Sonntag, 24. Juli 2022

# 357 - Man(n) muss sich nur zu helfen wissen - auf finnische Art

Antti Tuomainen ist ein in Finnland bekannter
Bestsellerautor, der mit mehreren Preisen ausgezeichnet wurde. Hier sagt sein Name den meisten Menschen nichts, aber das sollte sich ändern. Sein Buch Der Kaninchenfaktor war in kürzester Zeit auf Platz 1 der finnischen Buch-Charts.

Kann jemand, dessen ganzes 42-jähriges Leben bislang in geordneten Bahnen verlaufen ist und der sich in seinem Single-Dasein halbwegs gemütlich eingerichtet hat, von einem Moment auf den anderen eine 180°-Kehrtwende hinlegen? Wenn alle bisherigen Gewissheiten plötzlich nichts mehr gelten, wirft das so einen Menschen nicht völlig aus der Bahn? Der Versicherungsmathematiker Henri Koskinen hat keine Zeit, an diese Überlegung auch nur eine Sekunde zu verschwenden.

Henri hat einen ausgeprägten Hang zur Akribie. Ob es um seine Arbeit bei einem Versicherungsunternehmen oder sein Privatleben geht: Er berechnet alles, was sich berechnen lässt, bis auf die letzte Dezimalstelle. Doch die Situation im Büro hat sich sowohl zwischenmenschlich als auch räumlich geändert, und Henri weigert sich, sich an die neuen Bedingungen anzupassen. Das hat Folgen: Er wird von einem auf den anderen Tag arbeitslos. Seine kleine Welt ist aus den Fugen geraten.

In diese ausweglos scheinende Situation platzt ein Anwalt, der Henri die Nachricht vom Tod seines Bruders Juhani überbringt. Die beiden Geschwister standen sich nicht besonders nah und sahen sich sehr selten. Deshalb fühlt Henri auch keine besondere Trauer. Doch der Jurist hat noch eine weitere Nachricht im Gepäck: Der Bruder hat Henri zum Alleinerben seines Vermögens bestimmt, das einzig aus einem Abenteuerpark mit dem sinnigen Namen DeinMeinFun besteht. Den ersten Hinweis, dass es mit dem Park Probleme geben könnte, gibt der Verstorbene in seinem Testament: "Die Finanzen des Parks sind in einer gewissen Schieflage", soll sich als Untertreibung des Jahres herausstellen. 

Der Fehlbetrag von rund 63.000 Euro ist Henri zunächst ein Rätsel, weil DeinMeinFun viele Familien anzieht, die die Kasse klingeln lassen. Die Erkenntnis, was der Grund für die rätselhaften Geldabflüsse sein könnte, kommt Henri, als sich zwei dubiose Herren in seinem Büro einfinden. Es stellt sich heraus, dass Juhani Spielschulden und sich bei der örtlichen Mafia zu Wucherzinsen Geld geliehen hatte. Der absurd hohe Zinssatz führt zu einem explosiven Anstieg der Schulden, die Henri nach Meinung der beiden Kriminellen nun geerbt hat. Aber Henri ist zu ihrem Ärger nicht bereit, klein beizugeben. Das hat Folgen: Nach Feierabend lauert ihm ein Killer auf dem Parkgelände auf. Henri tötet den Angreifer mit dem überdimensionalen Metallohr eines riesigen Deko-Kaninchens. Hat die Bedrohung damit ein Ende?

Lesen?

Der Kaninchenfaktor ist ein witziges Buch mit vielen unerwarteten Wendungen. Antti Tuomainen scheint sich an Murphys Law "Alles, was schiefgehen kann, geht schief", gehalten zu haben, als er den zu Anfang überkorrekten und eigenbrötlerischen Henri von einer Herausforderung in die nächste stolpern lässt. Aber auf den spröden Versicherungsmathematiker passt auch die Redewendung: "Der Mensch wächst mit seinen Aufgaben." Henri verschreibt sich ganz der Rettung des Parks und findet überraschend die Liebe - die ihm kurze Zeit später schon wieder zwischen den Fingern zerrinnt.

