Montag, 28. Dezember 2020

# 271 - Ist das die öffentlich-rechtliche Medienwelt?

Vor acht Jahren hat der Journalist Jens Jessen mit seinem Roman Im falschen Bett seine schriftstellerischen Scheinwerfer gleich auf mehrere Szenerien geworfen: auf das Selbstverständnis derer, die sich zur gehobenen bürgerlichen Schicht Münchens zählen, den Umgang des (öffentlich-rechtlichen) Fernsehens mit Menschen und Geld, das Aufeinanderprallen von unterschiedlichen Gesellschaftsschichten im selben Umfeld sowie das sogenannte "zweite München", in dem die Reichen und Mächtigen sich junger Frauen bedienen, als seien sie ihr Spielzeug.

Im Mittelpunkt stehen der TV-Produzent Dr. Torsten Welske, der von allen nur als "der Bonze" bezeichnet wird, und die deutlich jüngere Christina Laroche. Die beiden lernen sich während eines Castings einer Fernsehshow kennen, und der Bonze verliebt sich in sie, weil sie sich in ihrer Unauffälligkeit und Zurückhaltung deutlich von den anderen Kandidatinnen unterscheidet, auf die normalerweise sein Blick fällt.

Was in diesem Roman passiert, wird aus der Perspektive eines Ich-Erzählers geschildert, der als Praktikant die folgenden Ereignisse erlebt oder aber von anderen ins Bild gesetzt wird. Er ist Student an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität und lebt in einer Studenten-WG, in der das seltsame Verhältnis zwischen Christina und dem Bonzen interessiert verfolgt und gern kommentiert wird.

Die Beziehung zu Christina ist kurz, entwickelt sich aber für den Bonzen zu einem Desaster. Zu spät erfährt er, dass Christina die Patentochter von Oberkirchenrat Neander ist, der als Mitglied des Rundfunkrates immer wieder beim Bonzen auftaucht und ihm auf den Zahn fühlt: Wie ist das eigentlich mit dem Sponsoring von lokalen Unternehmern, deren Produkte in den Fernsehsendungen des Produzenten gezeigt werden? Fließt da nicht auch Geld, das möglicherweise dem Sender vorenthalten wird? 

Doch der Oberkirchenrat ahnt nicht, wessen Groll er sich da zuzieht: Der kleine Rachefeldzug des Bonzen wird ihn und seine drei mit ihm zusammenlebenden alten Tanten die Wohnung kosten. Es wird intrigiert, es wird gestorben und irgendwie kennt jeder um ein paar Ecken jeden - was nicht immer gut ist. Immer wieder fragt man sich beim Lesen, wie groß das Körnchen Wahrheit wohl sein mag, das Jessen in seine Geschichte eingestreut hat. Das kann der Autor am besten selbst beantworten, der zum Zeitpunkt der Romanveröffentlichung Ressortleiter des Feuilletons der Wochenzeitschrift "Die Zeit" gewesen ist.

Einen Hinweis gibt Jessen mit dem Zitat eines mittlerweile verstorbenen einflussreichen Medienunternehmers: "Im Seichten kann man nicht ertrinken", war ein Ausspruch von Leo Kirch, der damit auf die Kritik hinsichtlich des niedrigen Niveaus der Sendungen seiner privaten Fernsehsender reagierte.

Doch im Abspann stellt Jessen klar, dass es Produzenten wie den in seinem Roman beschriebenen in öffentlich-rechtlichen Sendern nicht gibt und er sich alle Personen, Gremien, Gewohnheiten und die ganze Geschichte "aus den Fingern gesaugt" hat.

Lesen?

Im falschen Bett ist ein unterhaltsamer und humorvoller Roman, der einige Untiefen der (Münchener) Gesellschaft und der Fernsehlandschaft aufs Korn nimmt. Ob das Buch als Satire verstanden werden soll, bleibt aber unklar. 

Im falschen Bett ist 2012 im Carl Hanser Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 17,90 Euro sowie als E-Book 6,99 Euro.

Freitag, 18. Dezember 2020

# 270 - Vier Bücher zum Verschenken oder Selberlesen

Weihnachten steht vor der Tür, und da ich ein großer Fan davon bin, Bücher zu verschenken (und natürlich auch zu bekommen), stelle ich heute vier Titel vor, die die unterschiedlichsten Geschmäcker ansprechen.

Es geht los mit einem Krimi, der seine Leser so sehr in seinen Bann zieht, dass sie ihn erst weglegen, wenn die letzte Seite gelesen worden ist: Tin Men des kanadischen Autors Mike Knowles.

