einen begrenzten Zeitraum abbremsen. Die Isolation während dieser Zeit verstärkt seine Demenz. Doch der Vater will und soll weiterhin in seinem Haus leben. Die Dosierung und Sortierung der Medikamente wird nun zweimal pro Tag von einem ambulanten Pflegedienst übernommen.

Im Sommer 2021 lassen sich Vater und Sohn gegen Covid-19 impfen, danach scheint sich die Situation für den Vater durch die neu gewonnene Freiheit zu normalisieren. Doch nicht viel später kommt Volker Kitz zu der Erkenntnis, sich etwas vorgemacht und Tatsachen verdrängt zu haben. Diese Erkenntnis entwickelt sich nach und nach und löst die vorangegangene Vorstellung ab, der Vater könnte bis zu seinem Tod allein in seinem Haus bleiben.

In der folgenden Zeit versucht Volker Kitz mit verschiedenen Mitteln, seinen Vater zu unterstützen. Doch seine Bemühungen wirken wie das Rennen im Märchen von "Der Hase und der Igel": Kaum scheint eine Strategie erfolgreich zu sein, führt ein neuer Demenzschub dazu, dass sie es nicht mehr ist. Ende 2021 zieht der Vater in ein Berliner Pflegeheim, ganz in der Nähe seines Sohnes, aber 700 Kilometer entfernt von dem Ort, an dem sein bisheriges Leben stattgefunden hat.

Volker Kitz geht sehr genau auf seine Gedanken, Zweifel und Selbstvorwürfe als sich kümmernder Angehöriger ein, die diesem Schritt vorausgehen - und auch nicht weniger werden, als sein Vater schon eine Weile in der Einrichtung wohnt. Wie ein roter Faden werden die Überlegungen von wiederkehrenden Fragen durchzogen: Wann hat die Demenz des Vaters begonnen? Kümmere ich mich genug um den Vater? Kann man sich auch zu viel kümmern? Und: Sind die gelegentlichen eigenen geistigen Aussetzer schon Hinweise auf eine beginnende Demenz oder harmlos? Ein starker Antrieb, möglichst viel über Demenz wissen zu wollen, ist der (vergebliche) Wunsch, die Erkrankung des Vaters aufzuhalten.

Klar ist, dass den ersten Anzeichen der Demenz des Vaters mehr Aufmerksamkeit hätte gewidmet werden müssen. Verharmlosung und Verdrängung waren nicht hilfreich. Dazu kommt die Erkenntnis, dass Demenz mehr ist als nur zu vergessen; Demenz bedeutet auch, Fähigkeiten zu verlieren, die für die Bewältigung des Alltags unerlässlich sind: Wer zum Beispiel wie Kitz' Vater nicht mehr weiß, wie man die Haustür bedient, lebt im eigenen Zuhause als Gefangener. 

Volker Kitz beschäftigt sich jedoch nicht nur mit der fortschreitenden Demenz des Vaters, sondern hinterfragt auch seine eigene Beziehung zu ihm. Da sein Vater durch seine zugewandte Art dazu beigetragen hat, dass sein Sohn eine schöne Kindheit hatte, fühlt sich der Sohn umso mehr verpflichtet, dem Vater in dessen letzter Lebensphase beizustehen. Die Verantwortung für den alten Mann zu übernehmen, war für Kitz kein Problem. Aber er nimmt wahr, dass sich die Vater-Sohn-Beziehung verändert, was auch daran liegt, dass der Vater den Sohn immer öfter nicht als solchen erkennt, sondern der ihm nur vertraut vorkommt. 

Kitz wird klar: Man erinnert sich daran, wann Ereignisse zum ersten Mal stattfanden, aber nicht mehr, wann es sie zum letzten Mal gegeben hat: miteinander telefonieren, die Nächsten erkennen, die Umarmung - erst im Nachhinein fällt auf, dass da wieder etwas weggefallen ist. Hinzu kommt die Belastung, die durch die fortschreitende Verschlechterung entsteht: Die Angehörigen stehen der Situation hilflos gegenüber, oft erschweren Wesensveränderungen der Patienten das Miteinander. Je mehr die Zeit voranschreitet, desto geringer werden die Möglichkeiten, etwas gemeinsam mit den Erkrankten zu unternehmen - und sei es nur ein Spaziergang durch den Park in der Nachbarschaft. "Die Pläne wurden kleiner und kleiner", schreibt Kitz treffend. 

