Sonntag, 31. März 2019

# 190 - Einmal Bosnien und zurück

Der Bosnienkrieg hat die Welt von 1992 bis 1995 in
Atem gehalten. Unvergessen sind die grausamen Gemetzel wie in Srebrenica, die nicht nur gegen Soldaten, sondern auch gegen Zivilisten gerichtet waren und von den anwesenden Blauhelm-Soldaten der Vereinten Nationen nicht gestoppt wurden. Erst das Ende 1995 geschlossene Friedensabkommen von Dayton beendete den Kriegszustand.

2001 macht sich Juli Zeh auf den Weg nach Bosnien-Herzegowina. Ihr einziger Begleiter: ihr Hund Othello, der wie sie unterwegs eine Menge auszuhalten hat.
In ihrem 2002 erschienenen Buch Die Stille ist ein Geräusch: Eine Fahrt durch Bosnien beschreibt Juli Zeh, wie sie versucht, die selbst gestellten Fragen zu beantworten. Eine davon heißt: Wer hasst wen und wie sehr? Es ist eine Frage, die ihr dabei helfen soll, den wahren Hintergründen, die den Krieg ausgelöst haben, auf den Grund zu gehen. Die Antworten, die sie von den Menschen, denen sie auf ihrer Reise zufällig begegnet, haben eine Gemeinsamkeit: Die Erklärung der Weltpresse, dahinter habe ein ethnischer Konflikt gestanden, wird ganz überwiegend für Unsinn gehalten. Die genannten Gründe könnten jedoch nicht unterschiedlicher sein.

Das Land ist zerstört, manches wurde wieder aufgebaut, anderes blieb in Trümmern. Mittendrin ist die deutsche Schriftstellerin Juli Zeh, die ihre Reise so beginnt wie jemand, der im Freibad auf dem Zehn-Meter-Brett steht und sich kurz vor dem Sprung einen Ruck gibt: ziemlich kurzentschlossen und - so scheint es - ohne größere Vorbereitungen. Wie wenig Bosnien-Herzegowina als touristisches Ziel gilt, merkt sie bereits im Reisebüro an der Reaktion der Angestellten: "Was wollen Sie da? Da ist doch Krieg!" Der Versuch, bei einem der größten deutschen Autovermieter für einen Monat ab Sarajevo einen Pkw zu mieten, scheitert an den horrenden Kosten: 3.500 $ werden verlangt. Vermutlich geht man in dem Unternehmen davon aus, dass man das Fahrzeug angesichts des Reiseziels auf die Verlustliste setzen muss.

Der Roadtrip beginnt zunächst mit einer Zugfahrt, die von Wien über das slowenische Maribor nach Zagreb führt. Dort bekommt sie von einem Freund eines Freundes eine Kurzinfo in bosnischer Staats- und Gesellschaftskunde und Verhaltenstipps. Später, auf dem Weg nach Sarajevo, erfindet sie eine neue Sprache, um mit den Kommunikationsschwierigkeiten fertig zu werden: Endepol ist eine Mischung aus Englisch, Deutsch und Polnisch, erweist sich im Laufe der Reise aber nicht immer als zuverlässige Verständigungshilfe. Sie macht Halt in Jajce, einer Kleinstadt, deren Bevölkerung sich infolge des Bosnienkrieges neu zusammenstzte. Weitere Stationen sind Mostar, Sarajevo, Pale, Fojnica, Čapljina, Tuzla, Srebrenica, Travnik, Banja Luka, Zagreb und einige kleinere Orte, die hier praktisch unbekannt sind. Innerhalb Bosnien-Herzegowinas legt sie die Strecken mit einem Auto zurück. Die Namen der meisten Städte, die sie besucht, sind hier durch die damalige Berichterstattung in den Nachrichten bekannt.

Juli Zeh verbringt körperlich anstrengende Wochen in Bosnien-Herzegowina. Eine für Touristen geeignete Infrastruktur gibt es nicht, Unterkünfte findet sie unterwegs eher zufällig, ihre Ernährung ist - gelinde gesagt - ungesund. Sie lässt sich treiben und entschließt sich oft spontan, die eine oder andere Richtung einzuschlagen. In den größeren Städten erlebt sie eine andere Stimmung als in den kleinen Ortschaften: Während die Städter sich offen geben und abends gepflegt durch das Zentrum flanieren, ist in den Kleinstädten und Dörfern der Wiederaufbau noch nicht weit gekommen und der Krieg in den Köpfen der Menschen noch deutlich präsenter.


