Samstag, 31. Mai 2025

# 476 - Project 2025: Nur ein Plan oder längst Realität?

Project 2025: Diesen Begriff haben die meisten schon
einmal gehört. Als er erstmals medial in den Fokus rückte, wurde er von vielen noch als eine neue Verschwörungserzählung abgetan, weil das, was in die Öffentlichkeit gelangte, nach rechter Radikalität und Kahlschlag auf mehreren Ebenen klang. Mittlerweile sind zwei Dinge klar: Project 2025 ist ein knallharter Regierungsfahrplan, der ein Demokratie-, Budget- und Behördenkahlschlag ist und auf der ultrarechten Vorstellung, wie das Land (und gern die Welt) zu sein hat, basiert.

David A. Graham ist ein Politikexperte, insbesondere für die Politik in den USA. Der seit vielen Jahren für die Zeitschrift The Atlantic schreibende Journalist wurde bereits für seine Berichterstattung über den Präsidentschaftswahlkampf 2020 ausgezeichnet. In Der Masterplan der Trump-Regierung erläutert er, was tatsächlich hinter Project 2025 steckt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Mandate for Leadership von Project 2025 - Conservative Promise. Mandate for Leadership ist eine Buchreihe, die seit 1981 von der konservativen Heritage Foundation herausgegeben wird und der künftigen Bundesregierung Hinweise gibt, wo und wie sich diese ihrer Meinung nach engagieren sollte.

Trumps erste Amtszeit begann im Chaos. Kaum jemand hatte damit gerechnet, dass er die Wahl gewinnen würde. Er selbst auch nicht. Damals war nichts vorbereitet: Es gab weder einen Plan noch Personal.
Das ist diesmal anders. Die Heritage Foundation hat den Ablauf der aktuellen Regierungszeit beinahe minutiös vorbereitet. Das Ziel ist, die USA zu einem christlich-konservativen und autoritär agierenden Land zu machen. Der Journalist Klaus Brinkbäumer bringt es in seinem Vorwort auf den Punkt: 
"David Graham hat kein Werk über Ideen und Ideologien geschrieben, sondern einen Bericht über konkrete, kondensierte Macht - und darüber, wie sie organisiert, kanalisiert, konzentriert, entfesselt und missbraucht wird." Es ist "ein staatsfeindliches Manifest in staatsrechtlichem Gewand. Es richtet sich gegen so ziemlich alles, was die amerikanische Demokratie über Jahrzehnte stabilisiert hat: die Gewaltenteilung, den professionellen Verwaltungsapparat, internationale Kooperation, einen Grundkonsens über gesellschaftlichen Pluralismus und demokratische Normen".

Wer Grahams Buch liest, findet vieles von dem wieder, was die Medien seit dem Amtsantritt von Donald Trump berichtet haben: das Handeln eines von Rache getriebenen Autokraten, das impulsiv und instinktgesteuert ist; das Regieren mit Dekreten ohne die Beteiligung des Kongresses; den massiven Um- oder Abbau von Bundesbehörden einschließlich massenhafter Entlassungen; das Ignorieren von Gerichtsurteilen; das Ignorieren von Freundschaften mit anderen Staaten, die bislang als unverbrüchlich angesehen wurden. Trumps erratisches Agieren soll durch Project 2025 eingehegt und im Sinne der Zielerreichung kanalisiert werden.  

Die Nachrichten, die uns aus den USA erreichen, decken sich im Wesentlichen mit den vier Zielen von Project 2025, die vom Präsidenten der Heritage Foundation, Kevin Roberts, formuliert wurden:

  • "Die Widerherstellung der Familie als Mittelpunkt des amerikanischen Lebens und den Schutz unserer Kinder;
  • den Abbau des Verwaltungsstaats und die Rückgabe der Selbstverwaltung an das amerikanische Volk;
  • die Verteidigung der Souveränität, der Grenzen und des Reichtums unserer Nation gegen globale Bedrohungen und
  • die Sicherung unserer von Gott gegebenen individuellen Rechte auf ein freies Leben - also das, was unsere Verfassung als die 'Segnungen der Freiheit' bezeichnet."

Lesen?

