Samstag, 29. Juli 2023

# 403 - Wen interessiert Eishockey? Wie ein kleiner Ort in Schweden um diesen Sport kreist

Der erfolgreiche schwedische Schriftsteller Fredrik
Backman hatte mit dem Bestseller Ein Mann namens Ove seinen Durchbruch, aber der Roman Björnstadt steht dem in nichts nach.

Backman siedelt den fiktiven Ort inmitten der schwedischen Einsamkeit an. Es gibt jede Menge Wald, einige Seen und ein paar Arbeitsplätze. Das, worauf die Einwohner stolz sind, ist der Eishockeyverein. Die "Björnstadter Bären" hatten ihren letzten nennenswerten Erfolg zwar schon vor etlichen Jahren, aber der Sport ist das, was die Menschen zusammenhält. 

In Björnstadt liegt neun Monate im Jahr Schnee. Wer sich an die langen kalten Winter und die Einsamkeit nicht gewöhnen kann, zieht woanders hin. Die, die bleiben, sind entweder hier aufgewachsen oder gestrandet. Auf der Juniorenmannschaft der "Bären" ruhen die Hoffnungen der Stadt, denn sie hat es geschafft, bei den nationalen Meisterschaften ins Halbfinale zu kommen. Wenn die Jungs dieses und das Finalspiel gewinnen, profitiert Björnstadt von einem Geldregen. Das würde bedeuten: Durch mehr Sponsoren- und Preisgelder wäre der Bau eines neuen Eishockeystadions und eine bessere Ausrüstung möglich. Das würde junge Talente aus anderen Landesteilen anziehen, die Siegchancen des Clubs würden steigen... Ein Erfolg der Juniormannschaft würde so etwas wie ein finanzielles Perpetuum Mobile in Gang setzen.

Der Star der Mannschaft ist der 17-jährige Kevin Erdahl. Seitdem er sechs Jahre alt ist und sein außergewöhnliches Talent erkannt wurde, wurde eine Mannschaft um ihn herum aufgebaut, die ihn unterstützt und eisern nach außen zusammenhält. Kevins Eltern sind wohlhabend und die Hauptsponsoren des Vereins. Ihr gefühlsarmer Umgang mit ihrem Sohn wird durch ein Leben kompensiert, in dem es an nichts fehlt, was mit Geld gekauft werden kann. Mit Skepsis blicken sie auf Kevins besten Freund Benji, mit dem er sich auch ohne Worte versteht. Die beiden Jugendlichen sind auch in der Mannschaft ein untrennbares Team, aber Kevins Eltern missfällt Benjis soziale Herkunft mit einer Mutter, die ihre vier Kinder allein großzog, nachdem sich der Vater erschossen hat.

Tatsächlich schafft das Juniorenteam der "Bären", was vor einiger Zeit niemand für möglich gehalten hätte, und gewinnt das Halbfinale. Die Hoffnungen von ganz Björnstadt liegen nun noch schwerer auf den Schulter der 15- bis 17-jährigen Spieler. Aber erstmal wird der Sieg im Haus der Erdahls gefeiert. Kevins Eltern sind - wie so oft - auf Geschäftsreise. Der Alkohol fließt in Strömen, und die in Kevin verliebte Tochter des Sportdirektors, Maya, hofft, ihrem Schwarm an diesem Abend näher zu kommen. Doch das, was dann passiert, wird sie ein Leben lang traumatisieren und die Stadt vor eine Zerreißprobe stellen, deren Ausgang entscheidend für ihre Zukunft sein wird.

Lesen?

Björnstadt ist der erste Teil einer Trilogie, die sich um die Stadt dieses Namens und ihre Bewohner dreht. Fredrik Backman hat mit diesem Buch einen Pageturner geschrieben, in dem es um Loyalität, Freundschaft, Homophobie und Misogynie geht. Der Autor beschreibt Verhaltensweisen der Jungen und Männer, die sich über Generationen hinweg etabliert haben und nie hinterfragt wurden. Wie sehr sich das rächt, wird durch das, was sich während der Party ereignet, deutlich.