Da Juli Zeh als Deutsche zur sog. "intrenational crowd" gehört, ist das Orgaisieren eines SFOR-Ausweises kein Problem. Dieser Ausweis erweist sich etliche Male als Türöffner. Das schützt sie aber nicht vor der fast allgegenwärtigen Gefahr, Opfer einer Mine zu werden. Besonders bewusst wird ihr das, als auf einer Bergkuppe bei Mostar einen großes aus Steinen gelegtes "H" irrtümlich als Zeichen für "Helikopter" interpretiert. Erst bei näherem Hinsehen wird Zeh klar, dass es sich um ein großes "M" handelt und sie sich mitten in einem abgesperrten Minengebiet befindet.

Lesen?

Die Stille ist ein Geräusch: Eine Fahrt durch Bosnien ist in mehrerer Hinsicht ein lesenswertes Buch. Juli Zeh hat keinen der üblichen Reisebrichte geschrieben, sondern ihre Beobachtungen notiert: über die Menschen, das, was der Krieg mit ihnen gemacht hat und nicht zuletzt über sich selbst. Sie haucht auch dem, was auf den ersten Blick tot wirkt, noch Leben ein und verzichtet bei aller Empathie darauf, von ihrem vom Krieg geschundenen Reiseland ein Bild des Entsetzens zu zeichnen. Lesen!

Die Stille ist ein Geräusch: Eine Fahrt durch Bosnien ist in der mir vorliegenden Ausgabe bei Schöffling & Co. erschienen. Die Taschenbuchausgabe kostet 10 Euro, die epub- oder Kindle-Edition 9,99 Euro. Das gebundene Buch ist nur noch antiquarisch zu bekommen.

Sonntag, 24. März 2019

# 189 - Was Recht ist, muss Recht bleiben! Oder: Ist Mediation eine Alternative zur Klage?

Mediation: Oft ruft dieses Wort noch ratlose Gesichter
hervor. Worum es sich bei einer Mediation handelt, hat sich noch nicht überall herumgesprochen. Doch dieser Weg, mit Streitigkeiten umzugehen, wird immer bekannter. Nicht zuletzt trägt dazu die sehr gute Erfolgsquote von außergerichtlich beigelegten Konflikten bei.

Mit Kein Grund zur Klage! hat eine Expertin, die als Anwältin und Mediatorin beide Arten, mit Streitigkeiten umzugehen, kennt, ein aufschlussreiches Sachbuch geschrieben. Manuela Reibold-Rolinger ist manchen vielleicht aus der Sendereihe "Die Bauretter" bekannt. Dort verhilft sie Bauherren, die von ihrem Bauunternehmen hängengelassen wurden, gemeinsam mit einem Bauexperten zu einem intakten und wohnlichen Eigenheim.

Manuela Reibold-Rolinger schildert zu Beginn ihres Buches sehr genau, woran sich Streitigkeiten entzünden können. Ein häufiger Anlass sind mündlich getroffene Vereinbarungen, die nicht oder nur unvollständig in einen Vertrag aufgenommen wurden. Aber was dort nicht steht, gilt nun mal als nicht vereinbart. Das ist in allen Bereichen so, in denen Verträge eine Rolle spielen. Die Anwältin schildert dann auch konkret, warum sich Gerichtsprozesse oft über Jahre erstrecken, was sie teuer machen kann und erläutert den Nachteil eines richterlichen Urteils: Es gibt immer einen Verlierer, und manchmal fühlen sich sogar beide Konfliktparteien so, als hätten sie das Nachsehen.

Um ihren Lesern das Thema Mediation näherzubringen, nähert sie sich ihm nach und nach. So geht sie auch mit dem Verhalten mancher Anwaltskollegen kritisch um, die ein Mandat verzögern oder ihren Mandanten zu einem Prozess raten, obwohl sie wissen, dass dessen Erfolgsaussichten gering sind. Diese Anwälte sind die Ausnahme, aber es gibt sie. Auch Deeskalation ist bei diesem Berufsstand nicht jedermanns Sache. Kommt es zu einem Gerichtsprozess, geschieht dies nur auf Wunsch der klagenden Partei.

