Der kanadische Autor Denis Thériault veröffentlichte 2010 den Roman Das Lächeln des Leguans, mit dem ich meine Reihe mit Büchern kanadischer Autoren beginne. Anlass ist die diesjährige Frankfurter Buchmesse, deren Ehrengast Kanada sein wird. Ich werde bis zum Beginn der Messe daher in unregelmäßigen Abständen Titel aus Kanada vorstellen.
Darum geht es
Thériault schreibt über die Freundschaft zweier elfjähriger Jungen aus der Sicht des einen, der hier als Ich-Erzähler auftritt. Er lebt nach dem schweren Unfall seiner Eltern, bei dem sein Vater ums Leben kam, bei seinen Großeltern und hofft auf die Genesung seiner im Koma liegenden Mutter.
In dieser schweren Zeit lernt er den kauzigen Luc kennen, der auf ihn zunächst wie ein Fremdkörper wirkt. Die beiden freunden sich an und Luc erschließt seinem neuen Begleiter nach und nach seine Welt: Da ist der alkoholkranke, gewalttätige und heruntergekommene Vater, der sein Geld mit der Fischerei im Sankt-Lorenz-Strom verdient. Und da ist Lucs Mutter, die vor vielen Jahren spurlos verschwand und deren Kleidung am Ufer des Stroms gefunden wurde. Der Junge glaubt fest daran, dass seine Mutter eines Tages wiederkehren wird und flüchtet sich in eine maritime Traumwelt, in der phantasievolle Figuren eine Rolle spielen.
Luc glaubt fest an die Macht des Leguans. Er hat das vor langer Zeit präparierte Tier mit den eindringlich funkelnden Augen zufällig gefunden und huldigt ihm nun wie einem Gott. Luc hat für den Leguan eine einsame Höhle eingerichtet, das tote Reptil gibt ihm Halt und Hoffnung und verhilft ihm seiner Meinung nach zu mitreißenden und visionären Träumen.
Die Freunde verbringen schon bald fast die ganze Zeit miteinander und überstehen gemeinsam einige dramatische Erlebnisse. Nicht nur, dass dem Erzähler der Geist seines toten Vaters erscheint, der ihm eine schwierige Aufgabe stellt; auch Luc findet etwas über seine Vergangenheit und die seiner Eltern heraus, was ihn innerlich zerbrechen lässt. Sein Freund hält auch dann zu ihm und erweist ihm einen letzten Dienst. Eine sehr schwere Entscheidung, die man nicht einmal einem Erwachsenen zumuten möchte und schon gar nicht einem elfjährigen Jungen.
Lesen?
Das Lächeln des Leguans ist ein sehr anrührender und phantasievoller Roman, der von der Kraft der Freundschaft und der Magie erzählt. Leseempfehlung!
Das Lächeln des Leguans ist 2010 bei dtv erschienen und kostet als E-Book 11,99 Euro. Die broschierte Ausgabe ist nur noch antiquarisch erhältlich.
Mit Die Ladenhüterin feierte die japanische Autorin Sayaka Murata in ihrer Heimat große Erfolge. Was dazu beigetragen haben dürfte: Sie weiß, wovon sie schreibt.
Keiko Furukura ist 36 Jahre alt, ledig und arbeitet seit 18 Jahren als Aushilfe in einem Konbini, einem japanischen Gemischtwarenladen, der das ganze Jahr rund um die Uhr geöffnet hat. Der Besitzer hat in der Zwischenzeit gewechselt, von den Kollegen der ersten Stunde ist niemand mehr da und Keiko erlebt den mittlerweile achten Filialleiter.
Keiko ist zufrieden mit ihrer Arbeit, oder besser: Sie geht in ihr auf. Alles, was ihr Leben ausmacht, tut sie im Dienste des Konbinis. Sie ist eins geworden mit dem Laden. Er gibt ihr das, was das Leben außerhalb des Geschäfts ihr nicht bieten kann: Stabilität und Gleichförmigkeit.
Die Verkäuferin war schon in ihrer Kindheit anders als ihre Mitmenschen: Unfähig, sich in die Gedanken- und Gefühlswelt der Menschen um sie herum hineinzuversetzen, eckte sie mit ihrer eigenen Logik immer wieder an. Sie war nie zu tiefen Gefühlen anderen gegenüber in der Lage und wurde zum Sorgenkind ihrer Eltern.