Backman beschreibt die wichtigsten Charaktere sehr genau. Auch wenn das den Fortgang der Handlung etwas bremst, ist es wichtig, um die Atmosphäre in Björnstadt und die Handlungsweisen der Personen nachzuvollziehen und zu verstehen. 

Björnstadt ist in einer Neuauflage 2023 im Goldmann Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 16,95 Euro, als Taschenbuch 12 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro. Unter dem Titel Kleine Stadt der großen Träume wurde der Roman bereits 2017 im S. Fischer Verlag veröffentlicht.
Die nachfolgenden Bände haben die Titel Wir gegen euch und Die Gewinner.

Sonntag, 23. Juli 2023

# 402 - Frauen, die schreiben, leben gefährlich

Der Autor und Lektor Stefan Bollmann hat schon
einige Bücher veröffentlicht, in denen es ums Schreiben oder Lesen geht, in der Mehrzahl spielen Frauen darin die Hauptrolle.

Das ist mit dem Buch Frauen, die schreiben, leben gefährlich nicht anders. Bollmann hat sich beispielhaft die Biographien von 36 schreibenden Frauen angesehen, die zwischen dem 12. (Hildegard v. Bingen) und 21. Jahrhundert (Arundhati Roy) leben oder gelebt haben. 

Der Buchtitel legt nahe, dass die schreibenden Frauen um ihr Leben fürchten mussten, wenn sie ihrer Passion nachgingen. Doch ganz so ist es nicht. Allen ist gemeinsam, dass sie durch ihr Schreiben oder das, was sie geschrieben haben, in Schwierigkeiten geraten sind: sei es, weil sie es neben den Pflichten, die ihnen die gesellschaftlichen Konventionen oder der Ehemann auferlegten, das, was sie am liebsten Taten, irgendwie zeitlich unterbringen mussten; sei es, weil ihnen kein geeigneter Platz zum Schreiben zur Verfügung stand; sei es, weil man das, was ihnen am Herzen lag, nicht ernst nahm. Einigen dieser Frauen setzte ihre unbefriedigende Situation so zu, dass sie sich das Leben nahmen.

Bollmann hat die Kurzporträts der schreibenden Frauen in chronologischer Reihenfolge angeordnet, jedoch thematisch auch in sieben Kapitel unterteilt, denen er jeweils eine Erläuterung vorangestellt hat. Da geht es um "Ahnherrinnen schreibender Frauen" oder auch "Weibliche Stimmen der Weltliteratur". 

Das von Elke Heidenreich stammende Vorwort nimmt den Buchtitel wörtlich und stellt Frauen, die das Schreiben in den Tod getrieben hat, in den Mittelpunkt. Dabei stellt sie die Frage, warum "gerade die klügsten, die schöpferischsten, die begabtesten Frauen so sehr am Leben [verzweifeln], dass sie es nicht mehr aushalten können?" Die Antwort, die sie postwendend gibt, zeigt das Dilemma, in dem sich Frauen sowohl in früheren Jahrhunderten als auch heute befinden, wenn sie sich selbst verwirklichen wollen - egal, ob sie schreiben oder etwas ganz anderes tun wollen, das ihnen wichtig ist. Und, ja: Der Schlüssel für diese Zerrissenheit lag und liegt überwiegend bei den Männern. Da ist es kein Wunder, dass Bollmann in seiner Betrachtung von Christine de Pizan (1365-1430), einer der ersten Schriftstellerinnen, die vom Schreiben leben konnte, diesen Ausspruch zitiert:

Liebe Frauen, denkt stets daran, wie sehr die Männer euch der Leichtfertigkeit und Schwäche bezichtigen, wie gewaltige Anstrengungen sie aber andererseits unternehmen, euch in Netzen einzufangen. Flieht, flieht, liebe Frauen."