Die Mediation ist hier das Kontrastprogramm. Die Kontrahenten entschließen sich aus freien Stücken zur Teilnahme und kümmern sich eigenständig um eine Lösung, die von beiden Seiten akzeptiert wird. Dabei werden sie vom unparteiischen Mediator unterstützt, der keinen der Streitenden unter Druck setzt oder ihm eine Lösung aufzwingt.
Reibold-Rolinger geht auch auf den Unterschied zwischen einem Mediationsverfahren und den gerichtlich angeordneten Güteterminen oder den Terminen in offiziell anerkannten Schlichtungsstellen ein.
Letztlich kommt sie zu den zahlreichen Vorteilen, die eine Mediation hat. Die Erfolgsquote der von ihr durchgeführten Mediationen liegt bei etwa 80 %, nur bei 10 % der Verfahren kam es nicht zu einer Einigung. Sie räumt auch ein, dass es Fälle und/oder Menschen gibt, die sich nicht für eine Mediation eignen. Äußerungen von Mandanten wie z. B. "Ich mache das nur, weil meine Frau es will" oder "Ich will auf keinen Fall etwas zahlen" sind keine guten Vorzeichen für eine erfolgreiche Mediation.

Kein Grund zur Klage! ist ein auch für Laien sehr verständliches Buch, das seinen Lesern die Vorteile einer Mediation - insbesondere als Alternative zu einer Klage vor Gerciht - deutlich vor Augen führt. Wer sich über diesen Weg, Streitigkeiten beizulegen, informieren möchte, ist mit diesem Buch sehr gut beraten.

Kein Grund zur Klage! ist bei Goldmann erschienen und kostet broschiert 18 Euro sowie als epub- oder Kindle-Ausgabe 14,99 Euro.

Montag, 18. März 2019

# 188 - Über eine Jüdin, die andere Juden in den Tod schickte

Ich hatte im Januar auf diesem Blog über die Lesung eines
Buches geschrieben, über das seit seiner Veröffentlichung viel diskutiert wurde. Die Kulturseiten der allermeisten Printmedien haben es praktisch in der Luft zerrissen, etliche Buchhändler weigerten sich, es zu verkaufen, während einige ihrer Kollegen Werk und Autor in Schutz nahmen und das Gegenteil zusagten. Es geht um den Roman Stella von Takis Würger. Ich war von der Lesung, die de facto keine war, ziemlich enttäuscht und hatte danach nicht mehr vor, das Buch zur Hand zu nehmen. Aber dann lief es mir über den Weg und ich beschloss, mir nun doch selbst ein Bild zu machen, was an den Anwürfen gegen Würger und sein Werk dran ist.

Die titelgebende Stella Goldschlag hat es tatsächlich gegeben, und es ist ihr Gesicht, das uns auf dem Buchcover entgegenlächelt. Sie war eine junge Jüdin, die in Berlin lebte und sich ihren Lebensunterhalt auf mehreren Wegen verdiente. Einen davon wird man im Verlauf der Handlung näher kennenlernen. Stellas Reaktion auf die Erpressung der Nazis und den Wunsch, ihre Eltern zu schützen, hat Takis Würger recherchiert. Fiktion sind hingegen die Figur des jungen Friedrich, der gutsituiert in der Schweiz in der Nähe des Genfer Sees aufwächst, sowie seine Liebesgeschichte mit Stella. 

Friedrichs Mutter ist gebürtige Deutsche und macht ihrem Sohn von klein auf klar, dass sie Juden für Untermenschen hält. Die ohnehin zerrüttete Ehe der Eltern erlebt ihren Tiefpunkt, als die von ihrem Leben enttäuschte Frau auf dem Dach der Familienvilla eine Hakenkreuzfahne hisst, die der Vater aufgebracht entfernt. Friedrichs Vater wiederum ist geschäftlich ständig unterwegs, zu einem Gutteil wohl aber auch, um seine ständig betrunkene Gattin nicht täglich aushalten zu müssen. 
Mit 19 entschließt sich Friedrich, das, was man über das Geschehen in Deutschland und insbesondere in Berlin hört und liest, selbst anzusehen. Er reist im Januar 1942 als Tourist in die deutsche Hauptstadt, mietet sich in ein Grand Hotel ein, dessen Kosten von seinem Vater übernommen werden, lernt die gutaussehende Kristin kennen und verliebt sich in sie. Erst spät begreift er, welches Geheimnis die junge Frau verbirgt: Um die Eltern vor dem KZ zu bewahren, arbeitet sie für die Nazis als sogenannte Greiferin, verrät also untergetauchte Juden an die Gestapo.

