Freitag, 27. November 2020

# 267 - Was geschah wirklich in der Heiligen Nacht?

Das Ehepaar Claudia und Simone Paganini hat sich in seinem Buch Von wegen Heilige Nacht! der Weihnachtsgeschichte angenommen und untersucht Schritt für Schritt in 17 Kapiteln, wie viel Wahrheit  eigentlich in ihr steckt. Das tut es unter Heranziehung zahlreicher religiöser Quellen und historischer Zusammenhänge sowie mit einer profunden Sachkenntnis. Kein Wunder: Beide sind promovierte Theologen; Simone Paganini ist Professor für Biblische Theologie an der RWTH Aachen, Claudia Paganini ist am Institut für christliche Philosophie an der Universität Innsbruck tätig. 

Die zentrale Erkenntnis: Fast alles, was uns die Bibel in der Weihnachtsgeschichte, ist falsch oder zumindest sehr wahrscheinlich falsch. Dahinter steckt nicht unbedingt die Absicht, der Nachwelt ein für die Christen identitätsstiftendes Märchen aufzutischen, sondern oft ein Effekt, der sich bis in unsere Zeit erhalten hat: Versteht man einen Sachverhalt nicht zu 100 Prozent, wird er mit inhaltlicher Füllmasse ein bisschen aufgehübscht. Aber auch eine politische Absicht dürfte hin und wieder der Grund dafür gewesen sein, dass man sich die biblischen Geschehnisse etwas zurechtgebogen hat. Oft dürften auch Übersetzungsfehler eine Rolle gespielt haben. Und ein bisschen zusätzliches Drama kann ohnehin nicht schaden.

Ist der 24. Dezember tatsächlich der Tag, an dem Jesus geboren wurde? War es tatsächlich bitter kalt? Ist es plausibel, dass die heilige Familie auf der Suche nach einer Unterkunft überall abgewiesen wurde und deshalb das Jesuskind in eine Krippe gelegt werden musste, kritisch beäugt von Ochs und Esel? Waren Maria und Josef arm? Wurde Jesus wirklich in Bethlehem geboren? Es reiht sich Frage an Frage, und jede wird ausführlich und gut nachvollziehbar beantwortet.

Claudia und Simone Paganini haben mit ihrem Buch nicht vor, jemandem mit ihren Erläuterungen in religiöser Hinsicht zu nahe zu treten. Sie degradieren die Weihnachtsgeschichte auch nicht zu einem Märchen, in dem die gesamte Handlung der Phantasie entspringt: Das Lukasevangelium bedient sich bei Jesus' Biographie schriftlicher Quellen sowie Berichten von Augenzeugen, außerdem wird auf einen chronologischen Aufbau Wert gelegt. Die Geschichte von Jesus' Geburt wurde allerdings bis zum Beginn des 2. Jahrhunderts mündlich weitergegeben und erst dann schriftlich niedergelegt. Wenn man die Weihnachtsgeschichte und ihren eigentlichen Zweck verstehen will, geht das nicht ohne den Blick auf die Zeit vor etwa 2.000 Jahren: Die Menschen erwarteten eine religiöse Unterstützung und die Bestätigung, dass sich ihr Gott für sie interessiert und es sich bei Jesus' Geburt um ein wichtiges Ereignis gehandelt hat. Es ging damals um Hoffnung und Zuversicht, nicht aber unbedingt um Rationalität. Denn: Die Adressaten der Weihnachtsgeschichte waren nicht wir Menschen des 21. Jahrhunderts.

Lesen?

Von wegen Heilige Nacht! ist ein unverkrampfter Blick auf die Weihnachtsgeschichte und ihren wissenschaftlich begründeten Wahrheitsgehalt. Das Buch ist eine gute Lektüre für alle, die sich für religiöse Zusammenhänge interessieren. Geschichtskenntnisse sind nicht nötig, um den Erläuterungen von Claudia und Simone Paganini folgen zu können. 
 
Von wegen Heilige Nacht! ist 2020 im Gütersloher Verlagshaus erschienen und kostet als Klappenbroschur 14 Euro. 
 
Nachtrag: Simone Paganini ist in mehreren Videos zu sehen, die von der RWTH Aachen produziert wurden. In diesem geht es um die Frage: Waren tatsächlich ein Ochse und ein Esel an Jesus' Krippe?
 
