Montag, 30. Oktober 2023

# 415 - Der diesjährige Gewinner des Deutschen Buchpreises: Wie überzeugend ist "Echtzeitalter"?

Mit seinem Debütroman Nicht wie ihr hatte es Tonio
Schachinger 2019 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft, mit Echtzeitalter hat er den Preis in diesem Jahr gewonnen. Doch worum geht es in dem Roman?

Till Kokorda besucht eine Wiener Eliteschule. Sein Klassenlehrer wird während der folgenden acht Jahre der konservative, despotische und von sich eingenommene Bruno Dolinar sein. Aus Sicht der Klasse hat der Lehrer nicht nur äußerlich Ähnlichkeit mit Lord Voldemort.

Die Schule ist in der ehemaligen Sommerresidenz der Habsburger untergebracht, das Schulklima passt perfekt zu dem alten Gebäude: Die Lehrkräfte sehen ihre Aufgabe darin, die Schülerinnen und Schüler auf das BWL-, Medizin- oder Jurastudium vorzubereiten. Diese kommen überwiegend aus reichen Familien, viele haben Eltern oder Großeltern, die in Österreich Ansehen und Einfluss haben oder hatten.

Till besucht die Schule mit gebremstem Ehrgeiz. Seine Leidenschaft gilt dem Echtzeit-Strategiespiel Age of Empires 2, in dem er mit der Zeit so gut wird, dass er zu den weltweiten Top 10-Spielern aufsteigt. In seinem Umfeld weiß lange jedoch nur sein Freund Georg davon, der ebenfalls ein Fan des Spiels ist, an Tills Fähigkeiten aber nicht heranreicht.

Till lebt mit seiner Mutter zusammen. Sein Vater ist verstorben, als Till 14 war. Das Spielen füllt Tills gesamte Freizeit aus. Gespräche mit der Mutter, die keine Ahnung hat, was ihr Sohn da an seinem Computer macht, beschränken sich auf Organisatorisches. 

Seinem Klassenlehrer Dolinar missfällt Tills mangelnde Sprachbegabung, sodass es der Junge in dessen Deutsch- und Französischunterricht schwer hat. Dass seine Begabungen im mathematischen Bereich liegen, zählt für Dolinar nicht.
Als Till 18 ist und die Gelegenheit hat, sich auf der Gaming-Messe ChinaJoy in Shanghai mit den besten AoE-Spielern der Welt zu treffen und zu messen, ergreift er die Gelegenheit und meldet sich bei Dolinar erst kurz vor dem Abflug per SMS ab. Diese in dessen Augen falsche Priorität verärgert den Lehrer dermaßen, dass er seinen Zorn an Till mit den Mitteln der schwarzen Pädagogik auslässt und ihn vom Rest der Klasse isoliert. 

Zu Tills Glück bricht Anfang 2020 die Corona-Pandemie auch über Österreich hinein. Die Schulen schließen für zwei Monate, die Matura-Vorbereitungen finden zu Hause statt. Mit dem Beginn der schriftlichen Matura-Prüfungen, die landesweit zeitgleich und inhaltlich identisch durchgeführt werden, endet das Angstregiment von Dolinar, denn wegen der Pandemie werden ausnahmsweise keine mündlichen Matura-Prüfungen abgenommen.

Lesen?

Tonio Schachinger gibt durch die Figur des Till Einblicke in das Österreich der 2010-er Jahre bis einschließlich 2020. Der Roman verfolgt nicht nur Tills Erwachsenwerden, sein Schließen von neuen und dem Verlust von alten Freundschaften, seiner ersten Liebe und dem Verarbeiten des Todes des Vaters; Schachinger greift auch Schlagworte wie den Austrofaschismus und die Ibiza-Affäre um den damaligen Vize-Kanzler Strache, die 2019 einen großen Skandal auslöste, auf. 

Immer wieder wird auf die österreichische Titelhörigkeit und auf die relativ große Gruppe der politisch Rechten angespielt, die auf das gesellschaftliche und politische Leben Einfluss nimmt. Doch während es lange den Anschein hat, dass diese Verhältnisse von Schachinger hingenommen werden, weil es nie anders war, wird dieser Eindruck zum Schluss gerade gerückt: Till trifft nach dem Ende der Schulzeit einen früheren Mitschüler wieder, der gerade den sechsmonatigen Grundwehrdienst ableistet. Als der Dolinars Schikanen mit den Worten: "Es war schon super, eigentlich", verklärt, weist Till das deutlich zurück. "Spinnst du?", entgegnet er. "Es war die Hölle, du Idiot!"