In seinem Nachwort gibt Stefan Bollmann einen Überblick über die Entwicklung, die das Schreiben für Frauen genommen hat. Spoiler: Freiherr v. Knigge war im 18. Jahrhundert nicht begeistert, dass "Frauenzimmer" professionell mit Literatur umgehen wollten.

Lesen?

Frauen, die schreiben, leben gefährlich gibt einen sehr guten Eindruck über die Probleme, mit denen Frauen fertig werden mussten, die nicht nur daheim das eine oder andere Buch lesen, sondern sich selbst aktiv in die Literaturszene einbringen wollten. Da stellt sich natürlich die Frage, ob sich daran heute etwas entscheidend geändert hat. Bei manchen der Porträts kann man durchaus einen Bogen in die heutige Zeit schlagen und erkennt, dass zahlreiche Schriftstellerinnen bei der Ausübung ihres Berufs anderen Bedingungen unterworfen sind als ihre männlichen Kollegen: Eine Pilotstudie des Projekts #frauenzählen ergab 2018, dass zwei Drittel der in Feuilletons rezensierten Bücher von Männern geschrieben und in der Mehrzahl von Männern besprochen wurden. Kurzum, aus der Sicht der Frauen: Da geht noch was.

Frauen, die schreiben, leben gefährlich ist in der mir vorliegenden Ausgabe 2014 als Insel-Taschenbuch 4295 im Insel Verlag Berlin erschienen und kostet 9,95 Euro.

Samstag, 15. Juli 2023

# 401 - Ein Komplott im Weinkeller fordert Todesopfer

Der Krimi Bittertrauben von Karin Joachim spielt wie
sein 2016 erschienener Vorgänger Krähenzeit im Ahrtal. Auch in diesem Buch steht die Kriminaltechnikerin Jana Vogt im Mittelpunkt des Geschehens. 

Jana wurde von ihrem Vorgesetzten in den Innendienst umgesetzt, weil er sie nach den Vorfällen des letzten Falls (Krähenzeit) für nicht belastbar hält. Sie ist mit ihrem Beruf nicht mehr glücklich und denkt deshalb über einen Neustart als Fotografin nach. Als sie am Wettbewerb einer Wein-Zeitschrift teilnimmt, gewinnt sie die Möglichkeit, in einem Weingut in Rech während eines Tages der offenen Weingüter ihre Landschaftsfotos auszustellen.

Während sie vor Ort die letzten Vorbereitungen trifft, hört sie zufällig ein Gespräch, in dem es um die Vorbereitung eines Komplotts zu gehen scheint. Da sie als nordrhein-westfälische Polizeibeamtin keine Befugnisse hat, in Rheinland-Pfalz tätig zu werden, wendet sie sich wieder an Hauptkommissar Clemens Wieland, einen Kollegen aus Koblenz.

So schwammig der Verdacht auch sein mag: Clemens vertraut Janas Instinkt und folgt ihr an die Ahr. Dort trifft sich im Weingut anlässlich der Veranstaltung eine sehr gemischte Gruppe. Der Redakteur der Wein-Zeitschrift übernimmt wortreich die Vorstellungsrunde, und außer zwei anderen Gewinnerinnen hat sich auch ein Krimi-Autor eingefunden. Doch Clemens erkennt auch einen Privatdetektiv wieder, der sich so gut wie möglich im Hintergrund hält. Etwas rätselhaft finden sowohl Clemens als auch Jana ein Ehepaar, das mit seinem Wohnmobil auf Urlaubsreise ist und sich unbedingt zur Weinprobe dazugesellen will.

Wenige Stunden später hat sich die Zahl der Übernachtungsgäste um einen verringert: Ein Mann wird tot auf der Brücke über die Ahr gefunden. Obwohl Jana nur aus privaten Gründen gekommen war, kann sie ihre Neugier nicht zügeln und hält die Augen auf. Wie bereits in Krähenzeit wird sie von ihrem Airdale Terrier Usti begleitet, dessen feine Nase sie schon bald zum zweiten Toten führt. Mehrere Gäste geraten in den Fokus der Ermittlungen, und es ist fraglich, ob der Tag des offenen Weinguts wie geplant stattfinden kann.

