Sonntag, 25. Juni 2023

# 398 - Der Fassadenkletterer - eine deutsch-polnische Geschichte

Mona ist Schwester, Mutter einer erwachsenen Tochter
und Tochter eines Vaters, über dessen Vergangenheit sie kaum etwas weiß - und steht sich zu oft selbst im Weg. Der Kontakt zu Bruder Richard ist schwierig, Tochter Alisa ist von ihrer Mutter und deren Sprunghaftigkeit und Unzuverlässigkeit überwiegend genervt. Einen Partner hat Mona nicht; ihre Beziehungen zu Männern beginnen euphorisch und versickern dann. Man kann vermuten, dass Mona Angst vor zu engen Bindungen hat.

Das Leben der Drei könnte in den gewohnten Bahnen und Konstellationen weitergehen, aber dann klingelt eines Tages Monas Telefon. Am anderen Ende der Leitung ist Piotr, der Sohn von Dariusz, des früher besten Freunds ihres verstorbenen Vaters Martin, aus Poznań (früher: Posen). Piotr hat im Nachlass seines Vaters Briefe gefunden, die sie, Mona, sicher interessieren würden. Mona ist sofort Feuer und Flamme und beschließt, nach Poznań zu reisen und sich vor Ort ein Bild zu machen. Sie überredet Richard und Alisa, sie zu begleiten, und gemeinsam Nachforschungen in Polen anzustellen. Dass sich die Wege der Drei schon bald nach ihrer Ankunft trennen werden, ahnen sie nicht. In Der Fassadenkletterer schickt Angela Schmidt-Bernhardt ein ungleiches Trio nach Polen und damit in ein Land, über das viele Deutsche trotz der direkten Nachbarschaft sehr wenig wissen.

Die gemeinsam begonnene Reise in die Vergangenheit bringt nicht nur Licht in das Leben, das Martin vor seiner Auswanderung von Poznań nach Deutschland geführt hat, sondern bringt sie auch einem Stück polnischer Geschichte näher: Im Juni 1956 kam es zum Posener Arbeiteraufstand, an dem 100.000 Menschen teilnahmen und in dessen Verlauf die polnische Armee auf die eigenen Bürger schoss. Fast 60 Menschen starben, etwa 600 wurden verletzt. Dieser Aufstand hatte zahlreiche Parallelen zum Volksaufstand in der DDR und Ost-Berlin am 17. Juni 1953, über ihn ist außerhalb Polens jedoch kaum etwas bekannt. Martin und Dariusz waren damals mitten drin, aber auch Martins Schwester Hanka und Dariusz' Schwester Małgorzata.

Lesen?

Angela Schmidt-Bernhardt hat in ihrem Roman die Fragen gestellt, die viele von uns beschäftigen: Woher komme ich? Wie wurde meine Familie so, wie ich sie kenne? Und letztlich: Wie beeinflusst es mein Leben, wenn ich Dinge über einen geliebten Menschen erfahre, die dunkle Schatten auf meine Erinnerungen an ihn werfen? Der Fassadenkletterer ist ein Roman über Familie, Liebe, Freundschaft, Zusammenhalt und die Probleme, die es damit geben kann. Und natürlich über polnische Geschichte. Schmidt-Bernhardt hat daraus einen sehr lesenswerten Roman gemacht, an dessen Ende ein neuer Anfang steht.

Der Fassadenkletterer ist 2023 im Anthea Verlag Berlin erschienen und kostet als Klappenbroschur 22,90 Euro.