So gut mir der Roman gefallen hat, so sehr habe ich mich immer wieder mit österreichischen Besonderheiten abgemüht, die in Deutschland unbekannt sind. Ob es um 'WEGA' geht, die Lila Villa, den Begriff 'sekkieren', die BVT-Affäre, Grätzl oder das Schikaneder: Echtzeitalter lässt sich mit dem Anspruch, den Roman vollständig zu verstehen, nur lesen, wenn man die Lektüre immer wieder für eine Recherche unterbricht. Das Buch richtet sich an Österreicher, besser noch an Wiener. Da es jedoch im ganzen deutschen Sprachraum herausgegeben wurde, wäre ein Glossar hilfreich gewesen.

Echtzeitalter ist 2023 im Rowohlt Buchverlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.



Freitag, 20. Oktober 2023

# 414 - Erinnerungen an die Mutter: Liebe sieht anders aus

Die deutsch-französische Autorin Sylvie Schenk blickt in ihrem Roman Maman auf die Lebensgeschichte ihrer verstorbenen Mutter Renée und zeigt, wie sich deren Erfahrungen seit ihrer frühen Kindheit auf die Erziehung ihrer eigenen Kinder ausgewirkt haben. Sie hat ihren Töchtern beigebracht, Angst vor Männern und Sexualität zu haben und Männer zu verachten. Aber warum?

Schenk weiß nur wenig über ihre Mutter, die sie als schweigsamen und kaum zugewandten Menschen erlebt hat. Renée wurde 1916 in einem Lyoner Krankenhaus geboren, ihre Mutter Cécile starb bereits eine Stunde später. Cécile wurde nur 45 Jahre alt, ihre Mutter war Seidenarbeiterin und wahrscheinlich eine Prostituierte.

Renée wird als Säugling von einer Bauernfamilie in der Ardèche als Pflegekind aufgenommen. Das Motiv der Familie ist nicht altruistisch, sondern ökonomisch: Man braucht das Pflegegeld als Zusatzeinkommen und rechnet damit, das Kind in einigen Jahren als kostenlose Arbeitskraft einsetzen zu können. Die "Erziehung" der Pflegeeltern ist von Gefühlskälte und Vernachlässigung geprägt.

Erst als Renée fast sechs Jahre alt ist, ist ihre Verwahrlosung auch für die Behörden nicht mehr zu übersehen, und sie wird aus der Familie herausgenommen. Die neuen Pflegeeltern, die sie später adoptieren werden, gehören zum bürgerlichen Milieu: Charles ist Apotheker, Marguerite geht in der Aufgabe auf, sich um Renée zu kümmern. Trotz aller Hingabe gelingt es ihr nicht, das Mädchen aus seiner Schweigsamkeit und Verschlossenheit herauszuholen. Das Kind hat Albträume und ist kognitiv schlechter als Gleichaltrige entwickelt. Daran ändert auch der Besuch einer Privatschule nichts. 

Renées Leben verläuft weitgehend fremdbestimmt. Bis zu ihrer Hochzeit 1936 mit dem jungen Zahnarzt Jean sagt ihr Marguerite, was gut und richtig ist. Nach der Eheschließung wird das Renées Mann übernehmen. Die Ehe ist nicht von Liebe, sondern Konventionen geprägt. Renées Aufgabe ist ganz traditionell eine gute Ehefrau und Mutter zu sein. Sie bringt vier Töchter und einen Sohn zur Welt, die ohne ihre besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge groß werden. Jean ist immer seltener zu Hause; die Lieblosigkeit, von der Renée in ihrer frühen Kindheit geprägt wurde, findet in ihrer Ehe ihre Fortsetzung. Das liegt auch daran, dass Renée für ihren Mann nur Abneigung empfindet.
Doch dann, in der Zeit der sich ausbreitenden Resistance, fühlt sich Renée zu einem Mann wirklich hingezogen und ist bereit, für ihn ihr bisheriges Leben hinzuwerfen und mit ihm durchzubrennen. Sie erkennt, dass sie auf eine Täuschung hereingefallen ist.

Das, was Sylvie Schenk über ihre Mutter weiß, hat sie aus Akten, in denen sie und ihre Geschwister recherchiert haben. Was sich nicht mehr ermitteln ließ, hat die Autorin durch fiktionale Inhalte ergänzt. Man spürt den Schmerz darüber, die Eltern und Großeltern nicht genauer nach deren früheren Lebensumständen befragt zu haben. 