Lesen?

Bittertrauben hält die Leserinnen und Leser durchweg bei der Stange und vereint den Regional- mit dem Cosy-Krimi. Wie nebenbei beschreibt Karin Joachim nicht nur die eigentliche Handlung, sondern auch die Schönheit des Ahrtals, das wieder als Schauplatz des Verbrechens dient.

Das zerstörerische Ahr-Hochwasser ist nun zwei Jahre her, die Scheinwerfer der Medien richten sich nur noch selten auf die Gegend, in der viele Menschen ihr Leben und andere ihre wirtschaftliche Existenz verloren haben. Um den Wiederaufbau zu unterstützen, sollte das Weinanbaugebiet immer wieder Aufmerksamkeit erhalten. Dazu tragen auch Bücher wie dieses bei, die zwar vor der verheerenden Flut veröffentlicht wurden, aber beschreiben, wohin die Region letztendlich wieder will.

Bittertrauben wurde 2018 im Gmeiner Verlag veröffentlicht und kostet 12 Euro (Taschenbuch). Der Krimi ist der zweite Band einer mittlerweile fünfteiligen Reihe.

Sonntag, 9. Juli 2023

# 400 - Weisse Sonne - eine gelungene Mischung aus Krimi und Western

 J. Todd Scott setzt in seinem Buch Weisse Sonne die
in Die weite Leere begonnene Handlung fort und stellt Sheriff Chris Cherry in den Mittelpunkt. Cherry, der zuvor der Stellvertreter seines korrupten Vorgängers Stanford Ross gewesen war, will dessen Stil auf keinen Fall fortsetzen und schart Deputys um sich, denen er vertraut. Sein Zuständigkeitsbereich ist das Big Bend County, eine heiße, windige und staubige Gegend in Texas, ganz in der Nähe der mexikanischen Grenze.

Eigentlich gilt das County als ruhig und arm an Aufregungen. Doch in der verlassenen Siedlung Killing lassen sich Mitglieder der hochkriminellen Neonazi-Vereinigung Aryan Brotherhood of Texas (ABT) nieder. Was die Gruppe, die sich um einen Schwerverbrecher, der sein halbes Leben im Knast gesessen hat, sowie seine beiden ungeliebten Söhne, schart, hier vor hat, ist lange unklar. Doch dann stellt sich heraus, dass sie auf einen selbsternannten Prediger wartet, der in dieser Einöde eine reinweiße Stadt aufbauen will. Als ein junger Mann, der als Flussführer am Rio Grande gearbeitet hat, ermordet aufgefunden wird, führen alle Spuren zu den neuen "Mitbürgern".

Sheriff Cherry nimmt die Ermittlungen auf, doch dann wird er von einem FBI-Agent an seiner Arbeit gehindert: Der Anführer der ABT-Gruppe wurde von ihm als Spitzel angeheuert. Als Gegenleistung hatte der Agent dafür gesorgt, dass der Mann umgehend aus der Haft entlassen worden ist. Widerwillig fährt Cherry sein Engagement zurück, lässt die Nazis aber nicht aus den Augen. Was er zunächst nicht weiß: Eines der Mitglieder ist Danny Ford, der sich in die Gruppe eingeschleust hat, um dessen Anführer so nah wie möglich zu kommen. Das Ziel des Afghanistan-Veteranen und Ex-Miarbeiters des Texas Department of Public Safety ist, den Tod seines Vaters, der vor neunzehn Jahren von eben diesem Anführer in seiner Dienstausübung als Ranger erschossen wurde, zu rächen. 

Cherry ahnt auch nicht, was in seiner neuen Polizistin America Reynosa vorgeht, deren Einstellung er immer wieder gegenüber konservativen Kräften in der Gegend verteidigen muss, für die die junge Frau drei Makel hat: Sie ist weiblich, eine Mexikanerin und mit dem Boss eines Drogenkartells verwandt. Dass sie von Schuldgefühlen zerfressen wird, weil sie mit diesem Kartell vor einiger Zeit einen Deal gemacht hat, um ihren ermordeten Bruder zu rächen, macht sie mit sich selbst aus. Das soll später zu einem Problem werden.