Henris Hang zu Logik und Berechenbarkeit spielt für die Handlung eine große Rolle, aber Tuomainen lässt seinen Protagonisten nicht wie einen Fachidioten aussehen, sondern erklärt, wie dessen Wunsch, ein berechenbares Leben zu führen, entstanden ist. Da hat man Mitleid mit dem gebeutelten Mann.

Der Kaninchenfaktor ist 2021 im Rowohlt Verlag erschienen und kostet als Paperback 16 Euro, als Taschenbuch 13 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro. 
Im kommenden Herbst wird die Fortsetzung des Romans mit dem Titel Das Elch-Paradoxon erscheinen.

Freitag, 15. Juli 2022

# 356 - Hier werden Sprachschätze "gehoben"

Im letzten Monat hat der Duden Verlag seine 2021
begonnene Reihe Sprachschätze fortgesetzt, und zwar mit den Bänden Mode & Beauty sowie Sprache & Medien.

Wer denkt schon während des Sprechens darüber nach, woher der eine oder andere Ausdruck oder eine Redewendung kommt? Wir wissen zwar, dass eine Sprache immer im Fluss ist und sich ständig verändert, nehmen aber meistens das, was wir kennen und benutzen, hin, ohne es zu hinterfragen.

Den Ausdruck "Ich habe den roten Faden verloren" dürfte fast jeder kennen. Doch was hat es mit diesem "roten Faden" auf sich? Die britische Marine arbeitet seit dem 18. Jahrhundert in die ihr gehörenden Taue einen durchlaufenden roten Faden ein, um diese als ihr Eigentum zu markieren und Diebstähle zu erschweren.

Ihr verbindet mit Seife Sauberkeit? Heutzutage kann man das, aber das war nicht immer so. Das Wort Seife kommt aus dem Westgermanischen; den Germanen diente die Mischung aus Asche, Pflanzensäften und Talg nicht der Körperpflege, sondern der rituellen Rotfärbung der Haare.

Und was hat es mit dem Wort "verballhornen" auf sich? Geht es auf Bälle oder Hörner zurück? Nein, beides trifft nicht zu. Hier steht ein Buchdrucker aus Lübeck im Mittelpunkt, der Ende des 16. Jahrhunderts einen so peinlichen Fehler gemacht hat, dass man aus seinem Nachnamen Balhorn ein neues Wort kreiert hat. Um welchen Fehler es sich gehandelt hat, kann im Band Sprache & Medien nachgelesen werden.

Lesen?

Die zur Reihe Sprachschätze gehörenden Bände sind alphabetisch aufgebaut und erklären auf 127 Seiten moderne und traditionelle Wörter sowie ihre Herkunft und Abwandlungen. Wer sich für die Entwicklung der deutschen Sprache interessiert, wird die Bücher gern lesen.

Die Reihe Sprachschätze ist im Duden Verlag erschienen, jeder Titel kostet 10 Euro. 2021 wurden bereits die Bände Tiere & Pflanzen, Körper & Gesundheit, Essen & Trinken sowie Kunst & Kultur veröffentlicht.

Freitag, 8. Juli 2022

# 355 - Ein großer Roman über ein hundertjähriges Leben

Die chilenisch-amerikanische Erfolgsautorin Isabel Allende ist in ihrem neuesten Roman Violeta einem vertrauten Muster treu geblieben: Sie setzt sich auch hier für die Rechte der Frauen ein und hat folgerichtig eine Frau in den Mittelpunkt gestellt.

Violeta del Valle wird 1920 als jüngstes Kind einer bürgerlichen Familie in Südamerika geboren. Zu dieser Zeit bahnt sich die Spanische Grippe ihren Weg in ihre Heimat. Der Vater handelt jedoch vorausschauend und schickt die ganze Familie in häusliche Quarantäne. Alle überleben, aber die später folgende Weltwirtschaftskrise bricht ihnen finanziell das Genick. Die Schande treibt den Vater in den Selbstmord, die Familie ist nun nahezu mittelos. 