Dennis, Woody und Os sind hartgesottene Polizisten, die schon lange im kanadischen Hamilton ihren Dienst tun. Die Drei haben bereits einiges in ihrem Berufsleben gesehen und glauben, dass sie nichts mehr erschüttern kann. Doch der Mord an ihrer Kollegin Julie hat eine besonders grausame Komponente: Der Schwangeren wurde von ihrem Mörder ihr ungeborenes Kind aus dem Bauch geschnitten. Das ungleiche Ermittlerteam wird auf die Frage angesetzt, warum Julie getötet wurde und wer ein Interesse an ihrem Baby gehabt haben könnte.

Die drei Cops sind nicht unbedingt ein vertrauenswürdiges Dream Team: Woody ist drogensüchtig und hat sein Leben nicht mehr im Griff, Dennis hält sich für den fähigsten Cop der Stadt und gibt seinem schwachen Ego durch Bordellbesuche einen faden Glanz, und der Hüne Os flößt seinen Mitmenschen schon durch seine massige Erscheinung Angst ein, befindet sich aber in der Hand der örtlichen Russenmafia. Selbstverständlich setzt jeder von ihnen alles daran, seine Schwächen vor anderen zu verbergen. Einer von ihnen hütet außerdem ein Geheimnis, das ihn zwar auch privat motiviert, Julies Mörder und das verschwundene Kind so schnell wie möglich zu finden, aber die Ermittlungsarbeit für die beiden Kollegen erschwert.

Die einzige Person, mit der Julie befreundet gewesen war, ist ihre Wohnungsnachbarin Lisa. Diese gibt wertvolle Hinweise zum Privatleben der Ermordeten. Die Situation wird jedoch kompliziert, als Lisa kurz nach ihrer polizeilichen Befragung bei einem Autounfall ums Leben kommt. Gibt es einen Zusammenhang mit Julies Ermordung? 

Während der gesamten Ermittlungsarbeit kämpfen die drei Polizisten gegen ihre eigenen Dämonen an und haben Mühe, dass nicht ihre eigenen Leben aus der Kurve getragen werden. Einer von ihnen wird nicht mehr erfahren, wer die Kollegin auf dem Gewissen hat.

Tin Men  ist 2020 im Polar Verlag erschienen und kostet als Klappenbroschur 14 Euro. 

 

Es geht kriminell weiter, dieses Mal aber ganz realistisch und bodenständig. Der Kulturjournalist Bert Lingnau hat sich in seinem in der zweiten Auflage 2018 erschienenen Buch Rübe ab! in seiner Heimat Mecklenburg-Vorpommern umgesehen und spürt in vier Kapiteln, die das Bundesland unterteilen, 48 wahren Kriminalfällen nach, die sich zwischen dem 14. und dem 20. Jahrhundert ereignet haben. Mordende Diener, Münzfälscher, als Hexen verfolgte Frauen oder Räuber, die ihren Opfern in dunklen Wäldern auflauerten: Sie alle sind in diesem Buch vertreten, das Lingnau mit zahlreichen Fotos illustriert hat. Früher war man auch mit der Art der Bestrafung nicht zimperlich: Wer "Glück" hatte, landete im Kerker; oft waren aber auch Vierteilungen oder Köpfungen das Mittel der Wahl, um einen Täter zu bestrafen. 

Rübe ab! ist trotz des ernsten Hintergrunds ein sehr unterhaltsames Buch, weil der Autor es versteht, den lange zurückliegenden Ereignissen durch seinen Schreibstil Leben einzuhauchen. Der Titel ist im Klatschmohn Verlag als Taschenbuch erschienen und kostet 9,80 Euro.


Wer sich gern mit Sprache beschäftigt, wird an diesem
Buch Gefallen finden: Der Schriftsteller und Satiriker Eckhard Henscheid hat mit Dummdeutsch erstmals 1985 seinem Unmut über den Verfall der deutschen Sprache Luft gemacht. Der damals vom Fischer Verlag herausgegebene Titel wurde im Reclam Verlag neu aufgelegt, mir liegt die Printversion aus dem Jahr 2017 vor. Henscheid ist Mitbegründer der Satirezeitschrift "Titanic" und so verwundert es nicht, dass seine Kritik nicht bitterböse, sondern humorvoll und messerscharf daherkommt. Dummdeutsch ist wie ein Lexikon alphabetisch aufgebaut, der Wortfundus reicht von A wie "Abbauen" bis Z wie "Zynisch". Henscheid belegt an Beispielen, wie die Bedeutung von bereits bestehenden Begriffen z. B. in der Werbung verhunzt wird oder neue Wörter ("Korngesund", "Gehirn-Jogging" oder "Entsorgungspark") kreiert wurden, um den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Und immer wieder stellt man beim Lesen fest, dass man selbst nicht frei davon ist, dummdeutsch daherzureden.