Ich hatte mit Stella einige Schwierigkeiten. Mich hatte bereits irritiert, dass Takis Würger im Verlauf der Lesung geäußert hatte, sich mit Stella Goldschlag beschäftigt, sich für das Buch jedoch von ihr gelöst zu haben. Aber unabhängig davon, wie viel Verständnis man der tatsächlichen Stella entgegenbringt, kann ich nicht nachvollziehen, warum solch eine Persönlichkeit, die ihren Verrat auch fortsetzte, nachdem ihre Eltern getötet worden waren, eine der Hauptfiguren in einer problematischen Liebesbeziehung wird. Ihr Tun wird im Romantext nur angedeutet, das Leid ihrer Opfer wird nur angerissen, indem Würger aus den Ermittlungsakten zitiert, die im Zusammenhang mit dem späteren Gerichtsverfahren gegen Stella Goldschlag angelegt wurden. Jeder Verrat wird hier bürokratisch wie ein behördlicher Vorgang abgewickelt. Warum Würger diesen Weg wählt, obwohl er zu Beginn seines Buches selbst darauf hinweist, dass sein Urgroßvater 1941 im Rahmen der Aktion T4 den Nazis zum Opfer gefallen ist, erschließt sich mir nicht. Hinter diesem Kürzel steckt immerhin die systematische Ermordung von etwa 70.000 behinderten Menschen zwischen 1940 und 1945. Warum also diese Distanziertheit, obwohl es doch eine persönliche Betroffenheit gibt? Oder soll diese Information den Autor dazu legitimieren, sich als Nachkomme eines Opfers des nationalsozialistischen Regimes zum Thema äußern zu dürfen? Wenn es so wäre, hätte ich ebenfalls diese Art von Legitimation; ich halte mich aber nicht für ausreichend kompetent, etwas über den Holocaust zu schreiben, nur weil ein körperlich eingeschränkter Verwandter in gleicher Weise "entsorgt" wurde wie Würgers Urgroßvater. Auch nicht nach einer Recherche wie der, die der Autor durchgeführt hat. Der gemeinsame Nenner der damaligen massenhaften systematischen Ermordung von Juden und der Beseitigung des unwerten, weil behinderten Lebens ist die gewaltsame Auslöschung. Vom einen auf das andere zu verweisen, empfinde ich als schwierig.

Unbegreiflich ist mir auch die Figur des Friedrich geblieben. Sein Handeln zeugt von einer kaum nachvollziehbaren Naivität, die schon mit der Abreise aus der neutralen Schweiz nach Berlin beginnt und von der ihn niemand zu Hause ernsthaft abzuhalten versucht. Um einen Vergleich zu bemühen: Muss man sich in die Nähe eines hungrigen Löwen begeben, weil man gehört hat, dass die Tiere mit leerem Magen besonders angriffslustig sind, man das jetzt aber doch mal selbst live und in Farbe erleben will? Auch der Weg zur Erkenntnis ist bei dem jungen Mann lang: Bis er realisiert, was die Frau, in die er so verschossen ist, wirklich tut und dass sie nicht Kristin, sondern Stella heißt, ist das Buch zur Hälfte gelesen. Friedrich ist ein naiver Vollidiot, um es deutlich zu sagen. Sein kritikloses Verhalten gegenüber Stella ist nur schwer zu ertragen. Es gibt keinen Moment, in dem er gegen ihr lange Zeit rätselhaft wirkendes Benehmen aufbegehren oder wenigstens konkrete Fragen stellen und auf einer klaren Antwort bestehen würde. Statt dessen registriert er beispielsweise, dass Stella ständig mit Pervitin gefüllte Pralinés nascht und kauft ihr für viel Geld mehrere Packungen, um ihr eine Freude zu machen. Pervitin war der Handelsname eines seit 1938 vertriebenen Präparats, das heute unter dem Namen Methamphetamin oder den kürzeren Bezeichnungen "Meth" und "Crystal Meth" bekannt ist.
Auch Friedrichs Versuch, Stellas Eltern zu befreien, scheitert an seinem Glauben daran, dass eine getroffene Abmachung gilt - auch wenn es sich dabei um den Bestechungsversuch eines Nazis handelt.