Der Job im Konbini wirkte damals auf ihre Familie wie ein Schritt in eine gute Zukunft: Endlich tat Keiko etwas aus eigenem Antrieb. Doch der fast zwei Jahrzehnte dauernde Stillstand behagt ihnen nicht: Warum lernte die Tochter nicht endlich einen Mann kennen, heiratete und bekam Kinder? Warum suchte sie sich nicht endlich eine richtige Arbeitsstelle?
Keiko spürt, dass die Menschen um sie herum von ihrer Lebensweise irritiert sind. Weil sie so weit wie möglich als normal wahrgenommen werden möchte, imitiert sie die Verhaltensweisen ihrer Kolleginnen und Bekannten.
Doch dann tritt Shiraha in ihr Leben. In dem nörgelnden Drückeberger, der für kurze Zeit ihr Kollege wird, erkennt sie Parallelen zu sich selbst: Beide sind sie Ausgestoßene der japanischen Gesellschaft. Warum sollte man sich da nicht einfach zusammentun?
Lesen?
Sayaka Murata greift in ihrem Roman das Korsett der gesellschaftlichen Konventionen in Japan auf. Das Leben hat in bestimmten Bahnen zu verlaufen, anderenfalls wird es als nicht erfolgreich angesehen.
Der Buchtitel kann hier doppeldeutig verstanden werden: Da Keiko mit 36 immer noch nicht verheiratet ist, ist sie nach den Vorstellungen der Gesellschaft eine Ladenhüterin. Doch sie hütet auch "ihren" Konbini wie ihren Augapfel, nichts darf dort das Wohlergehen der Kundschaft beeinträchtigen.
Die Autorin arbeitete selbst lange Zeit in einem Konbini und beschreibt die Atmosphäre und Arbeitsweise dort in einer einfachen und klaren Sprache. Die Ladenhüterin war in Japan ein sehr großer Erfolg, Murata wurde für ihr Buch mit mehreren japanischen Literaturpreisen ausgezeichnet. Klare Leseempfehlung!
Die Ladenhüterin ist 2018 im Aufbau Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 18 Euro sowie als E-Book 7,99 Euro.
Man sollte meinen, dass es in den letzten Monaten
genug Veröffentlichungen und Äußerungen im Zusammenhang mit Covid-19
gegeben hat. Ich finde das übrigens auch und hatte eigentlich nicht vor,
noch mehr als die tagesaktuellen Meldungen darüber zu lesen. Aber der
Zufall spülte mir beim Durchsehen des Angebots der Onleihe die Anthologie Corona und wir
auf den Bildschirm. Da war meine Neugier, was die 32 Autorinnen und
Autoren der geneigten Leserschaft zum Thema zu sagen haben, dann doch
geweckt.
Es
gibt grundsätzlich Einigkeit darüber, dass die uns bekannte Welt sich
"nach Corona" anders präsentieren wird. Wie genau, darüber gehen die
Meinungen allerdings weit auseinander. Die Äußerungen der Experten aus
den verschiedensten Disziplinen könnte man vielleicht so zusammenfassen,
wie es schon Sokrates vor mehr als 2.400 Jahren getan hat: "Ich weiß,
dass ich nicht weiß." Ein Grund, dieses Buch zur Hand zu nehmen, um sich
ein bisschen mehr Orientierung und Überblick zu verschaffen.
Corona und wir ist
nicht einseitig ausgerichtet; es kommen Fachleute zu Wort, die die
aktuelle und (mutmaßliche) künftige Situation aus verschiedenen
Blickwinkeln einschätzen und zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen
kommen.
Da ist zum Beispiel die Journalistin und Historikerin Anne
Applebaum, die die drastischen Beschränkungen anlässlich der Pandemie
sehr kritisch betrachtet und insbesondere die Grenzschließungen nicht
befürwortet: Sie kritisiert die aktionistische Art und Weise der
nationalen Abschottungen, hinter der keine Planung steckte. Sie weiß um
die Popularität dieser Handlungsweise, die jedoch die Verbreitung des
Virus' nicht aufhalten konnte. Viele Menschen können sich für hartes
staatliches Durchgreifen begeistern und beugen sich, wenn sie vor etwas
Angst haben.