Der Titel ist im üblichen Format der kleinen Reclam-Bücher erschienen und kostet 7,80 Euro.


Zum Schluss stelle ich ein Buch vor, das sich an Kinder im Grundschulalter richtet, aber auch Erwachsenen die
ein oder andere neue Information bietet: Eine Reise durch die Zeit - Alfelds Geschichte für Kinder wurde von der Stadt Alfeld (Leine) herausgegeben und widmet sich der Geschichte der niedersächsischen Stadt in der Nähe von Hannover vom Jahr 1010 bis heute. Das Buch ist mit sehr vielen Zeichnungen und Fotos illustriert und zeigt, wie ähnlich sich die Entwicklungen deutscher Städte in vielen Dingen sind: der Dreißigjährige Krieg, der Einfluss der Kirche, die typische Ernährung der einfachen Bürger im Mittelalter, der Nationalsozialismus oder Feuersbrünste: Die Alfelder Stadtgeschichte ist nicht weniger abwechslungsreich als die größerer Orte. Hervorzuheben ist jedoch etwas, das weltweit nur wenige Städte vorzuweisen haben: Mit dem 1911 vom Architekten Walter Gropius entworfenen Fagus-Werk hat Alfeld ein UNESCO-Weltkulturerbe, das seit 2011 auf der Liste der wichtigsten Bauwerke der Welt steht.

Eine Reise durch die Zeit - Alfelds Geschichte für Kinder kostet 9,50 Euro und kann über das Forum Alfeld Aktiv e. V. vor Ort oder im Versand erworben werden.

Dienstag, 8. Dezember 2020

# 269 - Wer spricht denn da? Wir sind von immer mehr Algorithmen umgeben

Seit den 1950-er Jahren wird versucht, der menschlichen Sprache mit technischen Mitteln möglichst nahe zu kommen. Aber Sprache ist eben nicht nur der Austausch von Worten unter Verwendung der korrekten Grammatik. Menschliche Kommunikation setzt darüber hinaus eine Art Weltverständnis voraus, das Wissen um Hintergründe und Zusammenhänge. Der Autor und Journalist Christoph Drösser hat sich nicht nur Siri, Alexa & Co. angeschaut, sondern in seinem Buch Wenn die Dinge mit uns reden einen Ausblick auf die zu erwartende Weiterentwicklung der Kommunikation zwischen Mensch und Maschine gegeben.

Auch wer selbst keine "Alexa" in seinem Wohnzimmer hat, weiß, was der Sprachassistent kann: Er ist in Lautsprecher integriert und kann zahlreiche Smart Home-Geräte steuern. Alexa gehört zu den KI-Anwendungen, also zu dem, was heute unter "Künstlicher Intelligenz" verstanden wird. Mit einer mittlerweile sehr menschenähnlichen Stimme lauert die Software auf ihr Stichwort, das ihr signalisiert, dass ihr Nutzer etwas von ihr möchte: den aktuellen Wetterbericht, die Lieblingsmusik oder eine Lexikoninformation. Erweitert man das Grundgerät mit smarten Geräten, können per Sprachbefehl Saugroboter bedient, Heizkörper reguliert oder Türen geöffnet werden. Der Erfolg dieses und anderer Sprachassistenten beruht auf der Bequemlichkeit der Käufer: Viele alltägliche Dinge lassen sich mit der Stimme erledigen, sich wegen banalen Tätigkeiten aus dem Sofa hochzuquälen kann vermieden werden. 

Klar, dass das nur funktioniert, wenn die entsprechenden Geräte ununterbrochen online sind. Sie schicken alle Daten in eine Cloud und erhalten von dort Daten zurück. So "lernt" der Algorithmus ständig dazu - und dadurch, dass Mitarbeiter irgendwo auf der Welt mithören, was bei den Kunden passiert. Auf diese Weise soll der Grad der Perfektionierung weiter vorangetrieben werden.