Lesen?

Volker Kitz wurde 1975 geboren, sein Vater starb im Januar 2023 kurz vor seinem 80. Geburtstag. "Ich bin nicht allein", schreibt der Autor auf den ersten Seiten seines Buches. "Die Sorge um die Eltern erfasst meine Generation. Wir sind die Generation X, zurzeit die größte in Deutschland, wir sind fast siebzehn Millionen." Aus eigener Anschauung kann ich sagen, dass sich bereits die Vorgänger-Generation der Boomer stark mit der Frage beschäftigen muss (oder musste) und das Thema von der nachfolgenden Generation Y (Geburtsjahrgänge 1981 bis 1996) nicht mehr so weit weg ist. Zu den oben genannten siebzehn Millionen kommen so 12,5 Millionen bzw. rd. 16,45 Millionen Menschen hinzu. Das sind etwa 46 Millionen Menschen, und die Mehrheit von ihnen muss sich mit genau denselben Fragen wie Volker Kitz befassen.

Schon das ist ein starker Grund, dieses Buch zu lesen: zu erfahren, womit man rechnen sollte, wenn die eigenen Eltern alt werden. Kitz schreibt das Erlebte in klaren und ungeschönten Worten, aber mit jeder Menge Empathie. Wer schon mit einer Form von Demenz konfrontiert wurde, hat den Eindruck, in Alte Eltern von den eigenen Erfahrungen zu lesen.

Ich lese, dass Kitz' Vater vom Heimpersonal nicht zu einer heiminternen Veranstaltung abgeholt worden ist, weil es so lange dauert, ihn vorzubereiten. "Mein Vater soll dabei sein, dazugehören. [...] Es macht mich wütend, wenn andere zu schnell aufgeben. Es schmerzt mich, wenn er ausgeschlossen ist, aus der Welt gefallen, weil seine Fähigkeiten schwinden." Kitz schreibt das in dem Wissen, dass Anregungen für Demenzkranke wichtig sind. Ich weiß, dass solche Situationen häufig vorkommen; sie sind schlimm für die Heimbewohnerinnen und -bewohner, ihre Ursache liegt aber in der Regel an der Personalknappheit durch den Fachkräftemangel, das Personal ist in der Regel nicht daran schuld.

Auch, wenn man als Sohn oder Tochter seine Eltern nicht zu sich nimmt, um sich um sie zu kümmern, nimmt die Sorge um ihr Wohlergehen viel Raum ein. Ein Besuch im Pflegeheim dient nicht nur dazu, mit den Eltern Zeit zu verbringen, sondern auch zur Überprüfung, ob es ihnen dort gut geht und man sich angemessen um sie kümmert. Zu Hause werden für die Eltern Telefonate geführt, E-Mails oder Briefe geschrieben, Antragsformulare ausgefüllt, Rechnungen bezahlt - und man macht sich weiter Gedanken darüber, wie ihre Situation verbessert werden könnte. Ich finde mich in einem Satz von Volker Kitz wieder: "Überall sprach ich vom Vater. Traf ich Freunde, redete ich so viel von ihm, dass es mir unangenehm war." Rückblickend frage ich mich, ob mein Freundeskreis womöglich innerlich gestöhnt und gedacht hat: 'nicht schon wieder...'.

Und dann ist da noch ein weiterer Satz, der sehr gut das Ausmaß der Hilflosigkeit beschreibt, die Kitz empfunden hat und die sicher zahllose erwachsene 'Kinder' nachempfinden können: "Es ist der Vergleich zum Vorher, der Dinge unerträglich macht."
Den Kopf in den Sand zu stecken ist hier allerdings keine Option.

Alte Eltern ist 2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 23 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

Hinweis: Ich habe hier bereits 2015 das Buch Demenz von Tilman Jens vorgestellt. Es handelt von der Demenzerkrankung des bekannten Schriftstellers und Altphilologen Tilman Jens, der 2013 verstorben ist, und bietet ebenfalls viele Denkanstöße.