Stella konnte mich nicht überzeugen. Mir fehte es an vielen Stellen an der Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit. Ich habe auch Schwierigkeiten damit, ein historisch monströses Ereignis wie die Massentötung der Juden während des Dritten Reichs in eine (seltsame) Liebesgeschichte hineingezwängt zu sehen. Durch den sachlichen Schreibstil scheint Würger eine Distanz zwischen sich und der Handlung seines Buches aufbauen zu wollen, so dass es wirkt, als sei er hier nur der Chronist, den das alles nicht wirklich etwas anginge. Doch wie passt das mit dem Hinweis auf seinen Urgroßvater zusammen? Ich habe darauf keine Antwort.

Stella ist bei Hanser erschienen und kostet als gebundenes Buch 22 Euro, als epub- oder Kindle-Ausgabe 16,99 Euro sowie als Audio-CD 13,27 Euro.

Freitag, 8. März 2019

# 187 - Ein Buch, das mich aggressiv gemacht hat


Das passiert mir selten, dass ich ein Buch lese, bei dem ich
gegenüber einer der Hauptfiguren einen solchen Groll entwickle, dass ich ihr am liebsten eine runterhauen würde, wenn das denn möglich wäre, aber trotzdem durchhalte bis zum Schluss. Warum ich das Werk nicht in die nächste Ecke geschleudert habe? Ich bin mir nicht sicher, aber vermutlich, weil ich darauf gewartet habe, dass es im Laufe der Handlung jemanden geben würde, der dem, der im Buchtitel der "Ich" ist, mit Schwung...

Das Buch, um das es heute geht, ist bereits 2003 erschienen und bedeutete für den damals noch unbekannten Schriftsteller Daniel Kehlmann den Durchbruch: Ich und Kaminski heißt es, und beim Lesen des Buchtitels dachte ich fast schon reflexartig an einen Ausspruch meiner Mutter, wenn ich als Kind einen Satz mit: "Ich und..." begonnen hatte. Sie sagte dann: "Der Esel nennt sich immer zuerst." Aber die Reihenfolge passt hier genau: Bei 'Ich' handelt es sich um Sebastian Zöllner, einen mäßig erfolgreichen, dafür aber sehr von sich überzeugten Kunstkritiker. Er heftet sich an die Fersen des greisen Malers Manuel Kaminski, der den Höhepunkt seiner künstlerischen Schaffensphase schon lange hinter sich hat, aber dessen Name in Kunstkreisen immer noch mit einer gewissen Ehrfurcht ausgesprochen wird. Seine Spezialität: Kaminski ist blind und hat die Komposition seiner Werke erspürt. Zöllner plant, ein Standardwerk über den einst berühmten Maler zu schreiben und so seinen Ruf als Kunstexperte aufzupolieren.

Zöllner schafft es mit einem Versprechen, den von seiner Tochter abgeschirmten Maler aus seinem abgelegenen Haus in den Bergen zu locken. Vor der Fahrt sieht er sich genau im Haus um und öffnet Zimmer- und Schranktüren, um so viel wie möglich über den Maler zu erfahren. Seine Interviews mit Kaminskis Zeitgenossen ergaben ein uneinheitliches Bild, das sich schwer verwerten lässt. Zöllner bringt den alten Mann dazu, sich ihm für eine längere Fahrt anzuschließen, indem er ihm etwas über einen geliebten und von Kaminski totgeglaubten Menschen erzählt. Damit werden in dem Künstler uralte Wunden wieder aufgerissen und Hoffnungen genährt, für die es keine Grundlage gibt. Doch so einfach, wie es sich Zöllner vorgestellt hat, macht es ihm Kaminski nicht. Die Geschichte um den Gernegroß Zöllner und den Maler Kaminski nimmt für beide ein Ende, mit dem am Beginn ihrer Roadtour nicht zu rechnen war.

Ich und Kamninski hat mir als Buch sehr gut gefallen, aber die Figur des Sebastian Zöllner ist ein wahrer Kotzbrocken: Er ist selbstverliebt, distanzlos, rücksichtslos und gnadenlos aufdringlich. Die Spur seines Lebens ist eine Abfolge von zahllosen Fettnäpfchen. Er ist jemand, den man bedenkenlos zum Mond schießen möchte. Aber die Handlung ist interessant erzählt und man wartet im Grunde immer darauf, was sich Zöllner wohl als nächstes einfallen lässt, um seinem Ziel näher zu kommen. Und darauf, wer ihm denn endlich die überfällige... na, Ihr wisst schon.