Violetas älterer Bruder schickt seine Schwester, die Mutter, die Tanten und das britische Kindermädchen in das wilde Hinterland, wo sie bei einem älteren Lehrerehepaar unterkommen. Die Lebensverhältnisse sind sehr einfach, doch die Familie gewöhnt sich irgendwann daran. Hier wächst Violeta zu einer jungen Frau heran, die ihrem Herzen folgt. Sie heiratet einen wohlhabenden deutschen jungen Mann und kommt so mit dem Nationalsozialismus in Berührung. Doch diese Ehe soll nicht ihre einzige bleiben.

Isabel Allende hat ihren Roman als Violetas Brief an ihren Enkel Camilo angelegt, in dem diese nicht nur über die Höhen und Tiefen schreibt, die sie im Laufe der Jahrzehnte erlebt hat, sondern auch historische Begebenheiten einflicht. Violeta entwickelt sich von einem Anhängsel ihres ersten Mannes zu einer eigenständigen Frau, die ihr eigenes Geld verdient, häusliche Gewalt erlebt und dagegen ankämpft. Immer wieder werden gesellschaftliche Themen aufgegriffen wie z. B. der Kampf der Frauen um das Wahlrecht und ein selbstbestimmtes Leben.

Violeta enthält unübersehbare Parallelen zu Allendes eigener Geschichte: Die Schriftstellerin ist zum dritten Mal verheiratet, hatte etliche Affären und hat ebenso wie ihre Protagonistin ein Kind verloren. Sogar die Situation, wegen einer Krise flüchten zu müssen, hat Allende selbst erlebt.

Lesen?

Violeta ist ein großer Familienroman, der in einer Pandemie beginnt und hundert Jahre später, kurz vor Violetas Tod, in einer anderen - der heutigen - Pandemie endet. Allende beschreibt Violeta sehr facettenreich, in Bezug auf deren Kinder sind allerdings nur wenige tiefe Emotionen spürbar. Violeta kümmert sich zwar um sie, doch das Verhältnis zu ihnen wirkt distanziert.

Der Schreibstil des Romans wirkt etwas irritierend: So, wie Allende formuliert, würde man nicht einen persönlichen Brief schreiben. Mit Ausnahme einiger hin und wieder eingestreuter Passagen, in denen Violeta ihren Enkel direkt anspricht, passt die Wortwahl zu einer romanhaften Erzählung, aber nicht zu einem persönlichen und sehr privaten Schriftstück. Davon unabhängig ist das Buch sehr lesenswert und bietet einen tiefen Einblick in die Geschichte Südamerikas während der letzten einhundert Jahre.

Violeta ist 2022 im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 26 Euro, als E-Book 21,99 Euro sowie als Hörbuch-Download 18,95 Euro.


Freitag, 1. Juli 2022

# 354 - Inside BND: ein Roman aus dem Zentrum des deutschen Nachrichtendienstes

Der Name Carl Maria Ehrlicher ist ein Pseudonym. Der
Autor des Romans Das Tor der Tränen möchte aus einem nachvollziehbaren Grund unerkannt bleiben. Er kennt die Behörde, über die er schreibt, sehr genau: Etliche Jahre war er ein Agent des Bundesnachrichtendienstes (BND) im Außeneinsatz. Ehrlichers Dienstzeit war vor dessen Teil-Umzug von Pullach bei München nach Berlin im Jahr 2019.

Karl Häusler verkörpert (mutmaßlich) den damaligen Agenten Ehrlicher. Häusler rutscht Ende der 1960-er Jahre in den neuen Job beim BND hinein, ist zuerst neugierig, wird aber immer frustrierter, je länger seine Tätigkeit dauert. Seine Motivation, sich nach einer neuen Stelle in einer anderen Behörde oder einem Unternehmen umzusehen, ist dennoch bei null angekommen: Er ist der Überzeugung, im Grunde zu nichts anderem mehr als zur Spionage zu taugen.

