Samstag, 22. März 2025

# 470 - Ein Szenario: Wenn Russland gewinnt

Was passiert, Wenn Russland gewinnt? Diese Frage
steht seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 im Raum. Der renommierte Politikwissenschaftler und Militärexperte Carlo Masala hat in seinem neuesten Buch ein Szenario entworfen, wie sich die globale und europäische Sicherheitsarchitektur in diesem Fall in den nächsten Jahren entwickeln könnte. Als Sieg gilt für ihn auch, dass Russland das derzeit von ihm besetzte Gebiet nicht zurückgeben muss.

Fiktion auf der Grundlage von Wissenschaft und fortgeschriebenen Entwicklungen

Masalas Szenario setzt im März 2025 ein. Die Unterstützung, um die der ukrainische Präsident Selenskyj dringend gebeten hat, bleibt aus. Der US-Präsident lässt nicht nur die Ukraine, sondern auch Europa sicherheitstechnisch fallen. Die europäischen Staaten sind nicht in der Lage, diesen Ausfall aufzufangen. Der Ukraine bleibt nur die Kapitulation und damit die Aufgabe von zwanzig Prozent ihres Staatsgebiets. Eine durch die Vereinten Nationen bereitgestellte Friedenstruppe soll den Waffenstillstand überwachen, jedoch nicht eventuelle Angriffe Russlands gegen die Ukraine abwehren.

Ende März 2028 dringen russische Brigaden in die estnische Stadt Narwa ein. Die dortige Bevölkerung ist zu 95 Prozent russischsprachig und hat seit Wochen gegen ihre sprachliche und kulturelle Benachteiligung durch die estnischen Behörden protestiert und den durch Desinformation gestreuten Gerüchten geglaubt, für die Regierung künftig nur noch Bürger zweiter Klasse zu sein. Die russischen Soldaten stoßen nicht auf Gegenwehr, die Stadt ist binnen weniger Stunden eingenommen. Dieser Erfolg war auch deshalb möglich, weil sich sowohl die estnische Regierung als auch die NATO von Truppenbewegungen fast 150 Kilometer entfernt haben ablenken lassen.

In derselben Nacht besetzen russische Soldaten, die zuvor per Fähre als Touristen getarnt angereist waren, die estnische Insel Hiiumaa. Die Gegenwehr der 12.000 dort lebenden Menschen ist gering.

Die Frage ist nun: Ist die russische Annexion einer Stadt mit etwa 56.000 Einwohnern sowie einer Insel in einem kleinen NATO-Mitgliedsland ein Anlass, um den Bündnisfall auszurufen? Von der Antwort hängt insbesondere die Zukunft Europas ab, und sie fällt innerhalb der EU sehr unterschiedlich aus.
In Masalas Szenario entscheidet sich binnen weniger Tage, welche Staaten die globale Vorherrschaft erringen werden.

Lesen?

Carlo Masala warnt eindringlich davor, Russland zu unterschätzen. Er hält militärische Aktionen, die die Reaktions- und Verteidigungsfähigkeit der NATO testen sollen, für realistisch und benennt deutlich die - nicht fiktionalen, sondern tatsächlichen - Fähigkeitslücken des Verteidigungsbündnisses. Seiner Einschätzung nach verfolgt Putin das Ziel, die europäische Sicherheitsarchitektur zu zerstören.

Donald Trump ist erst seit wenigen Wochen im Amt, als Masala noch an seinem Buch arbeitet. Er schreibt: "Mein Szenario beruht darauf, dass die USA der Ukraine die Unterstützung entziehen und sich in der Folge aus Europa weitgehend zurückziehen, um sich auf Asien zu konzentrieren." Es ist beklemmend, dass sich diese Einschätzung bereits bewahrheitet hat.

Hinter einem Szenario steht nicht nur die Frage "Was wäre, wenn?" Es dient auch dazu, Vorbereitungen zu treffen, um den Worst Case zu verhindern - denn genau das ist es, worum es in Wenn Russland gewinnt geht. Masala beschreibt Russlands militärische und zivile Zersetzungsstrategie und kritisiert den Umgang der Politik mit dem Kriegsgeschehen in der Ukraine. Dass, als ob das nicht schon reichen würde, den Politikern eine klare Strategie bislang fehlte und sich daran auch nach drei Jahren Kriegsdauer nichts geändert hat, verleitet nicht zu Optimismus. 