Freitag, 16. Juni 2023

397 - Das stille Verschwinden einer Lebensform - ausgezeichnet mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2023

Ewald Frie ist Professor für Neuere Geschichte und seit
knapp zwei Wochen Preisträger des Deutschen Sachbuchpreises 2023. Für das Schreiben seines Bestsellers Ein Hof und elf Geschwister hat ihm sicher sein Beruf geholfen, aber auf jeden Fall sein familiärer Hintergrund: Frie (Jg. 1962) und ist das neunte von elf (überlebenden) Kindern, die zwischen 1944 und 1969 geboren wurden. Die Familie bewirtschaftete einen Hof in der Bauerschaft Horst bei Nottuln. Der Vater war ein im Münsterland geachteter Rinderzüchter. Für eines seiner rotbunten Tiere gewann er 1950 auf der Westfalenschau in Münster eine Auszeichnung. Rotbunte Rinder geben etwas weniger Milch als ihre schwarzbunten Verwandten, sie haben jedoch mehr und besseres Fleisch als diese. Danach richtete sich damals die Züchtung aus.

Frie blickt auf eine Kindheit und Jugend zurück, in der viele Umbrüche stattgefunden haben. Da ihm jedoch bewusst ist, dass der Zeitpunkt seiner Geburt seine Sicht auf die Familiengeschichte sowie die Veränderungen in der Landwirtschaft entscheidend beeinflusst, hat er sich im Sommer 2020 auf den Weg gemacht und alle seine Geschwister - vier Schwestern und sechs Brüder - interviewt. Wie wuchsen sie als Bauernkinder auf? Was hat ihren Alltag bestimmt? Welche der ihnen aufgetragenen Arbeiten machten sie gern und welche empfanden sie als schlimm? Wie war der Kontakt zu den Nachbarn und wie der zum Dorf? Was haben sie damals vermisst? Worauf blicken sie positiv zurück?

Die Antworten der Geschwister sowie das Ergebnis einer gründlichen Recherche ergeben ein Bild der drastischen Veränderungen in der Landwirtschaft, die hier exemplarisch für den Hof Frie und die Bauerschaft dargestellt werden, sich aber sehr ähnlich in ganz Deutschland abgespielt haben. Am deutlichsten wird dies mit einem Blick zurück in die 1950-er und 1960-er Jahre: Kam die bäuerliche Verwandtschaft zu Besuch, war ein Rundgang durch den Rinderstall, bei dem die Männer fachsimpelten, immer üblich. Die Frauen sahen sich zeitgleich die eingeweckte Obst- und Gemüseernte an, die die Regale füllte.

Frie stellt auch fest, dass der Beruf des Bauern in dieser Zeit sehr viel öffentlicher war: Eine repräsentative Umfrage ergab 1955, dass das Melken auf dem fünften Platz der Tätigkeiten stand, die die Menschen sich zutrauten - nach Radfahren, Suppe kochen, schwimmen und stricken, aber vor Auto fahren. Welche Kuh wird heute noch von Hand gemolken? Auf Hoffesten steht manchmal eine Holzkuh, an der man sich ausprobieren kann. Das hat mit der Realität nichts mehr zu tun. Die Verbraucher haben kein konkretes Bild mehr von der Arbeit der Bauern und sich von der Landwirtschaft entfremdet. 
Vor etwa 60 Jahren sahen jedoch auch diejenigen, die mit der Landwirtschaft nichts zu tun hatten, Bauern arbeiten, vielfach noch lange mithilfe von Pferden oder Kühen, die den Pflug zogen. Das Berufsbild war insgesamt öffentlicher als heute.

Das Buch veranschaulicht, wie sich die Lebenswelt der Bauern nach und nach veränderte. Hatte man zuerst noch Personal, wurde dies mit der fortschreitenden Technisierung nicht mehr benötigt. Es kam der Zeitpunkt, an dem nur noch Familienmitglieder auf dem Hof arbeiteten. Die Anschaffung eines Traktors zog Folgeinvestitionen nach sich. Um den Hof zu modernisieren, wäre der Bau neuer Wirtschaftsgebäude nötig gewesen. Doch Vater Frie war dazu 1960 nicht mehr bereit: Er war nun fünfzig Jahre alt. Ewald Frie weist auf dessen starke körperliche Belastung nach Jahrzehnten in der Landwirtschaft hin: "Seine beste Zeit lag hinter ihm. Seinem Körper waren die harten Arbeitsjahre bereits anzusehen." Frie sen. registrierte, dass sich die Anforderungen an die Rinderzucht verändert hatten: Fleisch wurde weniger wichtig, nun war die Milchmenge das bedeutendste Kriterium, um die Qualität eines Tieres zu beurteilen. Fries Erfahrungen und Kenntnisse hatten sich überholt.