Ehrlicher beschreibt sehr genau, wie der normale Agenten-Alltag aussieht. Spoiler: Von James Bond ist er himmelweit entfernt. Es geht um Dienstreiseanträge, Spesenabrechnungen, die kleinen Fluchten während der Dienstzeit und natürlich Vorgesetzte, die nicht unbedingt aufgrund ihrer großartigen Leistungen eine Leitungsfunktion bekommen haben. Das ist alles keine Überraschung, aber atmet den Geist der Zeit, in dem der Roman spielt.

Ehrlicher hat die Handlung zwischen Dezember 1978 und Oktober 1980 angesiedelt. Damals war Helmut Schmidt Bundeskanzler, Hans-Dietrich Genscher Außenminister und sein Parteifreund Klaus Kinkel BND-Präsident.
Aus einer hingeworfenen Bemerkung in der letzten Sitzung des außen- und sicherheitspolitischen Ausschusses vor der Weihnachtspause 1978, "was der Geheimdienst denn eigentlich zum Jemen wüsste", entsteht eine sich nach und nach aufbauschende Operation, deren zentrale Figur Agent Häusler ist. Die Informationen, die sein jemenitischer Kontakt mit dem Tarnnamen "Kalif" ihm bringt, werden von der BND-Aufklärung allerdings aktiv ignoriert. Erst als sich herausstellt, dass der Iran wie von "Kalif" vermutet Seeminen in den Hafen von Aden transportiert, die dann mit LKWs zu einem weiteren Ziel an der Küste gebracht werden, wird Häusler nachdenklich. Tatsächlich sind die Seeminen dazu bestimmt, die Schiffspassagen durch die Meeresstraße Babd al-Mandab (deutsch: Tor der Tränen) zu unterbinden, durch die vor allem Rohöl transportiert wird.

"Kalif" und Häusler treffen sich zum Informationsaustausch in verschiedenen Ländern. Der Informant ahnt erst allmählich, dass er vom jemenitischen Geheimdienst überwacht wird. Die Überwachung wächst sich zu einer ernsthaften Bedrohung aus. 
Häusler steht ganz anderen Problemen gegenüber: Während einer Dienstreise nach Stockholm, die wegen eines Treffens mit "Kalif" stattfindet, lernt er eine Schwedin kennen. Beide verlieben sich Hals über Kopf ineinander. Die Probleme, die sein Beruf und die immer intensiver werdende Beziehung mit sich bringen, werden von Häusler zunächst ignoriert, verdichten sich jedoch schnell immer mehr.
Die Handlung läuft sowohl für ihn als auch seinen Informanten auf eine Katastrophe zu.

Lesen?

Das Tor der Tränen lässt bedeutsame Ereignisse der Zeit um 1980 wieder aufleben: die Flucht des letzten iranischen Schahs Mohammad Reza Pahlavi ins US-Exil, die Rückkehr des schiitischen Führers Ruhollah Musawi Chomeini und die Geiselnahme von 52 Angehörigen der US-Botschaft in Teheran durch iranische Studenten werden wieder in Erinnerung gerufen. Auch die Rolle des damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter wird in den Fokus gerückt. Der Roman ist ein interessanter weltpolitischer Rückblick und macht deutlich, wie der "alte" BND mit Krisen umgegangen ist. Wenn man den Schilderungen von Carl Maria Ehrlicher folgt, wurden viele von ihnen zu spät erkannt, weil man den Vorzeichen keine Bedeutung zugemessen hat. Daran waren oft Eitelkeiten und Ignoranz schuld.

Helmut Schmidt hat übrigens darauf verzichtet, sich Berichte des BND vorlegen zu lassen. Er war der Meinung, diese seien zu sehr von der politischen Ausrichtung des Berichterstatters gefärbt und hielt sich lieber an die Artikel der Neuen Zürcher Zeitung.

Das Tor der Tränen ist 2022 im Salon Literaturverlag erschienen und kostet als Hardcover-Ausgabe 21,50 Euro.