Samstag, 14. September 2024

# 452 - Gelungener Mix aus Krimi und Rassismuskritik

Clay Robinette ist ein ehemaliger Journalist, der sich vor Jahren seinen Ruf als seriöser Reporter mit einigen handwerklichen "Unzulänglichkeiten" versaut hat. Doch er hat Glück: Durch günstige Umstände wird er 1989 Professor an der Arden University in Ohio, ausgerechnet im Fach Journalistik mit dem Schwerpunkt Creative Non-Fiction. Die Stelle ist zwar nicht sein Traum, aber er ist schwarz, verheiratet und hat zwei kleine Töchter. Der Uni-Job bietet ihm finanzielle Sicherheit. Das Leben der Robinettes könnte weiter vor sich hin plätschern, aber das ist in Jake Lamars Krimi Das schwarze Chamäleon selbstverständlich nicht vorgesehen.

Nur wenige Jahre später wird Reginald "Reggie" Brogus ebenfalls Professor in Arden. Reggie, die Ikone der Black Panther-Bewegung der 1960-er Jahre, dessen sogenanntes 'Manifest' Clay mit Hochachtung und Bewunderung gelesen hat. Reggie war damals fast so bedeutend wie Martin Luther King. Doch mit dem einst charismatischen Kämpfer ist etwas geschehen. Jahrelang war er von der Bildfläche verschwunden. Dann tauchte er wieder auf: ein feister Mann mit neoliberalen Ansichten, die denen von damals genau entgegengesetzt sind. Clay ist irritiert, blendet Brogus' Meinungsumschwung jedoch aus. Für ihn hat der Mann noch etwas vom damaligen Glanz eines Helden.

Februar 1992: Mitten in der Nacht klingelt Clays Telefon. Der völlig aufgelöste Brogus fleht ihn an, mit ihm in sein Büro in der Uni zu kommen. Was Clay dort sieht, schockiert ihn auf mehreren Ebenen: Auf Brogus' Bürosofa liegt eine nackte tote Frau. Um ihren Hals schlingen sich die auffällige Hosenträger des übergewichtigen Professors, mit denen sie augenscheinlich erwürgt wurde. Auf den zweiten Blick erfasst Clay, um wen es sich handelt: Jennifer Wolfshiem ist Studentin an der Uni von Arden und Clay hatte bis vor Kurzem mit ihr eine Affäre. 

Aber Brogus hat ganz eigene Sorgen: Da sich die Leiche in seinem Büro befindet, ist die Wahrscheinlichkeit, wegen Mordes verurteilt zu werden, hoch. Er faselt etwas vom FBI, das ihn verfolgt, und will nur noch eins: möglichst weit weg, und Clay soll ihm dabei helfen. Dem behagt seine Rolle als Fluchthelfer eines Mannes, der vielleicht ein Mörder ist, nicht. Doch Brogus beteuert seine Unschuld. Kann Clay ihm glauben?

Clay bringt seinen Kollegen in die Nähe des Flughafens und hofft, dabei nicht beobachtet zu werden. Ihm ist klar, dass er zu einem der Hauptverdächtigen wird, wenn die Beziehung zu Jennifer publik wird. Ein schwarzer Professor und eine weiße Studentin, die möglicherweise von ihm getötet wurde: Clay sieht bereits vor sich, wie sein bisheriges geordnetes Leben zu Staub zerfällt. Er ist wegen des gewaltsamen Todes der jungen Studentin schockiert, denkt jedoch darüber nach, wer als Täter oder Täterin infrage kommen könnte: der militante schwarze Student, der Jennifer gestalkt hat? Die exzentrische Professorin am Afrikamerika-Institut? Clays Ehefrau Penelope, die - wie auch immer - von der Affäre Wind bekommen hat? Oder doch Brogus?

Lesen?

Das schwarze Chamäleon ist eine Mischung aus einem Krimi mit dem klassischen Whodunit-Muster und einer satirischen Kritik der US-Rassenpolitik der letzten Jahrzehnte. Die Handlung nimmt ab der ersten Seite Fahrt auf, und man ist immer wieder fassungslos, wie meisterhaft Clay Robinette Fakten so lange verdrängt, bis sie ihm auf die Füße fallen. Er begibt sich in Situationen, von denen er ahnt, dass sie für ihn und sogar seine Familie problematisch werden könnten, zieht sich aber trotzdem nicht zurück. 