Ich und Kaminski ist bei Suhrkamp erschienen und als Taschenbuch (8 Euro), epub- oder Kindle-Ausgabe (7,99 Euro) und Audio-CD (4,99 Euro) erhältlich.
Das Buch wurde 2015 verfilmt, die Rolle des Sebastian Zöllner spielte Daniel Brühl, Jesper Christensen übernahm den Part des Manuel Kaminski. Hier geht es zum Trailer:

Sonntag, 3. März 2019

# 186 - Jetzt hör doch mal zu! Lesenswertes zum Welttag des Hörens

Heute ist der Welttag des Hörens - wie an jedem 3.
März. In Deutschland gelten etwa 16 Prozent der Erwachsenen als schwerhörig, bei den über 70-Jährigen ist es sogar die Hälfte. Merkwürdig ist allerdings, dass Menschen geringe Probleme damit haben, eine Fehlsichtigkeit einzugestehen und eine Brille oder Kontaktlinsen zu tragen. Geht es aber um ein vermindertes Hörvermögen, wird heftig abgewehrt: "Ich und schwerhörig? Ich bin doch noch nicht alt!" Schwerhörigkeit ist aber nicht unbedingt eine Frage des Alters: Sie kommt bereits bei Säuglingen vor und kann die verschiedensten Ursachen haben. 

Auch Thomas Sünder hat sein Hörproblem jahrelang verharmlost: Er war früher ein erfolgreicher und gefragter DJ, der nach einem Hörsturz eine so deutliche Reduzierung seines Hörvermögens erlitt, dass eines seiner Ohren mit einem Hörgerät versorgt werden musste. Den ärztlichen Rat, in Zukunft Hör-Risiken zu vermeiden und sich beruflich neu zu orientieren, ignorierte er. Das rächte sich: Einige Jahre nach dem Hörsturz brach er während einer Party, bei der er aufgelegt hatte, mit starkem Schwindel und Übelkeit hinter dem Mischpult zusammen und verbrachte mehrere Tage im Krankenhaus. Die Diagnose Morbus Menière, eine Erkrankung des Innenohrs, die mit Hörverlust und Tinnitus einhergeht, bedeutete das endgültige Aus für seine Selbstständigkeit als DJ.

Aber Sünder ist mit seinen Fragen und Problemen nicht allein. Über Jahre hinweg steht ihm sein Freund, der Mediziner und Psychologe Dr. Andreas Borta, mit Ratschlägen und Erläuterungen immer dann zur Seite, wenn sich Sünder bei den Ärzten, auf die er trifft, weniger gut aufgehoben fühlt.
Diese sehr persönliche Geschichte der beiden Männer wird in ihrem gemeinsamen Buch Ganz Ohr - Alles über unser Gehör und wie es uns geistig fit hält von allem, was es zum Thema Hören Wissenswertes gibt, eingerahmt. Der Leser erfährt nicht nur, warum zum Zeitpunkt des Urknalls nichts zu hören war, sondern auch, was es mit dem Satz "Dass Sie diese Zeilen lesen können, verdanken Sie Ihren Ohren" auf sich hat. Es geht außerdem um den Zusammenhang zwischen einer verminderten Hörfähigkeit und dem Risiko einer Demenz (ohne Hörgeräte um 400 Prozent erhöht), der motorischen Probleme von Schwerhörigen und der Frage, wie sinnvoll das Tragen von Hörgeräten bei einer Schwerhörigkeit ist und worauf man bei der Wahl des passenden Geräts achten sollte.

Für diejenigen, die zu eitel sind, um Hörgeräte zu benutzen, sei ganz plakativ gesagt: Eine ignorierte Schwerhörigkeit fördert signifikant eine Demenz und führt zu sozialer Isolation. Die Fähigkeit, zu hören und damit auch, zu verstehen, ist der Schlüssel für eine funktionierende soziale Interaktion. 

Das Buch ist nicht nur für diejenigen zu empfehlen, die sich bislang um ihre Schwerhörigkeit herumgedrückt oder sich ihre Situation schön geredet haben, sondern wendet sich auch an Leser, die sich umfassend über das Hören informieren wollen. Die beiden Autoren sorgen mit ihrem flüssigen und lockeren Schreibstil dafür, dass es nicht langweilig wird und auch komplexere Zusammenhänge gut verständlich sind.

Zum Buchtrailer geht es hier:


Und die Aktionsseite zum Welttag des Hörens ist hier.

Ganz Ohr - Alles über unser Gehör und wie es uns geistig fit hält ist bei Goldmann erschienen und kostet als Taschenbuch 14 Euro sowie als epub- oder Kindle-Ausgabe 11,99 Euro.