Und dann ist da noch Deputy Ben Harper, der den Tod seiner Frau nicht verarbeiten kann und seine Trauer im Alkohol ertränkt. Er ist Cherry ein guter Ratgeber und Freund, hängt aber manchmal noch an den alten Gepflogenheiten, wie sie unter Sheriff Ross üblich waren. Sein Credo, das er seinem Boss, der ihn aus dem Ruhestand zurückgeholt hat, immer wieder unter die Nase reibt: Agieren statt reagieren.

J. Todd Scott hat sein Buch in zwei Perspektiven aufgeteilt: Danny Ford erzählt seinen Part der Geschichte aus der Ich-Perspektive und ermöglicht den Leserinnen und Lesern so Einblicke, die allen anderen in der Handlung genannten Figuren verborgen bleiben. 
Das übrige Geschehen wird aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters geschildert. So gelingt es Scott, den Verlauf seines Krimi-Westerns so aufzubauen, dass sich erst nach und nach erschließt, wie die einzelnen Geschichten der im Zentrum stehenden Personen, die zu Beginn nichts miteinander zu tun zu haben scheinen, aufeinander zu laufen.

Lesen?

Schon der Umstand, dass es sich bei Weisse Sonne nicht "nur" um einen reinen Krimi handelt, sondern typische Western-Elemente verwendet werden, macht das Buch sehr interessant. Scott schafft es, dass man die sengende Hitze spürt, die auf allen und allem lastet, und die Angst bei den Polizisten als auch den Verbrechern, die sich immer weiter steigert, greifbar ist. Das Ende ist wie in einem klassischen Western: Feuer und Wasser sorgen für ein furioses Finale, und erneut lernt man, dass es gar nicht so einfach ist, immer zu den Guten zu gehören.

J. Todd Scott arbeitet seit über zwanzig Jahren als Agent bei der Drug Enforcement Administration (DEA). Seine Kenntnisse sind in dieses Buch eingeflossen. Bereits 2019 wurde der dritte Teil der Serie, This Side of Night, veröffentlicht. Man kann nur hoffen, dass die deutsche Übersetzung ebenfalls bald im Polar Verlag erscheinen wird.

Weisse Sonne ist 2023 im Polar Verlag erschienen und kostet 27 Euro, als E-Book 20,99 Euro.

Sonntag, 2. Juli 2023

# 399 - Unsichtbare Mauern - Die Autobiographie einer der wichtigsten politischen Journalistinnen

Hella Pick wurde als Kind jüdischer Eltern 1929 in
Wien geboren. Die Familie führte bis zur Scheidung der Eltern ein bürgerliches Leben, diese trennten sich jedoch, als ihre Tochter drei Jahre alt war. Hella wuchs bei ihrer Mutter auf; der Vater wanderte 1938 in die USA aus. Von ihm hat Hella Pick seitdem nichts mehr gehört.

Die Situation der Juden in Österreich verschlechterte sich mit dem Beginn des von Adolf Hitler ausgerufenen "Anschlusses" des Landes an Deutschland stark. Im Frühling 1939 kam Hella Pick mit einem der Kindertransporte nach London, wo sie von einer britischen Familie aufgenommen wurde. Drei Wochen später gelang es auch ihrer Mutter, nach London auszureisen. Es sollte allerdings noch eine Weile dauern, bis es den beiden möglich war, wieder zusammen zu wohnen.

Hella Pick blickt in ihrer Autobiographie Unsichtbare Mauern auf ein langes und ereignisreiches Leben zurück. Der Untertitel Die abenteuerliche Reise einer der größten politischen Journalistinnen zu den Gipfeln und Abgründen der Zeitgeschichte trifft zum größten Teil das, was Pick ihren Leserinnen und Lesern in ihrem Buch vermittelt: Durch Fleiß, Beharrlichkeit und - wie sie selbst zugibt - einer guten Portion Glück nimmt Pick viele Hürden in ihrem Leben.