Clay gerät in einen Strudel von Ereignissen, bei denen er zeitweise nicht weiß, wer ihn da eigentlich bedroht. Jake Lamar entwirft mit Clay Robinette einen Protagonisten, dessen sich steigernde Verzweiflung greifbar und dessen Orientierungslosigkeit glaubwürdig ist. Mit seinem Buch ist Lamar ein Pageturner gelungen.

Das schwarze Chamäleon ist 2001 unter dem Originaltitel If 6 were 9 erschienen und wurde 2024 von der Edition Nautilus GmbH in der deutschen Übersetzung herausgegeben. Übersetzt von Krimiautor Robert Brack, der auch das Nachwort, das sich mit der Suche nach Jack Lamar beschäftigt, verfasst hat.

Das Buch kostet als Paperback 22 Euro und als E-Book 17,99 Euro. Es steht auf der Krimibestenliste September 2024 des Deutschlandfunks.

Sonntag, 8. September 2024

# 451 - Szenen einer verzweifelten Ehe

Wie kann man Furchtbares mit poetischen Worten beschreiben? Nassira Belloula gelingt dies in ihrem Roman Marias Zitronenbaum auf eine so empathische Weise, dass man beim Lesen das trostlose Leben der Protagonistin Maria als Ehefrau und Mutter und ihren Weg in Depression und Wahn buchstäblich nachfühlen kann. 

Maria ist gläubige Muslima und lebt mit ihrer Familie in Algerien. Bis sie sechzehn Jahre alt war ist sie behütet und von ihren Eltern geliebt am Mittelmeer aufgewachsen. Doch dann wird sie an einen fremden Mann verheiratet. Sie weiß nichts vom Leben und nichts von Sexualität. Das junge Mädchen, das die Natur und die Weite des Himmels liebt, muss mit ihrem Mann in die Stadt ziehen, wo es niemanden kennt. Am Tag nach der Hochzeit eröffnet er der frisch Verheirateten, was sie ab jetzt nicht mehr darf: Jede Art von Kontakt mit der Außenwelt ist ihr verboten, sogar der Blick aus dem Fenster. Das Haus darf sie nur in Begleitung ihres Mannes verlassen. Alles, was ihre Persönlichkeit ausmacht, will er auslöschen. 

Maria leidet, aber sie widerspricht nicht. Sie hält sich strikt an die Vorgaben des Korans: Wenn sie ihre Rolle als Ehefrau und Mutter erfüllt, wird sie nach ihrem Tod ins Paradies eintreten. Dort wird sie Ali wiedersehen, ihre große und längst verstorbene Liebe. Maria erträgt die Schmähungen ihres Mannes und dass sie von ihren Kindern für ihre angebliche Prüderie und Rückständigkeit ausgelacht wird.

Aber dann sieht Maria dreißig Jahre nach ihrer Heirat zufällig die Fernsehpredigt eines jungen Imams. Was sie da hört, lässt sie zusammenbrechen:
"[...]E
s hieß, dass die fromme, hingebungsvolle und gläubige Ehefrau von Allah belohnt werden wird, dass sie ins Paradies eintreten und dort ihren Mann wiederfinden wird für alle Ewigkeit. Er sagte auch, dass sie ihn ohne Eifersucht oder Zank mit Ehefrauen und Houris teilen werde, eine nach der anderen. Ein Paar wird sich nicht mehr voneinander abwenden können, und eine Stunde dauert dort so lange wie siebzig Jahre auf der Erde. So ist das Paradies konzipiert."

Der Albtraum soll also für alle Ewigkeit weitergehen? Maria beschließt zum Entsetzen ihrer Töchter ihren Mann zu verlassen. Ihre Kinder glaubten bis zu diesem Zeitpunkt daran, dass ihre Eltern eine einvernehmliche und harmonische Beziehung führen würden. Doch nun erkennen sie, wie falsch sie die Situation beurteilt und wie sehr sie ihrer Mutter Unrecht getan haben.

Lesen?

Marias Zitronenbaum schont seine Leserinnen und Leser nicht. Stellen wie "Dieser Ehemann, der unter Schmerzen geehrt wird, um die Schriften nicht zu missachten. In der Religion heißt es, dass der Körper der Frau für den Mann ein Acker zum Pflügen ist", deuten bildlich an, was da jede Nacht im Ehebett geschieht. 