Auch Claudia Paganini ist in zahlreichen Videos zu sehen. Hier ist eines, in dem sie sich beim Science Slam Innsbruck 2018 über "Warum christliche Philosophie?" Gedanken macht:
 


Freitag, 20. November 2020

# 266 - Eine Reise durch die Antike - aus pharmazeutischer Sicht

Monika Niehaus und Michael Wink sind promovierte Naturwissenschaftler und haben sich in ihrem Buch Wie man Männer in Schweine verwandelt und wie man sich vor solch üblen Tricks schützt der klassischen Antike aus einer ganz neuen Perspektive genähert. 

Man muss die "Ilias" und die "Odyssee" des griechischen Dichters Homer nicht gelesen haben, um einige Figuren daraus zu kennen. Die Abenteuer von Odysseus, dem König von Ithaka, und seine Begegnungen sowie die weiterer griechischer Sagenhelden mit Zauberinnen, Ungeheuern und anderen mythischen Gestalten sind weltbekannt. Immer wieder ist dort von Zaubertränken oder -salben die Rede und von Menschen, die sich nach dem Kontakt mit ihnen euphorisch, phlegmatisch oder erratisch wütend verhielten. 

Homers "Odyssee" ist keine Tatsachenbeschreibung, sondern schildert epische Geschehnisse. Die beiden Wissenschaftler haben jedoch aufgrund der Beschreibungen versucht nachzuvollziehen, welche naturwissenschaftlichen Indizien hinter diesen dort und in der "Ilias" beschriebenen Phänomenen stecken. 

Doch es geht Niehaus und Wink nicht nur um die dunklen Seiten der frühen Pharmakologie, sondern auch um Liebeselixiere und Heilmittel. Dabei richten sie ihren Blick immer wieder auf die Frage, inwieweit diese schon früh verwendeten Substanzen auch in unserer Zeit noch eine Rolle spielen. Nicht zuletzt geht es auch um Sagengestalten wie zum Beispiel Zyklopen, deren Aussehen sich ebenfalls auf pflanzliche Wirkstoffe, die sich in der Ziegenmilch befunden haben, zurückführen lässt.

Bei allem gilt: Die Dosis macht das Gift. Wirkstoffe, die in geringer Konzentration heilend und wohltuend wirken, töten einen Erwachsenen in wenigen Minuten. Niehaus und Wink belassen es jedoch nicht bei der Erläuterung dessen, was da wohl vor 3.000 Jahren Pflanzenkundige getan haben mögen. Sie erklären anhand von Tafeln die wichtigsten Rauschpflanzen und Gifte.

Das Buch ist humorvoll geschrieben, Fachbegriffe werden unmittelbar erklärt. Für Laien ist es darum kein Problem, den Erläuterungen zu folgen. Auch Dinge, die man schon zu wissen glaubt, werden aufgegriffen: Woher kommt das Wort "Droge" und was bedeutet es ursprünglich? Welcher getrocknete Waldpilz sorgt nach dem Verzehr für ekstatische Halluzinationen und hat die Besonderheit, dass der Urin derjenigen, die ihn konsumiert haben, noch stärker berauschend wirkt? Und woher kommt das Bild von den auf Besen reitenden Hexen?

Wie man Männer in Schweine verwandelt und wie man sich vor solchen üblen Tricks schützt endet mit einem Hinweis auf das sog. 'Odysseus-Phänomen'. Mit dem Begriff ist die existenzielle Unsicherheit von Migranten, die in psychische Belastungsstörungen mündet, gemeint. Das soll auch Odysseus so empfunden haben, wie es Homer in der "Odyssee" (5. Gesang, Vers 82-85) beschreibt:

Weinend saß er am Ufer des Meeres. Dort saß er gewöhnlich,
und zerquälte sein Herz mit Weinen, Seufzen und Jammern,
und durchsuchte mit Tränen die große Wüste des Meeres.

Für Niehaus und Wink schließt sich damit in der Gegenwart ein Kreis, der in der Antike seinen Anfang genommen hat.

 

Wie man Männer in Schweine verwandelt und wie man sich vor solchen üblen Tricks schützt ist 2020 im S. Hirzel Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro. 

 

Freitag, 13. November 2020

# 265 - Ein heißes Eisen: Impfgegner, Alternativmedizin und Gesundheitspolitik

Die Journalistin Beate Frenkel, die als Redakteurin für das politische ZDF-Fernsehmagazin Frontal21 arbeitet, hat mit Pillen, Heiler, Globuli ein Buch herausgegeben, in dem sie sich intensiv mit der sog. Alternativmedizin sowie deren Verbreitung und Vermarktung beschäftigt.

Anhand zahlreicher Beispiele schildert sie, wie sehr selbsternannte Heiler die Verzweiflung von Menschen ausnutzen, die für sich oder Angehörige eine Möglichkeit suchen, eine Krankheit zu überwinden. 