Höhere Schulbildung und das spätere Studium waren nur durch Stipendien und Zuschüsse möglich, da Picks Mutter nur wenig Geld verdiente. 1947 schloss sie ihr Studium ab und wollte unbedingt bei den Vereinten Nationen arbeiten. Doch die Quotierung nach dem Herkunftsland der Bewerber verhinderte diesen Wunsch. Später, nachdem sie sich dem Journalismus zugewendet hatte, wurde ihr klar, dass sie bei der UNO nicht glücklich geworden wäre.

1948 erhielt Hella Pick die britische Staatsbürgerschaft. Sie arbeitete in Wien, Paris und Afrika und schrieb ab 1961 als Korrespondentin für die britische Tageszeitung The Guardian aus Washington und New York, war jedoch in der ganzen Welt unterwegs. Viele bekannte Persönlichkeiten, die sie beruflich kennenlernte, wurden zu ihren Freunden. Ihre Gesprächspartner waren z. B. John F. Kennedy, Lech Wałęsa, Nicolae Ceaușescu oder Willy Brandt. Picks Reportagen sind am Puls der Zeit und die Ereignisse, über die sie bis zu ihrem Ausscheiden beim Guardian 1996 geschrieben hat, sind Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses. Die Dekolonisierung afrikanischer Staaten ab Mitte der 1940-er Jahre, der Kalte Krieg und die Gründung der "Bewegung der Blockfreien Staaten" 1961, die Invasion von Indien in Goa und die damit einhergehende Glaubwürdigkeitskrise der UNO im selben Jahr, die Watergate-Affäre um US-Präsident Nixon bis zum Zerfall der Sowjetunion und dem Beginn der Jugoslawienkriege Anfang der 1990-er Jahre sowie der Brexit: Hella Pick war vor Ort und hat darüber berichtet.

Nach 35 Jahren beim Guardian hat sich Pick neu orientiert und u a. eine Biographie über den sog. "Nazijäger" Simon Wiesenthal geschrieben. Sie, die ihre jüdische Identität lange Zeit verdrängt hatte, beschreibt ein nächtliches Gespräch mit Willy Brandt 1971, dessen Wirkung sie als "kathartisch" bezeichnet: Erst dann schaffte sie es, mit Deutschland nicht automatisch den Nationalsozialismus zu verbinden.

Neben der Journalistin gibt es natürlich die Privatperson Hella Pick. Eine wesentliche Rolle nimmt in ihrem Leben ihre Mutter ein, die sich ununterbrochen um ihre in der Weltgeschichte herumreisende Tochter Sorgen machte und auch nicht davor zurückschreckte, sich beim Chefredakteur des Guardian zu beschweren. Pick schrieb ihr über viele Jahre täglich, um die Mutter ein Stück weit am eigenen Leben teilhaben zu lassen.
Die Mutter, die sich für ihr Kind einen guten Mann, ein festes Zuhause und Kinder wünschte, bewertete die Liebesbeziehungen der Tochter skeptisch - zu Recht, wie sich später herausstellen sollte. Für Hella Pick steht ihr Freundeskreis anstelle einer eigenen Familie.

Lesen?

In Unsichtbare Mauern schreibt Hella Pick, wo und wie es ihr gelungen ist, eben diese Mauern einzureißen. Nur beim Trauma, ein Flüchtlingskind zu sein, ist ihr das nicht gelungen. Die Unsicherheit, ob sie selbst gut genug ist, hat sie ihr Leben lang begleitet. Und das, obwohl sie sich in einer damals starken Männerdomäne behauptet hat. 
Hella Picks Autobiographie ist spannend, macht aber auch an vielen Stellen nachdenklich. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter das Goldene Ehrenkreuz der Republik Österreich und den Commander of the British Empire.

Unsichtbare Mauern ist 2022 im Czernin Verlag erschienen und kostet als Hardcover 28 Euro.