Nassira Belloula stellt außerdem fest: "Seit Anbeginn der Zeit hat das patriarchalische System ein Echo in der Religion gefunden und Gott zu einem Verbündeten in dieser unerbittlichen Entfremdung gegen alles Weibliche gemacht. So lebt dieses System fort, indem es seine Kraft aus dem Penis und nicht aus dem Gehirn bezieht, und jede weibliche Stimme, die aus dem Chaos herauskommen will, unterdrückt und zerstört."

Diese deutlichen Worte der algerischen Feministin, Journalistin und Schriftstellerin Belloula bringen es auf den Punkt, wie das System der Unterdrückung der Frauen funktioniert. Die Religion (nicht nur der Islam) und ihre Schriften sind hierfür der Türöffner. Marias Zitronenbaum beschreibt ein Beispiel von vielen.

Marias Zitronenbaum ist 2021 im Verlag Donata Kinzelbach erschienen (Übersetzung: Tina Aschenbach) und kostet 20 Euro.

Nachtrag: Wenn ihr mehr über Donata Kinzelbach und ihren Verlag in Mainz erfahren möchtet, empfehle ich euch dieses 🠞 Interview, das ich vor einiger Zeit mit ihr geführt habe. Dort werden auch weitere Bücher genannt, die ich in meiner Bücherkiste bereits vorgestellt habe.

 

Montag, 2. September 2024

# 450 - Frauen im ersten Deutschen Bundestag - keine Selbstverständlichkeit

Am 7. September 1949 kamen die 410 Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestages zum ersten Mal zusammen. Darunter waren 28 Frauen; bis zum Ende der Legislaturperiode sollten es 38 sein.

Die Herren fremdelten mit der Situation. Sie waren nicht gewohnt, dass eine Frau das Wort ergreift und die eigenen Positionen verteidigt. Zu dieser Unsicherheit gehörte auch die Frage, wie die Kolleginnen angesprochen werden sollen. Zwar saßen zwischen 1919 und 1933 bereits in der Nationalversammlung und im Reichstag insgesamt mehr als 100 Frauen, aber trotzdem mussten die weiblichen Bundestagsabgeordneten um den Respekt und die Anerkennung ihrer männlichen Kollegen kämpfen.

"Der nächste Redner ist eine Dame" war die Aufforderung des ersten Bundestagspräsidenten Erich Köhler an die CDU-Abgeordnete Anne Marie Heiler, das Wort zu ergreifen. Der treffende Titel dieses Sachbuchs deutet an, wie schwer es den weiblichen Abgeordneten gemacht wurde, überhaupt zu Wort zu kommen. Anne Marie Heiler musste 64 Sitzungen auf die Gelegenheit warten, sprechen zu dürfen. Da die Kollegen, die vorher am Rednerpult gestanden haben, ihre zulässige Redezeit überzogen hatten, wurde diese für Heiler kurzerhand reduziert.

Natalie Weis ist Historikerin und arbeitet für den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags. Sie stellt alle weiblichen Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestages in mehrseitigen Kurzbiografien vor. Fünf Abgeordnete werden darüber hinaus von Schriftstellerinnen wie zum Beispiel Juli Zeh oder Terézia Mora in längeren Texten porträtiert, wobei jede einen anderen Stil wählt.


Lesen?


Der nächste Redner ist eine Dame bietet den bislang einzigen Überblick über die ersten weiblichen Bundestagsabgeordneten. Die meisten von ihnen sind längst vergessen. Das ist umso bedauerlicher, wenn man erfährt, unter welchem persönlichen Einsatz sie ihre Mandate wahrgenommen haben und wie man immer wieder versuchte, sie in die Ecke der klassischen "Frauenthemen" wie Soziales und Familie zu drängen. Auch, wenn jede Abgeordnete eigene Schwerpunkte hatte: Alle 38 Frauen haben sich nach den üblen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus für den Aufbau und die Stabilisierung der jungen Demokratie stark gemacht, obwohl ihnen viele Steine in den Weg gelegt wurden. Jede Einzelne von ihnen kann mit ihrer Durchsetzungs- und Willensstärke als Vorbild dienen. Diese Entwicklungen nachzuvollziehen, macht das Buch zu einer sehr interessanten Lektüre.

Der nächste Redner ist eine Dame wurde 2024 vom Deutschen Bundestag herausgegeben und ist im Ch. Links Verlag veröffentlicht worden. Das Sachbuch kostet gebunden 25 Euro und als E-Book 18,99 Euro.