Der Masterplan der Trump-Regierung trägt den Untertitel Wie ein radikales Netzwerk in Amerika die Macht übernimmt. Das trifft es genau, denn Donald Trump hat im Wahlkampf gegen Kamala Harris bestritten, das Machwerk gelesen zu haben. Das dürfte zu den wenigen Dingen gehören, die man dem US-Präsidenten glauben darf, denn viele Menschen, die ihn näher kennengelernt haben, sagen übereinstimmend, dass er eine schlechte Konzentrationsfähigkeit hat und praktisch nie etwas liest. Harris hingegen hat mehrmals vor Project 2025 und seinen Folgen für das Leben der US-Amerikanerinnen und -Amerikaner gewarnt und war damit nicht allein.

Wer mehr zu diesem Thema wissen möchte, sich aber nicht die 920 Seiten des Mandate für Leadership 2025 antun will, sollte Grahams Buch lesen. Manches davon ist bereits eingetreten, auf viele andere Veränderungen darf man sich noch "freuen".

Der Masterplan der Trump-Regierung ist 2025 unter dem Originaltitel The Project. How Project 2025 is Reshaping America erschienen und wurde vor wenigen Tagen im S. Fischer Verlag in der deutschen Fassung veröffentlicht. Es kostet als Paperback 18 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.


Dienstag, 20. Mai 2025

# 475 - Völlig losgelöst im All

Astronautinnen und Astronauten aus verschiedenen
Ländern sowie zwei russische Kosmonauten umkreisen in einer Raumstation die Erde - zwei Frauen und vier Männer. In ihrem Roman 
Umlaufbahnen sieht Samantha Harvey ihnen einen Tag lang zu - in sechzehn Umlaufbahnen à neunzig Minuten.

In etwa 400 Kilometern Höhe bewegt sich die Raumstation seit mehr als 25 Jahren mit einer Geschwindigkeit von rd. 29.000 km/h um den "blauen Planeten". Die sechs Menschen versuchen, sich weit weg von ihrer Heimat und denen, die sie lieben, einen Alltag aufzubauen. Sie schlafen in hängenden Schlafsäcken, machen Sport gegen den Muskelabbau, essen Standardkost aus Tüten und zwischendurch Lebensmittel, die ihnen ihre Angehörigen mit der Versorgungskapsel geschickt haben, und verbringen Zeit mit ihren Kolleginnen und Kollegen. Ihre Arbeit besteht aus wissenschaftlichen Experimenten und der Erledigung von Aufträgen, die sie von der Bodenstation erhalten. 

Samantha Harvey hat jedoch kein nüchtern-technisches Buch geschrieben, sondern der Raumfahrt einen poetisch-emotionalen Anstrich gegeben. Sie schildert den Ausblick der Astronautinnen und Astronauten auf ihren Heimatplaneten in schillernden Worten, wirft einen Blick auf den persönlichen Lebenshintergrund jeder einzelnen Person und macht durch ihre Sprache deutlich, wie sehr in einer Raumstation das Leben im All und das auf der Erde auseinanderfallen. Das, was hunderte Kilometer unter ihnen passiert, hat aus dieser Perspektive einen fast schon surrealen Charakter:
Die Philippinen werden von einem riesigen Taifun heimgesucht, aber von der Raumstation aus sieht man kein Leid, das vom Sturm angerichtet wird, sondern die spektakulären Wolkenformationen, die auf das Land zuziehen. Eines der Crewmitglieder hat während eines Urlaubs eine philippinische Fischerfamilie kennengelernt; dieser persönliche Bezug verdeutlicht die katastrophalen Folgen des Wirbelsturms für die Bewohnerinnen und Bewohner des Landes.
Gleichzeitig erfährt eine der Astronautinnen vom Tod ihrer Mutter. Der bedrückende Moment der Erkenntnis, nicht bei deren Beisetzung dabei sein zu können, schwappt auf die Leserinnen und Leser über.

Nebenbei vermittelt Samantha Harvey Details über die Raumstation, die in diesem Roman zwar keinen Namen hat, aber wahrscheinlich die ISS ist. So erfährt man beispielsweise, dass es zwei Toiletten gibt: eine für die beiden russischen Kosmonauten, eine US-amerikanische Toilette für alle anderen. Eindeutige Hinweisschilder an den Toilettentüren legen fest, wer auf welches stille Örtchen gehen muss. Das Schild vor dem US-WC wird durch einen Hinweis ergänzt: Bitte benutzen Sie aufgrund der andauernden politischen Auseinandersetzungen ihre eigene nationale Toilette.
Die Besatzung hält sich oft nicht an die Trennung, macht sich aber darüber lustig. Der Kosmonaut Roman wird mit dem Satz "Ich bin mal eben weg und leg ein Ei für Mütterchen Russland" zitiert. So sieht es aus, wenn Politik seltsame Blüten treibt. Das Bodenpersonal muss machtlos beobachten, wie die Besatzung auch die geographische Aufteilung der Ergometer oder des Essenslagers missachtet.

