Samstag, 23. Februar 2019

# 185 - Ein Dorf mit Leichen im Keller

Potztausend heißt das 2018 erschienene Buch der Autorin
A.C. Scharp, und dieser Ausruf passt angesichts der Ereignisse, die den kleinen Ort Demarchau erschüttern, genau. Dort leben die unterschiedlichsten Charaktere, und was von außen betrachtet nach einer dörflichen Idylle aussieht, erweist sich bei näherem Hinsehen als als moralischer Sumpf, der unter günstigeren Umständen unentdeckt geblieben wäre.


Was Ehrgeiz bewirkt, wenn er aus dem Ruder läuft


Obwohl: "Ehrgeiz" trifft es hier nicht ganz. Eher ist es der Wunsch, dass alles so bleiben möge, wie es gerade ist: ruhig. Das ist die Vorstellung von Demarchaus derzeitigem Bürgermeister Clemens Bohnenschäfer, der sich in seiner patriarchalischen Rolle gefällt und den Plan hat, von seinen Bürgern noch einmal gewählt zu werden. Nur eine Amstperiode noch in diesem verschlafenen Ort, und er könnte nahtlos in den Ruhestand hinübergleiten. Dazu ist normalerweise nur nötig, dass die Dinge so laufen, wie sie es schon in den letzten Jahren getan haben: geräuschlos und konfliktfrei. Doch er hat die Rechnung ohne den ortsansässigen Geschäftsmann Klaus Landgräber gemacht: Angesichts des Zustroms von Flüchtlingen nach Deutschland wittert er eine neue Einnahmequelle und beschließt, die Hälfte seines maroden Altenheims für sie zu räumen. 

Flüchtlinge in Demarchau sind ungefähr das Gegenteil dessen, was der Bürgermeister unter einem wohlgeordneten und friedlichen Dorfleben versteht. Seine Befürchtungen vergrößern sich, als er überraschend von einem Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes angerufen wird, der ihn vor Schläfern in seinem Ort warnt. Für Bohnenschäfer ist sonnenklar, dass die sich abzeichnende Terrorismusgefahr für seine Wiederwahl ein Problem werden kann, und er leitet umgehend Gegenmaßnahmen ein. Doch die weitere Entwicklung hat Ähnlichkeit mit einer langen Schlange von Dominosteinen: Einmal angestoßen, kann ihr Fall nicht mehr gestoppt werden. Der immer hilfloser agierende Bürgermeister kann nicht verhindern, dass es zu einem Brand kommt, dass Menschen sterben und die buchstäbliche Leiche im Keller ans Tageslicht kommt. Hat er noch genug Autorität, um eine weitere Eskalation zu verhindern und außerdem im Amt zu bleiben?


Wie war's?


A.C. Scharp zeichnet in Potztausend ein satirisch überspitztes Bild vom Leben in einem Dorf und zeigt, dass sich hinter den gutbürgerlichen Fassaden Neid, Gier, Hass oder Schlimmeres verbergen können. Auch, dass die Vorstellung von Fremden in dieser Gemeinschaft Ängste auslöst, ist gut nachvollziehbar. Da wird dann schnell mit einem Flüchtling ein potenzieller Attentäter assoziiert.
Der Roman ist wie die vorigen Bücher der Autorin sehr unterhaltsam geschrieben und wird nicht langweilig.
Worüber ich dann gestolpert bin, ist, dass zugunsten der oft turbulenten Handlung Sachverhalte beschrieben wurden, die nicht stimmig waren: Kein Bürgermeister hat einem Mitarbeiter eines Jobcenters Anweisungen zu geben. Er hat auch keine Möglichkeit, die Ausweisung eines Ausländers anzuordnen. Allerdings nehmen es auch etliche bekanntere Autorinnen und Autoren damit nicht so genau.

Potztausend ist ein Selfpublishing-Titel und kostet als Taschenbuch 10,99 Euro sowie als Kindle- oder epub-Edition 3,99 Euro.

Von A.C. Sharp sind auf diesem Blog außerdem Rezensionen zu ihren Büchern Gas und Galle sowie Das forensische Gemetzel erschienen.