Die Mutter hat aus ihrer Herkunft, über die sie selbst nicht viel wusste, ein gut gehütetes Geheimnis gemacht. Mit ihrem Roman geht Sylvie Schenk der Frage nach, inwieweit ihr eigenes Leben durch das distanzierte Verhalten ihrer Mutter geprägt wurde. Die Leserinnen und Leser von Maman bekommen nicht nur Einblick in die sehr spezielle familiäre Situation, sondern auch in die bis in die 1960-er Jahre in Frankreich geltenden Konventionen, die oft nur als Fassade für ein gesellschaftlich nicht akzeptiertes Leben dienten.

Lesen?

Maman ist eine Aussöhnung mit der Mutter und deren nicht-mütterlichem Verhalten. Sylvie Schenk kann ihrer Mutter nun Verständnis für deren fehlende Wärme und Zuneigung entgegen bringen. Kurz vor ihrem Tod öffnet sich Renée kurz und gibt ihrer schreibenden Tochter einen Einblick in ihr Wesen. "Du darfst alles aufschreiben, ich weiß, dass du es aufschreiben wirst", sind die letzten Worte von der Mutter an die Tochter. Es ist, als würden sie einander die Hände reichen. Zum ersten und zum letzten Mal.

Maman ist 2023 im Carl Hanser Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 22 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.
Der Roman stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023.

 

Sonntag, 15. Oktober 2023

# 413 - Eine Familiengeschichte, die nach Schuld und Verantwortung fragt

Anne Rabe ist 1986 in Wismar geboren und aufgewachsen. Sie war drei Jahre alt, als ihr Land, die DDR, unterging. In ihrem Roman Die Möglichkeit von Glück versucht sie die Frage zu klären, wann jemand ein Mitläufer ist und ab welchem Punkt man zum Mit-Täter wird.

Die Hauptperson ist Stine. Sie wurde im selben Jahr und Ort wie die Autorin geboren. An die DDR hat sie wie diese also keine Erinnerungen. Aber die erwachsene Stine, die verheiratet und Mutter von zwei Kindern ist, blickt zurück auf ihre Kindheit und Jugend. Durch die Rückschau erlebt und beobachtet sie in ihrem familiären und beruflichen Umfeld die Folgen, die zwei aufeinanderfolgende Diktaturen für die Persönlichkeiten der Menschen gehabt haben.

Im Fokus stehen dabei ihre Eltern Sven und Monika sowie ihre Großeltern Eva und Paul. Das Verhältnis zu den Eltern ist zerrüttet, weil Stine und ihr jüngerer Bruder Tim unter der Gefühlskälte der Mutter gelitten haben und sich ihre Hoffnung, dass ihr Vater sich für seine Kinder einsetzen würde, nie erfüllt hat. Niemand in der Familie bemerkt, dass das Kind Stine im Alter von fünf oder sechs Jahren anfängt, sich selbst zu verletzen. Doch woher kommt die Eiseskälte der Mutter, deren pädagogisches Motto einem Zitat aus einer Rede Hitlers vor dem Reichsparteitag (1935) zu entsprechen scheint: hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder? Die Kinder haben zu funktionieren, ihre Bedürfnisse spielen keine Rolle.

Rabe schlägt eine Brücke in die Vergangenheit und erzählt von Stines Großvater Paul, der in der DDR Propagandist, Schuldirektor und danach Hochschuldozent war. Ein Mensch, der in ärmliche Verhältnisse hineingeboren worden war und das Beste aus seinem Leben machen wollte. Ein Mensch, der sich in die Nazi-Maschinerie einfügte, Soldat wurde und in russische Kriegsgefangenschaft geriet, aus der er floh. Wie er das geschafft hat, bleibt unklar. 

Paul wollte das Ziel des sozialen Aufstiegs erreichen und hat nach dem Untergang des Deutschen Reichs im Sozialismus der DDR sein Glück gesucht. Als auch die zu einem Teil der Vergangenheit wurde, blieb sie in den Augen der Eltern und Großeltern das bessere Deutschland.

Stine beginnt, über gezielte Recherchen so viel wie möglich über das Leben von Opa Paul herauszufinden. Sie ist davon überzeugt, dass er als Reichs- oder DDR-Bürger Schuld auf sich geladen hat. Fragen kann sie ihn nicht mehr, weil er bereits verstorben ist.
Die junge Frau liest Studien, die von sogenannten Entlastungserzählungen berichten: Die Deutschen wissen zwar um die Verbrechen, die im Nationalsozialismus begangen wurden, aber aus der eigenen Familie war - selbstverständlich! - niemand daran beteiligt. Diese Erzählungen gibt es auch in der eigenen Familie, doch was stimmt daran? Stines Recherchen werfen neue Fragen auf, beantworten aber nur wenige.