Aus dem, was Fries Geschwister über ihr Leben auf dem elterlichen Hof erzählen, wird sehr deutlich, wie sehr sich ihre Wahrnehmung unterschied aufgrund ihres Alters und welchen Einfluss die fortschreitenden gesellschaftlichen Veränderungen auf ihren Alltag hatten. Beurteilten die älteren die Gefriergenossenschaft, bei der sich mehrere Landwirte Gefriertruhen teilten, als Fortschritt, wurde sie von den jüngeren amüsiert belächelt. Auch das Verhältnis zu den Dorfbewohnern gestaltete sich je nach Alter der Brüder und Schwestern unterschiedlich.

Ewald Frie betrachtet auch die Lebensumstände der Bäuerinnen und deren Kinder bis in die 1970-er Jahre hinein, die gelinde gesagt hart waren. Fries Bruder Kaspar, der einige Jahre in einem kirchlichen Internat verbrachte, beschrieb, wie seine Sommerferien verliefen: "Sommerferien - du kamst nach Hause, umziehen, arbeiten. So. Und es gab ja keinen Tag, wo du nichts machen musstest, und nachher waren die Ferien zu Ende, wieder zum Internat."
Bevor Wasserleitungen in die Wohnhäuser und Ställe verlegt wurden, war es die Aufgabe der Bäuerinnen, die Tiere zu tränken. Eine Untersuchung über diese Zeit stellt fest, dass eine Bauersfrau täglich 461 Liter Wasser trug. Der gerade Gang war damals ein Anzeichen für ein auskömmliches Leben.

Auch der Hof Frie wurde moderner, aber nicht modern genug. Weniger Einnahmen führten zu geringeren Investitionen. Die Geschwister spürten immer wieder den Geldmangel, vor allem die jüngeren, die eine stärkere Verbindung zum Dorf hatten und sich eher mit anderen Kindern verglichen. Es zeichnete sich ab, dass der Hof in seiner bisherigen Form nicht mehr lange bestehen würde. Das hatte selbstverständlich für alle Kinder Konsequenzen.

Lesen?

Ich kenne die Landwirtschaft vor dem Umbruch nur aus den Erzählungen meiner Eltern, die in einer ähnlichen Umgebung wie die Frie-Geschwister aufgewachsen sind, wenn auch nicht in Nordrhein-Westfalen. Als ich ein Kind war, habe ich erlebt, wie die letzten Schweine aus dem Stall meiner Großmutter abgeholt wurden. Deshalb hat mich das, was Ewald Frie in seinem Buch Ein Hof und elf Geschwister schildert, sehr interessiert. 

Was Frie beschreibt, trifft der Untertitel seines Buches genau: Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben. Mit diesem Abschied geht der Untergang einer eigenen Lebensanschauung sowie eines Familienmodells innerhalb eines Berufsstands einher, mit allen Vor- und Nachteilen. Ein Hof und elf Geschwister hätte ebenso in anderen Teilen Deutschlands angesiedelt sein können, die Entwicklung ist überall ganz ähnlich verlaufen.

Das Buch hat seine Entstehung übrigens der Corona-Pandemie zu verdanken: Da Institute und Archive 2020 geschlossen wurden, musste Frie andere Projekte auf Eis legen und konnte sich um dieses kümmern. Man kann seine Zeit schlechter nutzen, als ein so interessantes Werk zu verfassen, das sogar noch den Deutschen Sachbuchpreis bekommen hat.

