Sonntag, 15. Juni 2025

Die Bücherkiste hat Geburtstag: 10 Jahre Rezensionen aus fast allen Genres 🥳📚

Vor genau zehn Jahren habe ich hier den ersten Blogbeitrag veröffentlicht und hätte damals nicht gedacht, dass ich so lange durchhalte. Als ich vor fast einem Jahr anlässlich des neunten Blog-Geburtstags diesen Text geschrieben habe, habe ich schon eine ausführliche Rückschau gehalten.

Seitdem hat sich in der Welt einiges getan: Die nationalen und internationalen Krisen scheinen sich zu stapeln und treiben vielen Experten die Sorgenfalten auf die Stirn. Außerdem ist in diesem Jahr Papst Franziskus gestorben. Diese Ereignisse schlagen sich auch in meinen Rezensionen seit Mitte Juni 2024 nieder: Von 44 vorgestellten Büchern waren sechzehn Sachbücher. Dabei ging es um China, den Klimawandel, Russland mit seinen Expansionsbestrebungen, die Ukraine, die Papstwahl im Wandel der Zeit und - fast schon unvermeidlich - Donald Trump und Project 2025. Diese Verlagerung zu mehr Sachbüchern habe ich nicht geplant, sie ist mir erst im Nachhinein aufgefallen.

Gibt es Vorurteile gegenüber Leserinnen und Lesern von Sachbüchern?

Da kann man sich natürlich fragen: Wie finden es die Leserinnen und Leser dieses Blogs, wenn ich weniger über Belletristik schreibe? Ich bekomme dazu keine konkreten Rückmeldungen, sehe aber in der Blog-Statistik, dass sich in den letzten zehn Jahren durchschnittlich mehr Menschen für Romane als für Sachbuchtitel interessiert haben. Dieser Trend hat sich seit Juni 2024 jedoch umgekehrt: Erstmals hatten Sachbücher die Nase vorn. Gerade als mir das aufgefallen war, las ich den Beitrag eines Buchbloggers bei Instagram. Er schrieb unter der Überschrift "Über die Schmähungen des Sachbuchs"¹ einen Artikel, in dem er kritisierte, dass Menschen, die nur oder überwiegend Sachbücher lesen, negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Er vermutete, dass die Kritiker mit dem Begriff 'Sachbuch' die Titel aus dem Bereich der Selbstoptimierungsliteratur gleichsetzen und außerdem überwiegend Männer zu Sachbüchern greifen und eine Verknüpfung zu negativen Männlichkeitsklischees hergestellt wird.

Ernsthaft: Das ist ganz schön spekulativ. Es gibt nirgends eine Statistik, die beweist, dass mehrheitlich Männer Sachbücher kaufen. Wer das schreibt, bezieht sich auf Beobachtungen, nicht auf Daten. 'Anekdotische Evidenz' heißt so etwas: Die Erfahrung, die ich selbst mache, betrachte ich als allgemeingültige Tatsache. Was der Buchblogger kann, kann ich schon lange: Ich habe von diesen Schmähungen noch nie etwas gehört und gelesen. Einer der besten Sachbuchblogs, die ich kenne, ist der einer Frau: Petra Wiemann stellt auf ihrem Blog Elementares Lesen seit über zwölf Jahren Sachbücher vor.

"Bitte keine schwierigen Wörter": Soll dem Wunsch nach Vereinfachung überall nachgegeben werden?

Kürzlich las ich eine Äußerung einer Krimiautorin², die im Hauptberuf Rechtsanwältin ist. Sie wurde aufgefordert, keine komplizierten Worte zu verwenden, sondern ihre Formulierungen zu vereinfachen. Ähnliches äußerte eine Autorin, die Dark Romance-Romane und Thriller schreibt³. Beide reagierten befremdet darauf, dass man ihnen vorschreiben wollte, wie sie sich ausdrücken sollen. 

Ich verstehe, dass sich Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen leicht lesbare Inhalte wünschen. Daraus aber eine Forderung an Autorinnen und Autoren abzuleiten, befremdet mich und schränkt kreative Schreibende in ihren sprachlichen Möglichkeiten ein. Das kann keiner wirklich wollen.

Tote zum Leben erwecken: prima oder kann weg?

Quelle: BBC Maestro
Vor fünf Jahren habe ich auf meinem zweiten Blog
über bekannte und unbekannte Menschen geschrieben, die mithilfe von Virtual Reality quasi zum Leben erweckt wurden. Ich habe damals nicht gewusst, was ich davon halten soll.

Nun hält das auch bei der schreibenden Zunft Einzug. 
Die britische Krimi-Autorin Agatha Christie dürfte den meisten ein Begriff sein. Miss Marple und Hercule Poirot haben nicht nur Mörder das Fürchten gelehrt, sondern sind auch durch ihre schrullige Art im Gedächtnis der Leserschaft geblieben.