Und nach der Wende? Für die DDR-Bürger bleibt praktisch nichts, wie es war. Ihre Gewissheiten lösen sich in Rauch auf, sie finden sich innerhalb kurzer Zeit in neuen Strukturen wieder. Durch die Abwicklung zahlreicher VEB und LPG wird eine Massenarbeitslosigkeit ausgelöst, in deren Fahrwasser sich Neonazis breitmachen. Oder waren die nie wirklich weg?

Lesen?

Anne Rabe schildert, wie sich die DDR im Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger ein Stück weit fortsetzt und an ihnen klebt - wie etwas, was man unter dem Schuh hat, aber partout nicht los wird. Die DDR und die Erfahrungen, die die älteren Generationen in und mit ihr gemacht haben, verortet die Autorin als Fortführung des Erlebten aus der Nazi-Diktatur. Kurios: Wer von der DDR zum Beispiel durch einen hohen Bildungsabschluss profitiert hatte, konnte diesen für seine weitere berufliche Laufbahn einsetzen. Dieses Privileg hatten aber nur diejenigen, die sich dort systemkonform verhalten hatten. Wer sich gegen den Staat gestellt hatte, wurde dafür abgestraft: durch Ausschluss vom Abitur oder Studium oder auch durch die Vorgabe des künftigen Berufs. Mit dieser Hypothek starteten die Menschen, die sich gegen das System gestemmt hatten, in die neue Zeit nach der Wende.

In ihrer Betrachtung spart Rabe den Westen Deutschlands fast völlig aus, so, als hätte er auf die Ereignisse im Osten keinen Einfluss (gehabt). Sie wirft nur einen kurzen Blick nach "drüben", als es um Opa Pauls Bruder geht, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg für ein Leben in der BRD entschieden und dort Karriere gemacht hat.

Um Situationen zu verdeutlichen, setzt Rabe einen alternativen Erzähler ein, dessen Passagen kursiv gedruckt sind. Er reflektiert Geschehnisse, indem er Stine direkt anspricht und ihr diese in Erinnerung ruft.

Letztendlich bleiben die Dinge im Ungefähren. Stine verurteilt ihren Opa für Taten, die sie ihm nicht nachweisen kann. Opa Paul kann sich naturgemäß nicht mehr verteidigen und nichts erklären, und so bleibt am Ende der Eindruck, dass viel zu viel geschwiegen wurde und wird - wie so oft.

Die Möglichkeit von Glück ist interessant zu lesen, lässt aber zu viele Fragen offen.
Gegen Ende des Romans versucht Stines Mutter ein letztes Mal, Macht über ihre längst eigenständig lebende Tochter auszuüben. Warum das bei der Protagonistin nicht nur Wut, sondern auch Angst auslöst, bleibt offen, weil die Mutter zu diesem Zeitpunkt im Leben von Stines vierköpfiger Familie keine Rolle mehr spielt. Das zu erklären, dürfte die Aufgabe von Psychologen oder Psychologinnen sein.

Die Möglichkeit von Glück ist 2023 im Verlag Klett-Cotta erschienen und kostet als gebundenes Buch 24 Euro sowie als E-Book 18,99 Euro.

Der Roman steht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.

Samstag, 7. Oktober 2023

# 412 - Wie ist das Kindsein im Krieg? Ein Roman über Entwurzelung, Sprachlosigkeit und Euthanasie

Sepp Malls Roman Ein Hund kam in die Küche ist
eine Zeitreise nach Südtirol und Oberösterreich Anfang der 1940-er Jahre. 
Die Südtiroler Familie Gruber entschließt sich 1942 auf Drängen des Vaters, die Heimat zu verlassen und nach Österreich auszuwandern, das nach dem sog. "Anschluss" des Alpenlandes ein Teil des Deutschen Reichs wurde. Hitler und Mussolini hatten eine als "Option" bezeichnete Möglichkeit vereinbart, dass die deutsch- und ladinischsprachige Bevölkerung Italiens (was im Wesentlichen der Bevölkerung Südtirols entsprach) sich entweder für ein Leben im Deutschen Reich oder den Verbleib in Italien entscheiden konnte. Die Ausreisewilligen werden in den Augen vieler Südtiroler zu Heimatverrätern.