Ein Hof und elf Geschwister ist 2023 im Verlag C.H. Beck erschienen und kostet als gebundenes Buch 23 Euro, als E-Book 17,99 Euro sowie als Hörbuch 18,95 Euro.

 


Freitag, 9. Juni 2023

# 396 - Chemieunterricht im Kochstudio

Elizabeth Zott ist Chemikerin. Damit könnte eigentlich
vieles gesagt sein, aber das ist es nicht. Der Haken ist: Zotts Geschichte beginnt in Bonnie Garmus' Debütroman Eine Frage der Chemie Anfang der 1950-er Jahre an einer Universität in Kalifornien. Die USA sind damals hinsichtlich der Frauenrechte sehr konservativ. Die ideale Frau sieht ihre Erfüllung in einer Heirat und der Erziehung von Kindern, das Heim hat sauber und die Mägen der Familienmitglieder haben voll zu sein. Wenn eine Frau überhaupt berufstätig ist, dann nur in untergeordneten und schlecht bezahlten Positionen.

Doch Elizabeth Zott, die die Welt nur unter logischen Gesichtspunkten beurteilt, leuchtet dieses Lebenskonzept nicht ein. Sie hat einen Master-Abschluss in Chemie und sieht ihren Platz im Labor einer Hochschule. Die für die Karriere wichtige Promotion hat sie nicht erreicht, weil sie den Versuch ihres akademischen Betreuers, sie zu vergewaltigen, durch effektive Gegenwehr verhindern konnte. Da ihr der Übergriff ihres Doktorvaters von offizieller Seite nicht geglaubt wird, wird ihr die Zulassung zum Promotionsprogramm entzogen.

Elizabeth Zott ist überaus scharfsinnig und geht trotz aller Rückschläge unverdrossen davon aus, dass das menschliche Handeln nur rational bestimmt sein sollte. Dass sie so zur Außenseiterin wird, nimmt sie in Kauf. Ihr Leben ändert sich deutlich, als sie zufällig den brillanten Chemiker Calvin Evans kennenlernt, der bereits mehrmals für den Nobelpreis nominiert wurde. Sie setzen sich über alle Konventionen hinweg und leben als unverheiratetes Paar zusammen. Calvin möchte Elizabeth heiraten, aber die junge Frau ist auch hier konsequent: Sobald sie Calvins Frau ist, würde sie seinen Nachnamen annehmen müssen und wäre als Mrs Evans nur noch ein Anhängsel ihres Mannes, aber keine eigenständige Person mehr.

Elizabeth wird schwanger. Doch bei einem Unfall kommt Calvin mit nur 28 Jahren ums Leben, bevor die gemeinsame Tochter geboren wird. Die Hochschulleitung schwingt die Moralkeule und entlässt Elizabeth, weil man keine unverheiratete Schwangere im Kollegium duldet. Mit der Geburt der kleinen Mad ist Elizabeth eine alleinerziehende mittellose Mutter.

Durch einen Zufall lernt sie Walter Pine, den Produzenten von Nachmittagssendungen im örtlichen Fernsehstudio, kennen, der sie überredet, der Mittelpunkt einer täglichen Kochshow zu werden. Elizabeth hat Schwierigkeiten, sich in dieser Rolle zu sehen, aber irgendwoher muss ja das Geld kommen. Zu ihrer und Walters Überraschung wird die ungewöhnliche Sendung "Essen um sechs" zum Quotenhit, obwohl sich Elizabeth nicht an das für sie vorgesehene Skript hält. Anstatt nur lächelnd in den Töpfen zu rühren, erklärt sie dem Publikum, welche chemischen Prozesse für das Gelingen der Gerichte verantwortlich sind. Anstelle einer Schürze trägt sie einen Laborkittel. Am Ende einer jeden Sendung sagt sie in die Kamera: "Kinder, deckt den Tisch. Eure Mutter braucht einen Moment für sich." Klar, dass das nicht jedem gefällt. Die Misogynie lauert hinter jeder Ecke. Als Elizabeth dann noch beiläufig erwähnt, dass sie Atheistin ist, bricht etwas über sie herein, was man heute als Shitstorm bezeichnen würde.