Agatha Christie lebt seit fast fünfzig Jahren nicht mehr. Aber nun wird sie von den Toten erweckt: Das Unternehmen BBC Maestro, ein Tochterunternehmen der BBC Studios, bietet seit einiger Zeit Internet-Schreibkurse an, die von prominenten Schriftstellerinnen und Schriftstellern geleitet werden. Dazu gehören z. B. Isabel Allende oder Ken Follett. Für 99 € kann man sich jeweils 22 Unterrichtseinheiten, die insgesamt viereinhalb Stunden dauern, ansehen. Allende und Follett wurden leibhaftig gefilmt und haben selbst gesprochen. 

Und dann ist da noch Agatha Christie. In einem Werbe-Video für einen von ihr moderierten Schreibkurs geht sie durch die Räume ihres Hauses oder tippt auf einer alten Schreibmaschine einen Roman. Dabei spricht sie ununterbrochen über das Schreiben und dass sie nie gedacht hätte, eine Autorin zu sein. Die Person im Video sieht aus wie Agatha Christie und spricht wie sie: Hier hatte KI das Sagen.
Da Dame Christie sich nicht mehr selbst um die Inhalte "ihres" Schreibkurses kümmern kann, hat das für sie ein Experten-Team übernommen. Dieser Teil stammt also nicht von einer KI.

Was hat BBC Maestro bewogen, die britische Autorin in den Mittelpunkt eines Video-Kurses zu stellen? Gibt es nicht noch andere Krimi-Autoren, die dazu bereit gewesen wären? Vermutlich schon, aber Agatha Christie gilt als die weltweit erfolgreichste Schriftstellerin, ihr Name hat also auch lange nach ihrem Tod Zugkraft. Oder anders gesagt: Mit ihr lässt sich immer noch viel Geld machen. Man darf annehmen, dass es nicht bei dieser einen KI-Produktion bleiben wird. Vielleicht lernen wir in einiger Zeit von einem KI-Mozart das Komponieren oder von Annette von Droste-Hülshoff die Kunst der Poesie. Wer weiß ... Es bleibt ein schaler Beigeschmack.

Ein Tod und eine verpasste Ehrung

Er gehörte zu denen, über die jedes Jahr anlässlich der Verleihung des Literatur-Nobelpreises gesagt wurde: Jetzt ist es soweit, jetzt bekommt er ihn endlich. Der gebürtig aus Kenia stammende Schriftsteller Ngũgĩ wa Thiong’o ist vor etwas mehr als zwei Wochen im Alter von 87 Jahren gestorben. Seine Familiengeschichte war vom britischen Kolonialismus geprägt, mehrere Angehörige kamen im Kampf gegen die Kolonialmacht ums Leben. Das Thema Kolonialismus bestimmte seine Literatur, er litt unter Verhaftungen und Folter unter den ersten beiden postkolonialen Präsidenten Jomo Kenyatta und Daniel arap Moi und musste letztlich ins Exil in die USA gehen, wo er an mehreren renommierten Universitäten lehrte. Sein Roman Herr der Krähen gilt als der Afrika-Roman des 21. Jahrhunderts. Den Nobelpreis für Literatur hat er nicht mehr bekommen, nach eigener Aussage war ihm dieser allerdings auch nicht so wichtig.

Zehn Jahre - und nun?

Das, was ich für diesen Artikel zusammengestellt habe, zeigt, dass die Welt der Literatur immer in Bewegung ist. Wir reden schon lange nicht mehr nur über die gedruckten Papierwerke, wenn wir "Bücher" sagen. Der Anteil der E-Books am Gesamtwerk steigt langsam, aber stetig an, Bücher können von jedem Einfaltspinsel mithilfe von KI geschrieben werden, und kürzlich ist eine selbsternannte Autorin aufgeflogen, nachdem sie eine KI gebeten hatte, ein Buch im Stil einer bestimmten Schriftstellerin zu verfassen, sie aber vergessen hatte, diese Anweisung aus dem fertigen Machwerk zu entfernen. Anfängerfehler.

Worüber wird die Buchwelt in einem, fünf oder zehn Jahren sprechen? Ich bleibe am Ball und hoffe, ihr auch. Hier, in meiner Bücherkiste.


Quellen:

¹: Sachbuchseite📚 (@sachbuchseite) • Instagram-Fotos und -Videos

²: Sachbuchseite📚 (@sachbuchseite) • Instagram-Fotos und -Videos

³: Aktuelles | Autorin Ellen Connor Dystopie Horror Thriller


Montag, 9. Juni 2025

# 477 - Es hätte so schön sein können: der Weltfrieden in Reichweite

Wir sind im Jahr 1983. In Jakob Heins Roman Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste geht es um eine Geschichte, die es so zum Teil gegeben hat, wobei man zugeben muss, dass sowohl der erdachte als auch der wahre Inhalt live aus Absurdistan stammen könnten. 

Grischa Tannberg hat gerade sein Studium beendet. Er ist im seiner Meinung nach verschlafenen Gera aufgewachsenen und träumt von einer Stelle in Berlin. Das klappt, denn seine Eltern sind linientreu und einflussreich. Grischa wird in der Staatlichen Plankommission eingesetzt, die in der DDR für die Koordinierung, Erstellung und Überwachung der Fünfjahrespläne zuständig war.

