Von hüben nach drüben – ein Risiko für alle Beteiligten
Mit Der Wels – Freiheit oder Diktatur hat Hans-Gerd Pyka
seinen zweiten Roman veröffentlicht. Besonders interessant: Die Handlung ist
nicht völlig frei erfunden, sondern beruht auf den Erlebnissen des in den
1960-er bis 1980-er Jahren bekannten Fluchthelfers Kay Mierendorff, der mehr
als 1.000 DDR-Bürgern zur Flucht nach Westdeutschland verhalf.
Was ist die Motivation für die Fluchthilfe im großen Stil?
Am 18. Dezember 1966 beginnt für den jungen Max Weidendorf so
etwas wie ein neues Leben: Der 21-Jährige tritt in Berlin eine Stelle als
Leiter der Alliierten-Wohnungen in der Zehlendorfer Siedlung Onkel
Toms Hütte an. Das Viertel ist von den US-Streitkräften besetzt, amerikanische
Soldaten und ihre Familien sind von nun an seine Kunden. Zum Job gehören außer dem Monatsgehalt von
3.000 DM eine große, moderne Dienstwohnung und ein Dienstwagen. Seine Frau
Carola bekommt ebenfalls eine Stelle. Doch Max weiß schon an seinem ersten
Arbeitstag, dass ihm das auf Dauer nicht reicht: Er will einmal richtig viel
Geld verdienen. Dieses Ziel steht für ihn über allen anderen. Schon Tage später
„erweitert“ Max seine Arbeit um neue Betätigungsfelder: Er vermittelt Autos an
US-Soldaten und verhökert US-Ware. Das bringt schon in den ersten beiden Wochen
in der „Onkel Tom“ 2.500 D-Mark ein. Max hat Blut geleckt.
Max‘ „Karriere“ als Fluchthelfer beginnt durch einen Zufall
Als eine der Wohnungen am nächsten Tag neu vergeben werden
soll, der Vormieter aber den Schlüssel nicht abgegeben hat, muss ein Handwerker
kommen, um das Problem zu beheben. Es erscheint Lutz. Er bohrt das Schloss auf,
weigert sich aber, sich um einen weiteren Schaden zu kümmern. Es ist Freitag,
und Lutz hat eine Einreiseerlaubnis zu seiner Tante in Ost-Berlin. Tatsächlich
will er in Ost-Berlin seine Freundin Julia besuchen, die nur bis Sonntag Zeit
hat. Der mit Max befreundete Soldat Frank Miller spricht aus, was den Anstoß
für alles Weitere gibt: „Warum holen wir das Fraulein nicht rüber?“, fragt er
in gebrochenem Deutsch. Der Transfer ist sehr einfach: Zwischen West- und
Ost-Berlin gibt es zu diesem Zeitpunkt keine Kontrollen für die Fahrzeuge der
drei westlichen Besatzungsmächte. Doch auch, was zunächst so simpel aussieht,
muss sorgfältig geplant werden. Julias Einstieg in einen Jeep der US-Army darf
niemandem auffallen, und die geliehene Uniform muss Max tadellos passen.
Eigentlich war diese Aktion nur als Testlauf gedacht, doch Julia beschließt, im
Westen zu bleiben. Für diesen Transfer verlangt Max noch keine Bezahlung.
Durch einen weiteren Zufall kommt es zur nächsten
Fluchthilfe, bei der es nun auch um Geld geht. Ilse Barnick will zusammen mit
ihrem Sohn aus Ost-Berlin flüchten. Von ihrem geschiedenen Mann weiß Max, dass
die Frau „Judengold“ besitzt, das von einem SS-Sturmbannführer stammt. Mit dem
Gold kann sie in der DDR nichts anfangen, aber sie kann damit Max für seine
Fluchthilfe bezahlen. Die Fluchthilfe gelingt, vom Gold ist anschließend keine
Rede mehr. Max geht leer aus. Doch Schaden macht klug: Er lernt aus jedem
Fehler und perfektioniert sein System so erfolgreich, an dem sich immer mehr
Menschen, darunter einige US-Soldaten, beteiligen, dass die Fluchthilfe seine
Haupteinnahmequelle wird. Die Arbeit als Hausverwalter erledigt er nebenbei und
mit der Hilfe seiner Frau.
Max erreichen immer mehr Hinweise auf Menschen, die die DDR
verlassen wollen. Ganz überwiegend sind es solche, die über eine akademische
Ausbildung und Berufserfahrung verfügen: Ärzte und Ingenieure sind darunter,
die im Westen ihr Glück finden und eine Zukunft in Freiheit haben wollen. Max
bekommt eine erste Warnung der CIA, sich künftig nicht mehr der Hilfe von
Mitgliedern der amerikanischen Streitkräfte zu bedienen – und ignoriert sie. Es
läuft gerade einfach zu gut für ihn: Mit seiner Fluchthilfe will er einerseits
unzufriedenen DDR-Bürgern zu einem besseren Leben im Westen verhelfen,
andererseits aber auch Geld verdienen. Es dauert nicht lange, bis er pro erfolgreichem
Transfer fünfstellige Beträge verlangt, die auch in Raten abbezahlt werden
können. Carola sieht die Geschäfte ihres Mannes zwiespältig: Einerseits hat sie
Angst vor den möglichen Konsequenzen, andererseits übernimmt sie ab 1968 die
Buchführung und nimmt sich dafür aus dem häuslichen Tresor monatlich 1.000 DM
zu ihrer freien Verfügung. In der ersten Hälfte des Jahres 1968 macht Max mit
der Fluchthilfe sowie dem Handel mit Autos und US-Waren einen Gewinn von 93.000
DM. Doch im Laufe der Zeit werden sich die Eheleute zunehmend fremd, was nicht
ohne Folgen bleiben soll.