Mit
dieser Haltung ist Applebaum nicht allein. Aber die MIT-Professorin
Esther Duflo und und der ebenfalls am MIT lehrende Professor Abhijit V.
Banerjee weisen auch auf die Notwendigkeit eines Staates hin, der
funktioniert: "Damit in Notzeiten ein gut regierter Staat für uns da
ist, müssen wir in normalen Zeiten einen solchen Staat fördern und auch
erwarten."
Doch
auch Schriftsteller wie Luca D'Andrea kommen zu Wort. Er macht sich
über den Unterschied zwischen Angst und Panik Gedanken, sein Leben vor
und nach Covid-19 und die Verbreitung der Krankheit in seiner Heimat
Italien.
Ich
will an dieser Stelle nicht auf jede/n Einzelne/n in diesem Buch
eingehen. Aber den Hinweis des Psychologen Gerd Gigerenzer möchte ich
noch aufgreifen: Er hält unsere Risikokompetenz für nicht ausreichend.
Die Gesellschaft muss lernen, mit Ungewissheiten zu leben und darf sich
nicht von ihnen in Geiselhaft nehmen lassen. Er erläutert, warum
ausgerechnet Covid-19 sowie in den vergangenen Jahren die Vogel- oder
die Schweinegrippe der Bevölkerung Angst gemacht haben, nicht aber in
diesem Ausmaß die Bedrohung durch beispielsweise Krankenhauskeime, mit
denen sich jährlich in Deutschland bis zu 600.000 Menschen infizieren
und an denen 10.000 bis 20.000 Menschen versterben - ebenfalls Jahr für
Jahr.
Lesen?
Corona und wir
habe ich zunächst skeptisch zur Hand genommen. Wie das so ist mit
unterschiedlichen Ansichten, haben mich einige Texte nicht überzeugt,
weil mir die Argumente nicht schlüssig erschienen. Aber das ist ein
normaler Prozess, wenn man sich verschiedenen Positionen nähert. Ich
empfehle das Buch, weil es dazu beiträgt, die eigenen Ansichten zu
hinterfragen und möglicherweise neu auszurichten.
Die
Erlöse aus dem Verkauf der Anthologie gehen an das Sozialwerk des
deutschen Buchhandels. Mit ihnen werden unverschuldet in Not geratene
Buchhändler unterstützt und die berufliche Aus- und Weiterbildung
bedürftiger junger Buchhändler gefördert.
Corona und wir ist im Penguin Verlag erschienen und wurde nur als E-Book herausgegeben. Es kostet 9,99 Euro.
"Ich habe noch nie jemanden so sterben gesehen." Das sagte der Henker Johann Reichhart mit Bewunderung über Hans und Sophie Scholl. Reichhart hat während der NS-Zeit 3.165 Menschen hingerichtet, für ihn war das Töten nichts anderes als ein Broterwerb. Sein Satz ist einer von vielen sehr eindringlichen Sätzen in dem Buch Jahrhundertzeugen - Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler des Journalisten Tim Pröse.
Pröse hat sich den Schicksalen von 18 Menschen genähert, die während der Zeit des deutschen Nationalsozialismus' Widerstand geleistet, Verfolgung erlitten und überlebt oder Verfolgten das Leben gerettet haben. Der Autor hat mit ihnen oder, sofern sie bereits verstorben waren, ihren nahen Angehörigen gesprochen, in manchen Fällen hat es sogar mehrere Treffen gegeben. Einige dieser Menschen sind der Öffentlichkeit bekannt, andere bekommen mit ihren Schicksalen erst durch dieses Buch Aufmerksamkeit.