Freitag, 15. Februar 2019

# 184 - Humor aus Schweden

Vom schwedischen Erfolgsautor Jonas Jonasson habe ich vor längerer Zeit "Der
Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand" gelesen und mir nach dieser positiven Erfahrung Die Analphabetin, die rechnen konnte vorgenommen. Danach hatte ich einen festen Vorsatz: Das war es jetzt mit Jonas Jonasson. Das "Strickmuster", nach dem sein zweiter Roman aufgebaut war, ähnelte einfach zu sehr dem des ersten Buches: Wenn du glaubst, da geht nichts mehr, kommt eine noch irrere Wendung daher. Mein Plan hat "bestens" funktioniert, denn nun wird es hier um Jonassons 2016 auf Deutsch erschienenes Buch Mörder Anders und seine Freunde nebst dem einen oder anderen Feind gehen.

Worum geht's?

 

DIE Hauptperson ist Johann Andersson, besser bekannt unter seinem tatkräftig erworbenen Spitznamen Mörder-Anders. Weil er das Wort "Faustregel" in der Vergangenheit allzu wörtlich genommen hat, hat sich Mörder-Anders mehrere Jahre die schwedischen Gardinen von innen nach außen angesehen. Sein bester Kumpel ist übrigens der Alkohol.

Per Persson, der Rezeptionist der Pension Sjöudden, ist der zweite Protagonist, der eine wichtige Rolle spielt. Er hat in seinem Leben bislang nie die Sonnenseiten gesehen und trifft zufällig auf die atheistische Pastorin Johanna Kjellander. Sie hat in einer Predigt ihren despotischen Vater verflucht, der vor ihr in der Gemeinde das Pfarramt inne hatte. Diese Predigt war dann auch ihre letzte und sie seitdem arbeitslos.

Mörder-Anders, Per Persson und Johanna Kjellander sind, als sie aufeinandertreffen, mindestens in finanzieller Hinsicht ziemlich arme Würstchen. Auf der Suche nach einer lukrativen Einnahmequelle verfallen sie auf die Idee einer "Körperverletzungsagentur". Das Prinzip: Sie nehmen Aufträge an, jemanden gegen ein angemessenes Honorar durch Mörder-Anders genau nach den Wünschen der Auftraggeber verprügeln zu lassen. Das rechte Knie soll zertrümmert werden? Bitteschön! Zusätzlich darf es noch ein gebrochener linker Arm sein? Das wird teurer, ist aber kein Problem. Das Geschäft floriert so gut, dass der tatkräftige Mörder-Anders nur an zwei Tagen pro Woche tätig sein muss und sich an den anderen fünf volllaufen lassen kann. Was er nicht ahnt: Seine beiden Geschäftspartner streichen für Akquise und Verwaltung den Löwenanteil des Geldes ein, während er mit einem Trinkgeld abgespeist wird. Aber Andersson ist so einfach gestrickt, dass er nicht misstrauisch wird.
Doch die Erfolgssträhne droht abzureißen, als sich der Mörder für die Bibel zu interessieren beginnt und beschließt, ein besserer Mensch zu werden: keine Auftragskörperverletzungen und kein Alkohol mehr. Die Einnahme aus dem letzten Auftrag soll an das Rote Kreuz gespendet werden. Per und Johanna sehen ihre beste Geldquelle austrocknen und entwickeln einen Plan, in dem Mörder-Anders auch weiterhin eine wichtige Rolle spielen soll.

Wie war's?

 

Mörder Anders und seine Freunde nebst dem einen oder anderen Feind soll humorvoll daherkommen, ist aber nichts als eine Aneinanderreihung von Absurditäten. Wenn man denkt, dass es nicht mehr irrer geht, wird man von Jonasson eines Besseren belehrt. Dieses Mal werde ich mich an das halten, was ich mir schon nach dem Lesen von Die Analphabetin, die rechnen konnte vorgenommen hatte und kein weiteres Buch dieses Autors anrühren. 

Der Titel kostet als gebundenes Buch 19,99 Euro, als Taschenbuch 10 Euro, als MP3-CD 8,95 Euro sowie als epub- oder Kindle-Ausgabe 9,99 Euro. 