Lesen?

Eine Frage der Chemie ist sehr unterhaltsam und spannend geschrieben, sorgt jedoch oft dafür, dass sich beim Lesen der Blutdruck erhöht. Wir reden zu Recht oft und anhaltend darüber, welchen Ungerechtigkeiten heutige moderne Frauen ausgesetzt sind - trotz einer mehr als 100-jährigen Emanzipationsgeschichte. Aber das, was Elizabeth Zott hier widerfährt, ist eine Aneinanderreihung von Zumutungen, die nichts anderes zum Ziel haben, als kluge Frauen wie sie klein zu halten und mundtot zu machen. 

Habe ich gerade "Lesen" geschrieben? Ich habe das Buch nicht gelesen, sondern gehört. Das Hörbuch ist bei Osterwoldaudio, einem Imprint von Hörbuch Hamburg, erschienen und wird von Luise Helm großartig gesprochen. Das wurde mit dem Deutschen Hörbuchpreis 2023 in der Kategorie "Beste Unterhaltung" honoriert.

Eine Frage der Chemie ist 2022 als Buch im Piper Verlag zum Preis von 24 Euro erschienen. Das Hörbuch kostet 16,95 Euro, das E-Book 19,99 Euro.

Hinweis: Die Kombination aus kochen und Chemie gab es in der Bücherkiste vor einiger Zeit bereits mit dem Sachbuch Was uns schmeckt und was dahinter steckt, das von der promovierten Chemikerin Nikola Schwarzer geschrieben wurde. Auch dieses Buch ist sehr empfehlenswert.

Montag, 5. Juni 2023

# 395 - Gespräche voller Erkenntnisse

Der Publizist und Schriftsteller Max Dax hat Erfahrung
darin, sich mit einer besonderen Gesprächsführung auf Augenhöhe mit seinen Interviewpartnerinnen und -partnern zu begeben und ihnen zahlreiche Informationen zu entlocken. 1992 gab er das erste Exemplar der Zeitschrift "Alert" heraus, das wie sein von Andy Warhol veröffentlichtes Vorbild "Interview" darauf setzte, die Interviewten nicht zu provozieren und keine Dissonanzen entstehen zu lassen. "Alert" gab es immerhin zwölf Jahre auf dem deutschen Zeitschriftenmarkt.

Dax' Buch Dreißig Gespräche (veröffentlicht 2008) wurde zu einem Interview-Klassiker. Mit Was ich sah, war die freie Welt knüpft er daran an und stellt erneut Interviews mit mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten vor. 
Für den Einstieg wird jedoch Dax befragt. Die Publizistin und Autorin Katarina Holländer befragt ihn in einem per E-Mail geführten Interview u. a. nach seiner Motivation für die Gespräche und deren besonderem Wesen.   

Die spezielle Atmosphäre offenbart sich jedoch schon gleich beim ersten Interview, das Dax 2021 mit Horst Scheuer geführt hat. Scheuer ist ein insbesondere in Wien bekannter Gastronom, der dort und in Berlin mehrere Lokale betrieben hat, die zu Publikumsmagneten wurden. Dax' Fragen sind durch Wohlwollen geprägt, ohne dass sich der Autor anbiedern würde. Sie sind wie ein Schubs, den man einem Ball gibt, und bringen den interviewten Scheuer zum Erzählen - auch über die eigentliche Fragestellung hinaus. Schnell fallen die ersten Namen: Michel Würthle, Ingrid und Oswald Wiener sowie ihre Tochter Sarah (genau, die Fernsehköchin). Ihnen wird man in diesem Buch noch gesondert begegnen, und sowohl sie wie auch alle anderen Interviewpartnerinnen und -partner werden sich Dax öffnen und viel von sich preisgeben.