Keine Flucht bleibt unbemerkt
Der spürbare Abgang von Bürgern ist natürlich auch der
Staatssicherheit der DDR ein Dorn im Auge. Max fühlt sich zunächst zwar
verfolgt, aber es ist nicht mehr als ein vages Gefühl, für das es keine Belege
gibt. Doch im Oktober 1971 wird eine Prostituierte ermordet aufgefunden, bei
der Max Stammgast gewesen ist. Mit ihr wurde ein Freier ermordet, der kurzfristig
den ansonsten für Max reservierten Termin bekommen hat. Max hat zum ersten Mal
Angst und legt sich eine Pistole zu. Auch Carola hat jetzt manchmal den
Eindruck, verfolgt zu werden.
Mit dem ab Juni 1972 gültigen Reiseabkommen zwischen der BRD
und der DDR öffnet sich für Max und seinen immer größeren Helferkreis eine neue
Tür: Westdeutsche können nun ohne große Probleme nach Ost-Berlin und in die DDR
reisen. Max weitet das Geschäft aus und wird dabei immer professioneller. Nur
sehr selten fliegt eine Flucht auf. Er erfährt allerdings zu spät vom Plan
seines Bruders Manni, einer jungen Frau und ihrem Kind zur Flucht zu verhelfen.
Mannis dilettantische Aktion fliegt auf, er wird verhaftet und zu 15 Jahren
Gefängnis verurteilt. Max wird den Verdacht nicht los, dass sein Bruder ein
Stück weit für ihn mit büßen soll.
Max‘ Team arbeitet später mit gefälschten Fahrbefehlen der
US-Army und immer neuen trickreich umgebauten Fluchtfahrzeugen. Da findet Max
Ende April 1972 den Mechaniker Jupp erhängt in seinem Haus auf; den Mann, der
durch seinen Einfallsreichtum und seine handwerklichen Fähigkeiten aus einem
normalen Fahrzeug ein ausgetüfteltes Fluchtfahrzeug machen konnte und so
entscheidend zum Erfolg der Fluchthilfeaktionen beigetragen hat. Ein Selbstmord
kann ausgeschlossen werden: Seine Hände sind ihm vor seinem Bauch
zusammengebunden worden.
Die beängstigenden Erlebnisse häufen sich, und Max
beschließt, die Fluchthilfe nicht mehr selbst durchzuführen, sondern sie nur noch
aus der Ferne zu leiten. Mit Carola und seinen 1968 und 1970 geborenen
Söhnen zieht er an die Ostsee nach Kellinghusen. Dort, so denkt er, wird ihn
die Stasi sicher in Ruhe lassen. Max trägt ab sofort vom Aufstehen bis zum
Schlafengehen eine schusssichere Weste. Aber er soll merken, dass er sich in
der Stasi entschieden geirrt hat: Sie beginnt, sich noch mehr für ihn zu
interessieren, als er eine neue Fluchtroute über die österreichisch-ungarische
Grenze zu nutzen beginnt.
Ein Vermächtnis
Jürgen Weiske, ein Freund Kay Mierendorffs und Herausgeber dieses
Buches, sorgte auf dessen Wunsch dafür, dass seine Erlebnisse in einem Roman
aufgearbeitet wurden. Das Erscheinen von Der Wels – Freiheit oder Diktatur im
Herbst 2016 hat Mierendorff nicht mehr erlebt: Er starb bereits vier Jahre
zuvor an Krebs. Das Buch trägt die Widmung „gewidmet all jenen, die es nicht
geschafft haben“. Es lehnt sich trotz seiner fiktiven Elemente so stark an das
von Mierendorff Erlebte an, dass es starke autobiographische Züge hat.
Hans-Gerd Pyka hat auf dieser Grundlage einen spannenden Roman vor dem
Hintergrund der deutschen Geschichte zu Zeiten des Kalten Krieges geschaffen, der
durch immer wieder eingestreute Hinweise auf das damalige politische Geschehen
eine große Authentizität hat.
Der Wels – Freiheit oder Diktatur ist bei epubli erschienen
und kostet als gebundene Ausgabe 25,99 € sowie als Kindle- oder epub-Edition
9,99 €
Es ist wohl ein sehr interessantes Buch, was auch aber zeigt, dass Fluchthilfe, je nach Sichtweise, durchaus auch willkommen sein kann, in diesem Fall fand es die BRD unterstützenswert. Dieses Buch kommt auf die Wunschliste. Danke für die Rezension.
AntwortenLöschenIch habe gelesen, dass das von Seiten der BRD damals ambivalent gesehen wurde: Die Bundesregierung hat viel Geld ausgegeben, um gescheiterte Fluchthelfer und Flüchtlinge freizukaufen. Für die DDR waren insbesondere die gut qualifizierten Flüchtlinge auf jeden Fall ein Verlust, aber diejenigen, denen die Flucht nicht gelungen war, brachten dem Staat durch die Freikäufe Devisen ein. Es hat eben alles immer mehrere Seiten.
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