Frenkel schreibt auch über Impfgegner, die Impfungen generell ablehnen und dabei nicht nur gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren, sondern auch das Risiko in Kauf nehmen, dass sich Menschen, die (noch) nicht geimpft werden können, anstecken und im schlechten Fall lebenslang unter den Krankheitsfolgen leiden oder sogar an ihnen versterben. Es kommen zahlreiche Fachleute zu Wort, darunter zum Beispiel auch die Psychologin und Gesundheitswissenschaftlerin Prof. Dr. Cornelia Betsch. Sie hat Diskussionen mit Impfverweigerern mittlerweile aufgegeben, weil diese "Cherry-Picking" betreiben: Studien, die die eigene These stützen, werden als glaubwürdig eingestuft; Studien, die der eigenen Anschauung widersprechen, werden entweder als gefälscht oder gekauft abgetan oder nicht zur Kenntnis genommen. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem Thema findet jedoch nicht statt.

Frenkel schreibt über Ärzte, die auf Wunsch ihrer Patienten Impfungen bescheinigen, die nie stattgefunden haben. Ein Kinderarzt bietet sogar die Ausstellung von Impfunfähigkeitsbescheinigungen an, nachdem ihm ein frankierter Rückumschlag und in Silberpapier einegschlagene zehn Euro gesendet wurden. Es ist für ihn nicht nötig, das jeweilige Kind zu kennen. Nach Ansicht desselben Arztes werden auch die Folgen einer Masernerkrankung völlig überschätzt, die man gut mit Einläufen, einer guten mental-physichen Führung und Homöopathie heilen könne.

Wenn es überhaupt Aktivitäten der Ärztekammern gegen solche Mediziner gibt, werden sie halbherzig angegangen und verlaufen häufig im Sande. Den Medizinlobbyisten ist das Thema zu heikel, als dass sie sich daran die Finger verbrennen wollen. Auch die Krankenkassen ziehen keine Konsequenzen, wenn auch aus anderen Gründen.

Frenkel geht auch auf die Wirksamkeit des "Wundermittels" Chlorbleiche ein, das spätestens seit Donald Trumps Auslassungen hierzu im Zusammenhang mit der Covid 19-Pandemie eine größere Bekanntheit erlangte. Im alternativmedizinischen Bereich wird die ätzende Flüssigkeit u. a. für Einläufe bei autistischen Kindern empfohlen. Einen positiven Effekt hat sie definitiv nicht, dennoch wird mit ihrem und dem Verkauf von Büchern, in dem die Anwendung beschrieben wird, Kasse gemacht.

Die Grenzen zwischen alternativer und Schulmedizin sind häufig nicht klar auszumachen. Frenkel berichtet, welche Menschen sich typischerweise in besonders starkem Maß gegen das Impfen und für alternative Methoden aussprechen und was ihrer Meinung nach passieren muss, damit Schaden von Patienten abgewendet wird, die den Versprechen der Heiler glauben. Auch zu der Wirkung der Covid 19-Pandemie auf diese Entwicklung nimmt sie Stellung.

Lesen?

Wer sich umfassend über die Kluft zwischen der Schul- und der Alternativmedizin informieren möchte, ist mit diesem Buch gut beraten. Lesern, die sich ohnehin schon mit dieser Thematik befasst haben, wird das eine oder andere bekannt vorkommen. Frenkel stellt jedoch in ihrem Buch ihre große Sachkenntnis unter Beweis, für die sie bereits 2019 für ihre Frontal21-Dokumentation "Pillen, Pulver, Wunderheiler – Das Geschäft mit der Alternativmedizin" den expopharm-Medienpreis erhalten hatte.

Pillen, Heiler, Globuli ist 2020 im Hirzel-Verlag erschienen und kostet als Klappenbroschur 18 Euro. 

Freitag, 6. November 2020

# 264 - Zwei Seelen bei Nacht

Mit Unsere Seelen bei Nacht hat Kent Haruf einen sehr sensiblen und im besten Sinne zu Herzen gehenden Roman geschrieben. Im Mittelpunkt stehen zwei Menschen, die den Mut finden, ihrem eingefahrenen Leben eine neue Wendung zu geben.