Aber dieser Typus von Sprachprogrammen ist natürlich noch lange nicht der Weisheit letzter Schluss. Das Ziel ist ein Algorithmus, der sich am Sprachverständnis des Menschen orientiert und das möglichst so gut, dass er menschliche (Sprach-)Züge annimmt und als dessen Gesprächspartner agieren kann - und nicht bloß als auf der Reiz-Reaktion-Ebene verharrt. Bei aller Technikbegeisterung, die Christoph Drösser seinen Lesern vermittelt, mischt sich an dieser Stelle eine gehörige Portion Skepsis in seine Ausführungen. Insbesondere dann, wenn es um die Entwicklung von Sprachmodellen geht, die mit Deep Learning arbeiten und sich dazu eignen, einige Dinge in der Wirtschaft und der Gesellschaft umzukrempeln.

Das amerikanische Forschungsunternehmen OpenAI hat mit Generative Pre-trained Transformer 3 - oder kurz GPT-3 - ein solches Modell entwickelt. GPT-3 befindet sich seit Juli 2020 im Betatest und hat mit 175 Milliarden maschinellen Lernparametern das bislang führende Produkt Turing NLG von Microsoft, das erst im Februar 2020 eingeführt worden ist, mit seiner mehr als zehnfachen Kapazität überrundet.

GPT-3 ist zunächst einmal ein Textgenerator, der nicht versteht, was er schreibt. Das ist für Menschen jedoch kein Grund, sich beruhigt zurückzulehnen. Die Sprache ist zwar nicht identisch mit der eines Menschen und auch die Sinnhaftigkeit mancher von GPT-3 erstellter Texte lässt zu wünschen übrig. Das Sprachmodell eignet sich aber bestens für den Einsatz als Chatbot, für das Schreiben von Hausarbeiten im Grundstudium - und leider auch für die Verbreitung von Fake News, die vom durchschnittlichen Leser nicht mehr von wahren Meldungen unterschieden werden können, weil das Modell seinen Schreibstil an den von tatsächlich existierenden Schreibern wie z. B. bestimmten Zeitungsjournalisten anlehnen kann. Nicht zuletzt ist zu erwarten, dass durch den Einsatz von GPT-3 Menschen arbeitslos werden, die ihr Geld bislang mit dem Schreiben von Texten verdient haben. Wie bei allen Neuerungen hat die Medaille auch hier zwei Seiten.

Was Wenn die Dinge mit uns reden von zahlreichen anderen Sachbüchern unterscheidet, ist die Heranziehung von Fachkompetenz durch Interviews: Drösser befragt u. a. den Experten für KI und Sprachverarbeitung Richard Socher und die Stanford-Professorin Monica Lam, die mit ihrem Team das Open-Source-System Almond entwickelt hat, das in Konkurrenz zu Alexa und Siri treten soll.

Lesen?

Wer sich mit Sprachassistenz und -modellen bereits beschäftigt hat, wird in Christoph Drössers Buch auch Bekanntes antreffen. Aber jedem, der sich hierfür interessiert, kann der Titel empfohlen werden, weil sich der Autor und seine Interviewpartner dem Thema von verschiedenen Blickwinkeln aus annähern. Die Sorge, vor lauter Fachbegriffen nicht zu verstehen, worum es geht, ist unbegründet: Drösser schreibt so, dass ihm auch Techniklaien folgen können.

Wem der Name des Autors bekannt vorkommt, hat von ihm möglicherweise schon Artikel in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT gelesen. Drösser war dort lange Redakteur und hat das Ressort "ZEIT-Wissen" gegründet. Etliche Jahre hat er außerdem in der Kolumne "Stimmt's?" Fragen von Lesern beantwortet wie z. B. Verhindert ein Löffel im Flaschenhals, dass Sekt über Nacht schal wird? (Antwort: Nein, von ihm natürlich ausführlich begründet.)

Wenn die Dinge mit uns reden ist 2020 im Dudenverlag erschienen und kostet als Klappenbroschur 16 Euro sowie als E-Book 13,99 Euro.

Freitag, 4. Dezember 2020

# 268 - Ein Leben auf der Suche nach Liebe

Delia Owens hat mit ihrem Roman Der Gesang der Flusskrebse 2019 einen Bestseller veröffentlicht, der seinen großen Erfolg verdient hat. Die Hauptperson Catherine Clark, die von allen Kya genannt wird, lebt mit ihren Eltern und vier Geschwistern im Marschland an der Küste von North Carolina, in der Nähe der beschaulichen fiktiven Küstenstadt Barkley Cove. Ihr Lebensweg ist mehr als ungewöhnlich.

Kya wird 1945 als jüngstes Kind der Familie geboren und erfährt nur Armut und Gewalt. Ihr Vater ist Weltkriegsveteran, und was er im Krieg erlebt hat, hat ihn zu einem trunksüchtigen Schläger gemacht. Die Kriegsversehrtenrente verspielt und versäuft er fast vollständig in einer heruntergekommenen Kneipe. Die Mutter versucht, ihren Kindern Liebe zu geben und die Familie zusammenzuhalten. Doch nach vielen quälenden Jahren ist sie mit ihren Kräften am Ende und verlässt Mann und Kinder kurz vor Kyas siebtem Geburtstag.