Das Foto auf dem Schutzumschlag zeigt den Essener Industriellen Berthold Beitz. Als 26-jähriger Mann war Beitz Direktor der Karpaten-Öl AG in Boryslaw; der Ort befand sich im Zweiten Weltkrieg im deutsch besetzten Generalgouvernement Polen und gehört heute zur Ukraine. Die Firma galt als 'kriegswichtiger Betrieb'. Diesen Umstand nutzte Beitz, um Juden direkt aus den Waggons, die bereits am Bahnhof von Boryslaw auf ihre Abfahrt warteten und ihre 'Fahrgäste' in die Konzentrationslager bringen sollten, herauszuholen. Er behauptete, ihre Arbeit bei der Karpaten-Öl AG sei ebenfalls kriegswichtig und rettete damit einer großen Zahl von Menschen das Leben. Pröse widmet sich nicht nur dieser riskanten Rettung, sondern besuchte auch den wahrscheinlich letzten von Beitz Geretteten, der zu dem Zeitpunkt, als das Buch entstand, noch am Leben war: Jurek Rotenberg. Rotenberg war 14, als Beitz ihn als 'Arbeitsjude' im Unternehmen unterbrachte und vor der Gaskammer bewahrte. Anlässlich des 99. Geburtstages von Beitz trafen sich die beiden Männer nach 70 Jahren zum ersten Mal wieder - und Pröse war dabei. Er schildert sehr empathisch diese Begegnung, beschreibt die Umstände und die ersten Reaktionen. Es ist, als sei man dabei gewesen.
Nicht weniger berührend und tief schockierend sind die weiteren Berichte. Da ist zum Beispiel der von Franz J. Müller. Er gehörte zu den letzten Überlebenden der Weißen Rose. Zusammen mit den Geschwistern Hirzel, die ebenfalls wegen ihrer Aktivitäten in der Widerstandsgruppe angeklagt waren, saß er 1943 dem berüchtigten Präsidenten des Volksgerichtshofs Roland Freisler gegenüber. Im Gegensatz zu den Geschwistern Scholl, die in München hingerichtet wurden, erhielten die Drei nur geringe Strafen. Vor allem die wegen ihrer blonden Haare und blauen Augen als 'germanisches Mädchen' (O-Ton Freisler) bezeichnete Susanne Hirzel hatte es Freisler mit ihrem Aussehen angetan. Davon profitierten vermutlich auch die beiden mitangeklagten jungen Männer, die nur zu Haftstrafen verurteilt wurden und mit dem Leben davonkamen.
Eine andere Lebensgeschichte ist die des früheren Soldaten Kurt K. Keller. Am 6. Juni 1944 war er am sog. "Omaha Beach", dem Ort in der Normandie, an dem der D-Day stattgefunden hat. Er erzählt von seinem Erlebnis, das er sein Leben lang nicht losgeworden ist und das ihn auch nach mehr als 70 Jahren nachts hochschrecken lässt: dem Moment, als er einen auf ihn zustürmenden amerikanischen GI erschossen hat. Der tödlich getroffene Soldat sank in den letzten Sekunden seines Lebens in den Sand, legte Helm und Gewehr ab und betete. Dieser Anblick hatte Kellers Haltung zu Hitler auf einen Schlag verändert. Kurz danach desertierte er.
Jede einzelne Lebensgeschichte berührt. Manche sind so erschütternd, dass man nicht sofort weiterlesen kann. Alle Menschen, die Pröse noch selbst schildern konnten, wie ihr Leben während der NS-Disktatur verlaufen ist, berichteten von Albträumen, die sie den Rest ihres Lebens verfolgt haben. Viele haben ihre Erfahrungen weitergegeben, indem sie beispielsweise vor Schulklassen gesprochen haben. Die Zahl der Menschen, die das noch können, wird immer kleiner. In absehbarer Zeit wird es niemanden mehr geben, der aus erster Hand und damit authentisch berichten kann. Umso wichtiger sind Bücher wie dieses, die uns das Grauen des Nationalsozialismus' zeigen und die dazu beitragen, dass das, was damals passiert ist, nicht vergessen wird.
Jahrhundertzeugen - Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler ist im Heyne Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 19,99 Euro sowie als E-Book 15,99 Euro.
Nachtrag: Die Zeit berichtete 1966 über den Prozess gegen den SS-Obersturmführer Fritz Hildebrand, in dessen Verlauf sich Berthold Beitz und seine frühere Sekretärin Hilde Olsen nach 22 Jahren zum ersten Mal wiedersahen. Auch Olsen wurde von Beitz vor dem sicheren Tod gerettet.