Die 70-jährige Addie lebt allein in der fiktiven Kleinstadt Holt in Colorado, dem Schauplatz aller Romane des US-Autors. Sie ist schon lange verwitwet und fühlt sich einsam. Eines Tages entschließt sie sich dazu, einen Häuserblock weiter bei Louis zu klingeln. Louis ist im selben Alter, ebenfalls verwitwet und alleinlebend. Zu seinem Erstaunen macht ihm Addie einen ungewöhnlichen Vorschlag: Sie wünscht sich, dass er ab und zu bei ihr übernachtet. Es geht ihr nicht um Sex, sondern um seine Gesellschaft und gute Gespräche, die sich am besten im Dunkel der Nacht führen lassen.

Louis willigt ein und kommt beim ersten Mal über die Hintertür in Addies Haus. Doch die Seniorin protestiert: Es passiert schließlich nichts Unrechtes, das verheimlicht werden müsste, also solle Louis doch die Vordertür benutzen. Schon an dieser Stelle möchte man applaudieren und die beiden unterstützen: Genießt den Rest eures Lebens und lasst euch das, was euch guttut, nicht von "den Leuten" madig machen.

Diesem Credo folgen die beiden dann tatsächlich, was Louis etwas schwerer fällt als Addie. Sie zeigen sich gemeinsam in der Öffentlichkeit und verbringen irgendwann nicht nur die Nächte, sondern auch immer mehr von den Tagen miteinander. Ihre zunächst platonische Beziehung wird immer romantischer, und da sie einander absolute Ehrlichkeit versprochen haben, erzählen sie sich im Schutz der Dunkelheit auch die unschönen Dinge, die ihnen im Leben widerfahren sind. Die emotionale Nähe nimmt zu, das Vertrauen zwischen ihnen wächst. 

Doch natürlich bleibt ihre Zweisamkeit in Holt nicht unbemerkt: Bekannte machen mal mehr, mal weniger deutliche Bemerkungen, die meisten haben für die beiden kein Verständnis. Doch Addie und Louis gelingt es, mit diesen Vorbehalten gelassen umzugehen.

Einige Monate später scheint die Ehe von Addies Sohn Gene am Ende zu sein. Um weiter seinen Beruf ausüben zu können, bringt er seinen sechsjährigen Sohn Jamie zu seiner Oma. Louis wird bald zu dessen väterlichem Freund und die Drei bilden den Sommer über eine harmonische Gemeinschaft, in der dann auch noch ein Hund aus dem Tierheim ein Zuhause findet.

Aber Gene ist das "Treiben" des verliebten Paares ein Dorn im Auge, ebenso wie Louis' Tochter Holly, die die Beziehung als 'peinlich' bezeichnet. Das Recht, das sie selbstverständlich für sich fordert - ihr eigenes Leben ohne Bevormundungen zu leben -, spricht sie ihrem Vater ab. Mit ihren Vorhaltungen hat sie allerdings keinen Erfolg.

Gene dagegen setzt seine Mutter mit einer emotionalen Erpressung unter Druck, um die Situation in seinem Sinn zu verändern. Addie und Louis, die bis dahin autark und selbstbestimmt gelebt haben, werden auf das Niveau von fremdbestimmten Kindern zurückgeworfen.

Lesen?

Auf jeden Fall! Kent Haruf ist es gelungen, einfühlsam zu schildern, wie sich Addie und Louis langsam aneinander herantasten und ihre Partnerschaft an Tiefe gewinnt. Er macht seinen Lesern unaufdringlich deutlich, dass jeder Mensch eine einzigartige Persönlichkeit mit all ihren Stärken und Schwächen ist. 

Das würde schon genügen, um ein wirklich gutes Buch zu schreiben. Doch dann ist da noch der feine Humor des Schriftstellers, der sich in kleinen Momenten wie diesem zeigt: Nach dem plötzlichen Tod von Addies betagter Nachbarin Ruth, zu der das Paar einen guten Kontakt hatte, verkauft deren Nichte als Alleinerbin das Haus. Die Nichte hatte sich nie um Ruth gekümmert und legt keinen Wert darauf, die Urne mit der Asche ihrer Tante zu bekommen. Addie nimmt die Urne an sich und verstreut Ruth' Asche gemeinsam mit Louis nachts um zwei im Garten hinter dem Haus der Verstorbenen - in dem bereits die neuen Eigentümer wohnen.

An einer Stelle nimmt Haruf in einem Dialog zwischen Addie und Louis seine eigenen Bücher auf die Schippe: Die beiden finden die Handlungen darin ziemlich weit hergeholt, besonders in dem Buch, in dem zwei alte Viehzüchter ein schwangeres Mädchen bei sich aufnehmen. Großartig!

Unsere Seelen bei Nacht ist 2017 im Diogenes Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 20 Euro sowie als Taschenbuch 13 Euro.