Ihr Weggang lässt die Familie förmlich erodieren: Innerhalb weniger Tage verlassen  die drei ältesten Geschwister ebenfalls ihr Zuhause – wie die Mutter ohne ein Wort. Zum Schluss geht auch Jodie, der Bruder, der Kya immer am nächsten stand. Er bittet seine Schwester um Verständnis, aber sie fragt sich, warum sie von allen alleingelassen wird und sie niemand mitnimmt. Sie fühlt sich zum ersten Mal völlig verlassen.

Allein mit ihrem Vater versucht Kya, ihm möglichst aus dem Weg zu gehen. Oft kommt er tagelang nicht nach Hause, und wenn er da ist, ist er unberechenbar. Trotzdem wird ihre Beziehung nach einer Weile etwas besser. Doch dann – Kya ist jetzt acht Jahre alt - ist ein Brief von ihrer Mutter im Briefkasten. Das Mädchen erkennt die Handschrift auf dem Umschlag, lesen kann sie ihn nicht: Sie war nur einen Tag in der Schule, will aber nie mehr dorthin, weil sie von den anderen Kindern verspottet und ausgelacht wurde. Der Inhalt des Briefs führt zu einem Wutanfall ihres Vaters.

Als Kya zehn Jahre alt ist, kommt ihr Vater immer seltener nach Hause und dann gar nicht mehr. Von da an schlägt sie sich allein durchs Leben. Sie bleibt in der windschiefen Hütte und ernährt sich von dem, was sie findet und anbaut. In Barkley Cove nennt man sie nur „das Marschmädchen“. In der sozialen Hierarchie steht Kya ganz unten – nach den Schwarzen und den anderen Marschbewohnern. Ihre schlechten Erfahrungen mit Menschen machen sie scheu und misstrauisch, sie vermeidet es, in die Stadt zu fahren. Sie beschäftigt sich lieber mit den Tieren und Pflanzen um sie herum. Lange ist Jumpin‘, der einen kleinen Laden und eine Bootstankstelle betreibt, ihr einziger Kontakt. Er und seine Frau Mabel versuchen, Kya zu unterstützen und respektieren ihre spezielle Art zu leben.

Später lernt sie den freundlichen und geduldigen Tate kennen, der sich wie sie oft mit seinem Boot in der Marsch aufhält, um zu angeln oder Tiere zu beobachten. Er ist Kya zwar sympathisch, aber ihre Menschenscheu hält sie auf Abstand zu ihm. Er bringt ihr Lesen bei und öffnet ihr damit das Tor zu einer neuen Welt.

Einige Jahre später verliebt sie sich in den Kleinstadtcasanova Chase, einen jungen Mann mit reichen Eltern und überbordendem Ego. Aber Chase hält nichts von dem, was er Kya verspricht und heiratet eine andere Frau. In Barkley Cove wird über das Verhältnis getuschelt, wovon Kya nichts ahnt. 1969 wird Chases Leiche unter dem alten, maroden Feuerwachturm gefunden. Er ist an den Folgen eines Sturzes gestorben und die Einwohner und die Polizei von Barkley Cove haben sofort Kya in Verdacht, den jungen Mann getötet zu haben. Alles, was sie entlastet, wird in der Beweisführung so verdreht, dass es sie belastet. Sie wird angeklagt und muss mit der Todesstrafe rechnen.

Lesen?

Der Gesang der Flusskrebse ist ein ungewöhnlich anrührender Roman, der seine Leser das ganze emotionale Spektrum nachfühlen lässt, dass Kya durchlebt: die enge Verbundenheit zu der Natur um sie herum, das tiefe Gefühl des schuldlosen Verlassenwerdens, die große Bindungsangst aufgrund der vielen enttäuschenden Erfahrungen und trotzdem immer die Hoffnung, eines Tages zu jemandem zu gehören und eine Familie zu haben. Delia Owens schafft es, diese ganze Bandbreite zu vermitteln, ohne ins Kitschige abzugleiten. Das Buch gehört zu denen, die man nach dem letzten Wort nicht einfach zuklappen kann. Das Gelesene hallt noch eine Weile nach.

Der Gesang der Flusskrebse ist 2019 bei hanserblau erschienen und kostet als gebundenes Buch 22 Euro, als Taschenbuch 11,99 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.