Masala empfiehlt die Priorisierung von Staatsaufgaben zugunsten von Verteidigungsausgaben sowie die klare Kommunikation der Regierungen mit ihren Wählerinnen und Wählern. Sein letzter Satz ist eine Mahnung: "Demokratische Gesellschaften sind durch hybride Kriegsführung bedroht und letzten Endes geht es um nicht weniger als um die Verteidigung der demokratischen Staatsform, oder pathetischer gesprochen, um die Art und Weise, wie wir leben und leben wollen."

Wenn Russland gewinnt ist im März 2025 im Verlag C. H. Beck erschienen und kostet als Broschurausgabe 15 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro.



Dienstag, 18. März 2025

# 469 - Love-Scamming, der Heiratsschwindel des 21. Jahrhunderts

Früher kamen Heiratsschwindler nicht daran vorbei, sich mit den Frauen, an deren Vermögen sie sich bereichern wollten, tatsächlich zu treffen. Das ist heute nicht mehr nötig: Nicht mehr ganz junge Frauen mit einem Account auf einer Social -Media-Plattform finden plötzlich Nachrichten von gutaussehenden, beruflich erfolgreichen weißen Männern ihren Postfächern. Gehen sie auf die Anfragen ein, entwickelt sich oft ein Dialog, der sehr vertraulich und intim werden kann. Die Männer erzählen ihren "Herzdamen" nicht nur von der großen Liebe zu ihnen, sondern bald auch von ihrer plötzlichen finanziellen Notsituation, aus der sie eine Geldspritze der Angebeteten befreien kann. Man ahnt, wie die Sache ausgeht, wenn sich Frauen darauf einlassen. Mittlerweile ist bekannt, dass die Love-Scammer Profilbilder und - inhalte völlig ahnungsloser Männer stehlen, selbst aber in Afrika sind und eine Frau nach der anderen ausnehmen wie eine Weihnachtsgans.

Um so einen Love-Scammer geht es in Martina Hefters Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? Die Performance-Tänzerin und Schauspielerin Juno lebt seit Jahrzehnten mit dem Schriftsteller Jupiter zusammen. Jupiter ist an Multipler Sklerose im fortgeschrittenen Stadium erkrankt und ohne Junos Unterstützung nicht in der Lage, seinen Alltag zu bewältigen. Die Beziehung der beiden ist pragmatisch-besorgt. Juno versucht, ihre Arbeit und das Kümmern um Jupiter unter einen Hut zu bekommen. Da sie unter Schlafstörungen leidet, surft sie nachts durch Instagram. Dort findet sie in ihrem Postfach Nachrichten von angeblich gutsituierten Männern, die ihr honigsüße Nettigkeiten schicken. Juno erkennt die Masche hinter den Komplimenten und macht sich einen Spaß daraus, den Männern absurde Lügen über ihr Leben aufzutischen. Normalerweise brechen die Scammer die Unterhaltung ab, sobald sie sich enttarnt fühlen. 

Doch mit dem Nigerianer Benu entwickelt sich ein längerer Kontakt, der trotz seiner Enttarnung mehrere Monate dauert und immer persönlicher wird. Auch ihm hatte Juno eine falsche Identität vorgegaukelt, in der sie eine erfolgreiche Tänzerin aus Chemnitz in den besten Jahren ist, die als Single ständig One-Night-Stands hat. Nichts davon stimmt: Juno ist über fünfzig und damit etwa zwanzig Jahre älter als Benu. Sie hält sich beruflich knapp über Wasser. Jupiter und sie sind auf das Pflegegeld angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, und wohnen in Leipzig.

Benu erzählt hingegen wahrheitsgemäß von seinem Alltag: von der täglichen Stromsperre ab 23 Uhr, seiner Familie und seinem finanziellen Problem, weil das alte nigerianische Geld gegen neues eingetauscht werden muss, dieser Umtausch aber nicht reibungslos klappt. Junos Misstrauen zerbröselt allmählich, sodass die beiden auch per Videocall und WhatsApp-Nachrichten kommunizieren. Und dann kommt der Moment, in dem Benu Juno gesteht, was in ihm vorgeht.

Lesen?

In Hey guten Morgen, wie geht es dir? hat Martina Hefter vieles aus ihrem eigenen Leben hineingeschrieben: Sie kümmert sich um ihren an MS erkrankten Mann Jan Kuhlbrodt, der als Schriftsteller arbeitet, ist als freischaffende Performance-Künstlerin unterwegs und irgendwann aus dem Allgäu nach Leipzig gezogen.