Samstag, 9. Februar 2019

# 183 - Vom Fliehen und Ankommen

1945 verschlägt es die Gräfin Hildegard von Kamcke und
ihre fünfjährige Tochter Vera auf ihrer Flucht aus Ostpreußen ins Alte Land, das Obstanbaugebiet vor den Toren Hamburgs. Sie kommen bei Ida Eckhoff unter, die zusammen mit ihrem im Krieg als Soldat verwundeten Sohn Karl auf einem Altländer Hof wohnt. Die Botschaft der plattdeutschen Inschrift am Giebel des Wohnhauses wird sich durch das ganze Buch ziehen:

Dit Huus is mien un doch nich mien,
de no mi kummt, nennt't ook noch sien.

Ida Eckhoff hat für das "Polackenpack" nichts übrig und lässt das die Neuankömmlinge deutlich spüren: "Von mi gift dat nix!", ist ihre Antwort auf Hildegards Bitte um etwas Essen für ihre Tochter. Doch sie kann nicht verhindern, dass sich die stolze Hildegard und der durch den Krieg körperlich und seelisch schwer angeschlagene Karl einander annähern und schließlich heiraten. Dieser Schritt lässt Ida in ihrer neuen Rolle als Schwiegermutter schwere Geschütze auffahren. Doch die beiden Frauen sind einander ebenbürtig und schenken sich nichts.

Aber der Tag kommt, an dem Hildegard ihre Sachen packt und das Haus für immer verlässt. Allein. Vera bleibt bei Karl zurück, gefragt wurde sie nicht. Ida ist da schon nicht mehr am Leben, Hildegard von einem Architekten schwanger. Hildegard lässt sich von Karl scheiden und heiratet ein zweites Mal. Sie bekommt eine Tochter, die später selbst zwei Kinder - eine Tochter und einen Sohn - haben wird. Der Kontakt zwischen Vera und ihrer Halbschwester Marlene ist eher sporadisch, die Jüngere weiß nur wenig von der Flüchtlingsvergangenheit der Mutter.
Vera wird Zahnärztin und bleibt ihr Leben lang in dem Haus, das einmal Ida Eckhoff gehört hat. Es ist nicht so, dass sie eine bewusste Entscheidung getroffen hätte, weil sie Land und Leute ins Herz geschlossen hat; sie ist auf irgendeine Weise hier hängengeblieben, wie ein Blatt, dass sich in einem murmelnden Bach an einem kantigen Stein verfangen hat. Sie lebt ihr ziemlich einsames Leben, passt sich nicht an das an, was andere für "normal" halten und lässt Haus und Hof langsam verrotten.

Sechzig Jahre nach Veras Ankunft treffen wieder "Flüchtlinge" auf dem Altländer Hof ein: Veras Nichte Anne und ihr kleiner Sohn Leon. Anne hat bis jetzt mit ihrem Sohn und ihrem Freund in Hamburg-Ottensen gewohnt, einem Stadtteil, der vor hippen Menschen und modernen Eltern überquillt und wo sich Anne nie wirklich wohl gefühlt hat. Nachdem herausgekommen ist, dass ihr Freund sie betrogen hat, hat Anne kurzentschlossen ihre Sachen gepackt, Leon ins Auto gesetzt und ist zu ihrer Tante gefahren. Die beiden unterschiedlichen Frauen müssen sich nun aneinander gewöhnen und die Eigenheiten der jeweils anderen akzeptieren lernen.


Lesen?

 

Altes Land erzählt sehr empathisch davon wie es sich anfühlt, sein Zuhause zu verlieren und woanders, wo man nicht willkommen ist, neu anzufangen. Der Roman stellt das Leben der Altländer jedoch auch dem der Zugezogenen gegenüber: Erstere wollen sich entweder nicht daran gewöhnen, dass sich die Zeiten ändern und man sich Neuem öffnen muss oder sie werden von ihren Nachbarn belächelt, wenn sie ihre Obsthöfe um touristische Attraktionen erweitern; die neuen Bewohner, vorwiegend gutsituierte Hamburger auf Sinnsuche, haben eine romantische Vorstellung vom Leben auf dem Land, wie sie Leute pflegen, die regelmäßig in diesen Lifestyle-Magazinen blättern, in denen Bauernhöfe aufgeräumt und keimfrei und Landwirte mindestens so glücklich wie ihre Kühe sind. Für manche dieser Menschen sind die Alteingesessenen tumbe Bauern, denen es gehörig an Bildung fehlt. Man kann vermuten, dass Dörte Hansen, die selbst auf dem Land lebt, das so oder so ähnlich schon oft erlebt hat. 
Klare Leseempfehlung.