Grischas Erwartungen, sein Wissen einbringen und etwas leisten zu können, werden von seinem Vorgesetzten Ralf Burg abgebremst. Die beiden sind für die Wirtschaftskontakte mit dem Bruderland Afghanistan zuständig. Doch Burg macht seinem neuen Kollegen klar, wo das Problem ist: Die Afghanen freuen sich über Waren aus der DDR, haben aber selbst nichts, was sie den Deutschen verkaufen könnten. Für die beiden Männer gibt es nichts zu tun als die Zeit totzuschlagen und Produktivität vorzutäuschen. "Kunstvolles Warten" nennt Burg das und bittet Grischa um Diskretion. Um seinen Vorgesetzten jedoch klarzumachen, dass er, Burg, vor Arbeit fast absäuft, wurde ihm auf seinen Antrag eine zusätzliche Stelle bewilligt, auf der nun Grischa sitzt. Ein bisschen Theater spielen ist eben alles.

Doch so leicht gibt sich Grischa nicht geschlagen. Nachdem er sich alles verfügbare Wissen über das ferne asiatische Land angeeignet hat, kommt er auf die zündende Idee, wie eine Handelsbeziehung zwischen der DDR und Afghanistan aussehen könnte: Dort, in 5.000 Kilometern Entfernung, gibt es Hanf-Felder so weit das Auge reicht. Mehr als genug, um von dort Medizinalhanf zu importieren und die "afghanischen Bauern in ihrem Freiheitskampf" zu unterstützen. Selbstverständlich hat er mit Burgs Ablehnung gerechnet und sich darauf vorbereitet: Dessen Einwand, nicht "mutwillig Rauschgift importieren" zu wollen, kontert Grischa mit der Bemerkung: "Aber das machen wir doch schon! Wir versorgen die Bevölkerung kontinuierlich mit Alkohol, Nikotin und Koffein, das haben Sie selbst gesagt. [...] Gegen Cannabis gibt es derzeit keine offizielle Parteilinie." 

Bei so viel sozialistischer Argumentation kann kein Chef "Nein" sagen. Und so kommt es, dass Grischa, Burg, eine Biologin und eine strenge Stasi-Offizierin nach Afghanistan fliegen und die erste Charge einkaufen. Kurz nach ihrer Rückkehr nach Berlin organisieren sie die Eröffnung eines deutsch-afghanischen Freundschaftsladens am Grenzübergang Invalidenstraße, in dem es offiziell landestypische Ware aus dem sozialistischen Bruderland gibt: Mützen, Schals und dergleichen. Das Cannabis ist als Bückware erhältlich. Selbstverständlich wird nicht in Mark der DDR, sondern in D-Mark bezahlt. 

Innerhalb weniger Tage spricht sich das ungewöhnliche Angebot herum und der Hanf findet reißenden Absatz, denn der Stoff ist sehr hochwertig und kann gegen eine Quittung legal gekauft werden. Das schlägt Wellen bis nach Bonn ins Ministerium für innerdeutsche Beziehungen. Auch dort herrschte bislang gepflegte Langeweile. Die Meldung vom schwunghaften Cannabis-Handel an der innerdeutschen Grenze reißt die Behörde jedoch aus ihrer Schläfrigkeit. Es kann und darf nicht sein, dass die bundesdeutsche Bevölkerung durch die Hintertür mit dem Rauschmittel versorgt wird. Eine Rechtsreferendarin wird beauftragt, einen Plan gegen diese perfide Aktion auszuarbeiten. Ihr Vorschlag: D-Mark gegen eine Beendigung des Cannabis-Verkaufs. Viel D-Mark.

Lesen?

Jakob Hein bastelt eine aberwitzige Geschichte um eine wahre Begebenheit. 1983 stand die DDR am finanziellen Abgrund, aus dem ihr auch die UdSSR nicht heraushelfen konnte. Damals fädelte der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß einen Milliardenkredit ein, der höchstwahrscheinlich die Existenz der DDR verlängerte. Im Gegenzug sagte die DDR-Regierung unter anderem zu, Familienzusammenführungen und Ausreisen zu erleichtern und Selbstschussanlagen abzubauen. Der Vorgang wurde wie in einem Agenten-Thriller abgewickelt und bezog die Mitarbeit eines bayrischen Großschlachters ein. 

Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste ist ein sehr witziges Buch, dass das damalige deutsch-deutsche Verhältnis, das lange Zeit sehr angespannt war, auf die Schippe nimmt und für Lacher sorgt. Egal, ob man dabei nach Ost oder West schaute: Auf dem Feld der Bürokratie waren beide Staaten spitze.

Wie Grischa mit einer verwegenen Idee beinahe den Weltfrieden auslöste ist 2005 bei Galiani Berlin, einem Inprint des Verlags Kiepenheuer & Witsch, erschienen und kostet gebunden 23 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro (befristet 4,99 Euro).

Nachtrag: Wer mehr über den Milliardenkredit der BRD an die DDR wissen möchte, wird hier gut informiert.