Der Vater des im Roman als Ich-Erzähler auftretenden elfjährigen Ludi ist von der Vorstellung begeistert, Reichsdeutscher werden und der deutschen Sache dienen zu können. Doch die Familie, die außerdem noch aus der Mutter und dem sechsjährigen Hanno besteht, ahnt nicht, was da auf sie zukommt.

Die erste Station ist Innsbruck. Dort werden die Vier zunächst in einem Hotelzimmer untergebracht, danach folgt eine genaue ärztliche Untersuchung. Während sie für Ludi und seine Eltern komplikationslos verläuft, muss sich Hanno einer weiteren medizinischen Begutachtung unterziehen. Er ist wegen seiner körperlichen und geistigen Einschränkungen aufgefallen.

Der Vater meldet sich kurz nach der Ankunft zum Kriegsdienst an die Front. Er ist überzeugt davon, dass Deutschland den Krieg schnell gewinnen und er bald wieder bei seiner Familie sein wird. Es wird jedoch Jahre dauern, bis er zurückkehrt.

Aufgrund der Untersuchungsergebnisse muss Hanno in ein Behindertenheim. Die Familie geht davon aus, dass es ein Aufenthalt von einigen Wochen oder vielleicht einem Monat wird und Hanno danach besser sprechen und laufen kann. Man ahnt, dass es anders kommt.

Lesen?

Sepp Mall beschreibt die Folgen der krassen Fehlentscheidung des Vaters, die Heimat zu verlassen, brutal, aber dennoch empathisch. Szenen wie die, in denen es der Mutter und Ludi im Behindertenheim durch einen Trick verwehrt wird, sich von Hanno zu verabschieden, gehen sehr nahe. Ludi, der zu seinem Bruder ein enges und liebevolles Verhältnis hat, hofft, diesen noch einmal durch eines der Fenster zu sehen: "Und doch wurde ich den Gedanken nicht los, dass Hanno uns noch gesehen hatte. [...] Er musste uns gesehen haben, als wir davongingen." Die Mischung aus Hoffnung und Verzweiflung, die von Ludis Worten ausgeht, ist deutlich zu spüren. Später hört er den Kommentar des Dorfladenbesitzers nach Hannos Tod, dass alle Opfer bringen müssten und man das dem gesunden Volkskörper schuldig sei.

Mall spricht nicht nur die Euthanasie an, der Hanno im Zuge der "Aktion T4" zum Opfer fiel, sondern auch das Gefühl der Heimatlosigkeit. Ludi hat Heimweh nach seinem Tal in Südtirol, und seine Mutter verspricht ihm, dass sie beide so bald wie möglich dorthin zurückkehren werden. Er fühlt sich in Österreich im "Niemandsland": "Meine Mutter war die Einzige, die wusste, wer in der Schulbank neben mir gesessen hatte oder wen ich meinte, wenn ich der Schneider sagte. [...] Hier an diesem Ort gab es keine Erinnerungen, die mir gehörten und die ich mit jemandem teilen konnte."
Doch zunächst werden sie ins sog. Oberdonaugau (heutiges Oberösterreich) geschickt. Die Familie wird wegen ihrer italienischen Herkunft mit Vorurteilen konfrontiert, die geflüchteten Sudetendeutschen, denen sie begegnet, werden von den Einheimischen aber deutlich schlechter behandelt. 

Und dann ist da diese Sprachlosigkeit. Nichts wird Ludi erklärt, oft muss er sich die Wahrheit aus den wenigen Äußerungen und Gesten seiner Eltern zusammenreimen. Auf Nachfragen, warum man ihm nichts gesagt habe, kommt häufig die stereotype Antwort: "Es ist besser so." Begriffe, die in der Sprachwelt der Erwachsenen eine Bedeutung haben, sind dem Jungen fremd und er gibt ihnen einen neuen Inhalt.

Mit einem sprachlichen Kniff lässt Sepp Mall den getöteten Hanno lebendig werden: Er erscheint seinem Bruder sowohl im Traum als auch im Alltag und erzählt ihm, was ihm im Behindertenheim widerfahren ist.

Ein Hund kam in die Küche wurde für den Deutschen Buchpreis 2023 nominiert. Zu Recht, denn der Roman schildert eindringlich und mit klaren Worten, wie sich Entwurzelung und Krieg für ein Kind anfühlen. 

Das Buch 2023 in der Leykam Buchverlagsgesellschaft erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24,-- Euro sowie als E-Book 18,99 Euro.