Altes Land  kostet als gebundenes Buch 19,99 Euro, als Taschenbuch 10 Euro, als epub- oder Kindle-Version 9,99 Euro sowie als Audio-CD 7,99 Euro. 

Samstag, 2. Februar 2019

# 182 - Es gibt nichts, was es nicht gibt

Mit Ferdinand von Schirach habe ich mich in der Bücherkiste schon einmal beschäftigt, als ich Euch sein Buch Carl Thorberg vorgestellt habe. Heute wird es um von Schirachs bislang letzte Veröffentlichung Strafe gehen.

Die Struktur ist bereits grundsätzlich bekannt: Der Jurist bietet seinen Lesern zwölf Kurzgeschichten an, die er mit einem für dieses Buch sehr treffenden Zitat des dänischen Philosophen und Schriftstellers Søren Kierkegaard einleitet: "Wenn alles still ist, geschieht am meisten."

Der Begriff der Strafe kommt in manchen der Fälle eher durch die Hintertür daher: Da ist zum Beispiel die Ehefrau, die verdächtigt wird, ihren Mann durch einen Schuss in den Hinterkopf ermordet zu haben. Alle Indizien sprechen gegen sie, ein Motiv hatte sie ebenfalls. Doch ihr Strafverteidiger bekommt von einem Mann, der für seine Kunden die Drecksarbeit macht, einen entscheidenden Hinweis, der den Prozessverlauf um 180° dreht. Woher der Informant in kürzester Zeit erkennen konnte, was die Polizei übersehen hatte? "Das wollen Sie nicht wissen, Herr Anwalt", lautet dessen süffisante Antwort.

Ferdinand von Schirach zeigt jedoch auch auf die Klippen, die das deutsche Strafrecht bereithält und schreibt über eine Sachlage, bei der sich dem juristisch Unkundigen die Fußnägel hochrollen, die aber in völligem Einklang mit der Rechtssituation steht: Ein unbescholtener Leiter einer Supermarktfiliale findet heraus, dass der Keller seines Hauses von Drogenkurieren als Versteck genutzt wird. Er findet dort in einer Tasche knapp fünf Kilo Kokain. Auf der Flucht vor den Kurieren verursacht er mit seinem Auto einen schweren Verkehrsunfall, wobei auch die mit Koks gefüllte Tasche gefunden wird. Wegen des Drogendelikts wird gegen ihn ein Haftbefehl erlassen. Doch wenige Wochen vor Prozessbeginn wird dem frisch gebackenen Kriminellen wegen der Unfallfahrt ein Strafbefehl zugestellt, den er akzeptiert. Doch da gibt es das Verbot, jemanden wegen derselben Sache zweimal zu verurteilen. Da das Drogendelikt allerdings in einem Tatzusammenhang mit dem Verkehrsunfall steht, es für den Unfall jedoch schon einen rechtskräftigen Strafbefehl gibt, endet der Prozess anders, als man es mit dem sogenannten "gesunden Menschenverstand" erwarten würde.

Lesen?

Wie man es von von Schirach gewohnt ist, erzeugt er in allen zwölf Texten mit seiner Klarheit und Strukturiertheit eine besondere Atmosphäre, von der nicht durch sprachliche Schnörkel abgelenkt wird. Der Ausgang aller Fälle ist überraschend und bildet die Vielfalt der menschlichen Verwerfungen ab. Und auch hier gilt: Das Böse kann gleich hinter der nächsten Tür lauern und kommt oft ganz harmlos daher.

Strafe ist bei Luchterhand erschienen und der letzte Teil einer Trilogie, die mit den Titeln Verbrechen und Schuld begonnen hat. Das gebundene Buch kostet 18 Euro, die epub- oder Kindle-Version 14,99 Euro und die MP3-CD 8,95 Euro.