Der Untertitel des Buches 24 Gespräche über die Vorstellungskraft weist darauf hin, was alle, die hier zwischen 2001 und 2021 zu Wort gekommen sind, in ihrem Leben angetrieben hat: die Vorstellung dessen, was sein könnte und was sie erreichen könnten.
Der Kanon Verlag bewirbt das Buch auf seiner Homepage unter anderem mit diesem Satz: "
Max Dax verführt 24 weltberühmte und prägende Künstler: innen unserer Zeit zu den überraschendsten Antworten." Tatsächlich sind es ein paar mehr, denn in einem Fall handelt es sich nicht um ein Interview, sondern in einer Oral History tauschen sich u. a. der Schauspieler Bruno Brunnet, der Künstler Günter Brus, die Gastronomen Stephan Landwehr und Michael Würthle sowie das Ehepaar Wiener und ihre Töchter über das einst in Berlin legendäre Lokal "Exil" aus, in dem etliche Promis wie z. B. David Bowie, Quincy Jones oder Max Frisch ab 1972 ein und aus gingen. Amüsant liest sich der kurze Hinweis auf Christo: Der damals noch unbekannte Verpackungskünstler war gerührt, als ihm Sarah Wiener seinen Nachtisch einpackte.

Dax' Hinweis auf "weltberühmte" Künstler im Untertitel stimmt vermutlich nur, wenn man sich wie er seit Jahrzehnten in der Kunst- und Kulturszene bewegt. Mir waren selbstverständlich Grace Jones, Yoko Ono oder Björk bekannt. Namen wie Joe Zawinul, Mimmo Siclari oder Irmin Schmidt machten mich jedoch ratlos. Zum Glück lassen sich solche Bildungslücken in Sekundenschnelle beheben: Der Österreicher Zawinul war einer der einflussreichsten Jazz-Musiker des letzten Jahrhunderts, der Italiener Siclari hat Lieder der kalabresischen Mafia, der 'Ndrangheta, seit den 1970-er Jahren auf Musik-Kassetten eingesungen, und Irmin Schmidt ist einer der Gründer der 1968 gegründeten Avantgarde-Band CAN, die vor allem in den 1960-er und 1970-er Jahren ihre Erfolge hatte.

Die Interviews mit ihnen zu lesen, ist für sich genommen schon spannend. Doch es ist wirklich hilfreich, parallel zur Lektüre die Musik der Künstler zu hören und in ihre Zeit einzutauchen. Das gilt beispielsweise auch für Tony Bennett, mit dem sich Dax 2015 unterhalten hat. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich den 1926 geborenen Sänger und Entertainer in meiner Jugend als Interpreten von, nun ja, Kitsch wahrgenommen habe. Tatsächlich gehört er zu den bekanntesten Jazz-Interpreten der Welt und hat mit Lady Gaga zwei Alben aufgenommen (2014 und 2021). Ein gemeinsamer Auftritt der beiden im Jahr 2021 war gleichzeitig auch Bennetts letzter: Seine 2016 diagnostizierte Alzheimer-Erkrankung lässt es nicht mehr zu, weiterhin musikalisch tätig zu sein.

Lesen?

Was ich sah, war die freie Welt ist so etwas wie eine Entführung. Bekannte Persönlichkeiten öffnen sich Dax gegenüber auf eine andere Weise, als man es von Interviews der (Boulevard-)Presse gewohnt ist. Man reist mit ihnen Jahrzehnte in der Kulturgeschichte zurück und erhält Informationen über Zusammenhänge und Hintergründe, die man woanders noch nicht gelesen hat. An dieser Stelle wiederhole ich meinen Tipp, parallel zum Lesen die jeweils genannte Musik zu hören.

Was ich sah, war die freie Welt ist 2022 im Kanon Verlag Berlin erschienen und kostet als gebundenes Buch 28 Euro.

Tipp: Noch mehr Interviews von und mit Max Dax gibt es hier.