Es geht Hefter nicht nur um die Beschreibung der ungewöhnlichen Dreiecksbeziehung, bei der sie zwischen ihrem Mann und einem fremden, weit entfernt lebenden Mann, zu stehen scheint. Hefter reißt wie nebenbei auch andere Themen an: die Ausbeutung Afrikas durch den (Post-)Kolonialismus, ihre eigene Angst vor dem Altwerden inklusive der vermeintlichen Erwartungen der Gesellschaft an eine über fünfzig Jahre alte Frau oder die Schwierigkeiten eines behinderten Menschen, den Alltag möglichst komplikationsfrei zu gestalten. Auch Hefters Liebe zur Astronomie spielt eine große Rolle. Doch diese Themen, von denen jedes einzelne sich für ein eigenes Buch eignen würde, werden nicht vertieft. Es bleibt der Eindruck der Flüchtigkeit und die Schwierigkeit, einige der als Problem dargestellten Sachverhalte als solche nachzuvollziehen.

Martina Hefter hat 2024 für Hey guten Morgen, wie geht es dir? den Deutschen Buchpreis gewonnen.

Hey guten Morgen, wie geht es dir? ist 2024 im Verlag Klett-Cotta erschienen und kostet gebunden 22 Euro sowie als E-Book 17,99 Euro.

Sonntag, 9. März 2025

# 468 - Vermissen auf Japanisch

Die Japanerin Kyoko ist mit dem US-Amerikaner Levi verheiratet und lebt mit ihm und dem gemeinsamen zweijährigen Sohn Alex in San Francisco. Die Aufgaben sind klassisch verteilt: Levi kümmert sich um die Firma und die Finanzen, Kyoko um den Sohn und den Alltag. Doch dann verunglückt Levi tödlich und Kyoto muss ihr Leben und das ihres Sohnes neu ordnen. Aus dieser Ausgangssituation entwickelt sich die Handlung des Romans Vermissen auf Japanisch von Yukiko Tominaga (übersetzt von Juliane Zaubitzer).

Trotz seiner Beteuerungen, sich um eine Lebensversicherung zu kümmern, hatte Levi es versäumt, tatsächlich eine abzuschließen. Statt wohlgeordneten Finanzen hinterlässt er seiner Familie Schulden.

Levis Familie sind ihre jüdischen Wertvorstellungen wichtig. Deshalb bietet dessen Bruder Ben Kyoko an, zu ihm und seiner Familie nach Boston zu ziehen. Dort lebt auch ihre Schwiegermutter, die ihrer Schwiegertochter trotz der eigenen Trauer Halt geben will.

Yukiko Tominaga schildert in Episoden nicht nur, wie es Kyoko und Alex über mehrere Jahre gelingt, ihre Leben in gute Bahnen zu lenken, sondern sie macht auch deutlich, welche Bedeutung es in den beiden unterschiedlichen Kulturen hat, einen Menschen zu vermissen: Während man im Englischen auf verschiedene Weise zum Ausdruck bringen kann, dass einem eine Person fehlt, gibt es dafür im Japanischen keinen speziellen Ausdruck, mit dem das deutlich gemacht werden könnte. Kyoko äußert, dass ihr Levi fehlt, bezweifelt aber, ob sie ihn tatsächlich geliebt hat. Der starke kulturelle Unterschied, wenn es darum geht, einander Liebe zu zeigen, offenbart sich in einem Dialog zwischen Kyoko und ihrer Schwiegermutter:

"Weißt du was", sagte ich, "in unserer Sprache gibt es auch keine >Umarmung<."
"Kein >Ich vermisse dich< und keine Umarmungen. Wie erkennt ihr die Liebe?"
"Wir lesen die Luft", sagte ich.

Lesen?

Vermissen auf Japanisch hat mir atmosphärisch gut gefallen. Yukiko Tominaga hat die Sorgen und Nöte ihrer Protagonistin sowie die kulturelle Kluft zwischen ihr und ihrer angeheirateten amerikanischen Familie gut vermittelt. Die Autorin hat allerdings mit Zeitsprüngen gearbeitet, was mir das Lesen erschwert hat. Um zu zeigen, wie sich das Leben von Kyoko und Alex nach Levis Tod entwickelt, wäre eine chronologische Entwicklung aus meiner Sicht besser gewesen.

Vermissen auf Japanisch ist 2025 im mare Verlag erschienen und kostet 24 Euro sowie als E-Book 15,99 Euro.