Die Crew weiß noch nicht, dass sich die Lebenszeit der Raumstation dem Ende zuneigt. An der Außenwand des Raumschiffs ist ein feiner Riss, der einen so geringen Druckabfall im russischen Modul bewirkt, dass kein Alarm ausgelöst wird. Aber der Riss wird breiter, ganz langsam ...

Lesen?

Umlaufbahnen ist nicht nur eine plastische Schilderung des Lebens in einer Raumkapsel, es ist auch eine Ode an die Schönheit der Erde. Einer Erde, die von den Menschen nach und nach zerstört wird: Harvey beschreibt den von roten oder neonfarbenen Algenblüten gefärbten Atlantik, der längst überfischt ist und sich stetig weiter erwärmt ebenso wie die Verdunstungsteiche, aus denen Lithium gewonnen wird oder die schrumpfenden Eisschilde der Gletscher. Die Crewmitglieder registrieren diese menschengemachten Schäden: 'Aus ihrer Perspektive ist der Einfluss der Politik so offensichtlich, manifestiert sich in jedem Detail des Anblicks, dass sie gar nicht verstehen, wie ihnen das zunächst entgehen konnte', resümiert Harvey. An dieser Stelle macht es sich die Autorin möglicherweise zu einfach. Das gilt auch für die ein oder andere technische Beschreibung. Aber hier genau zu sein, war sicher nicht ihre Absicht.

Samantha Harvey bekam für ihren Roman den Booker Prize 2024.

Umlaufbahnen ist 2024 bei dtv erschienen und kostet als Hardcover-Ausgabe 22 Euro sowie als E-Book 18,99 Euro.

Nachtrag: Wer sich für Raumfahrt interessiert, kann sich mithilfe der kostenlosen App 'ISS Live Now' Aufzeichnungen aus dem Inneren der ISS ansehen oder live deren Erdumrundung verfolgen.


Montag, 12. Mai 2025

# 474 - Geschichte einer manipulativen Beziehung

Die serbische Schriftstellerin Milica Vučković hat bereits
einige literarische Auszeichnungen erhalten. Nun ist erstmals eines ihrer Bücher auf Deutsch erschienen: In ihrem Roman 
Der tödliche Ausgang von Sportverletzungen geht es zwar nicht um Sport, aber um andere physische und psychische Verletzungen.

Eva ist knapp über dreißig und lebt nach einer gescheiterten Ehe mit ihrem zweijährigen Sohn bei ihren Eltern in einem Belgrader Vorort. Ihre Eltern sind ihr eine große Hilfe, weil sie sich um ihren Enkel kümmern, damit ihre Tochter arbeiten gehen kann. Doch Eva geht nur wegen des Geldes ins Büro, ansonsten ist sie sowohl von ihrer Tätigkeit als auch von den Kolleginnen und Kollegen angeödet. Ihr Leben läuft aus ihrer Sicht in einer Endlosschleife ab.

Bei einer Firmenfeier lernt Eva den gutaussehenden Viktor kennen. Er stellt sich ihr als Journalist und Schriftsteller vor, die beiden werden ein Paar. Dann folgt etwas, von dem man schon viele Male unter dem Stichwort "toxische Beziehung" gehört hat: Viktor umgarnt Eva mit Komplimenten und Liebesbeteuerungen, um kurz darauf wegen einer Nichtigkeit die Nerven zu verlieren, seine Freundin zu beschimpfen und irgendwann auch zu schlagen. Es folgen Entschuldigungen, Besserungsgelübde und neue Liebesschwüre, bis alles wieder von vorn beginnt. Es gelingt Viktor, Eva mit der Aussicht auf eine rosige gemeinsame Zukunft von Belgrad nach Stuttgart zu locken. Eva ist nun auf Viktor angewiesen, der mit Gemeinheiten, Lügen und Intrigen erreicht, dass seine Freundin in ihrer neuen Heimat keine stabilen sozialen Kontakte aufbauen kann.

Die Geschichte wird als Ich-Erzählung von Eva geschildert, was sie sehr eindringlich und nahbar macht. Was paradox erscheint, in Beziehungen nach diesem Muster jedoch typisch ist: Eva registriert, dass Viktor ein Soziopath und Choleriker ist, der dabei ist, sie zu brechen. Doch wenn es zwischen den beiden zum Streit kommt, ist sie zu oft bereit, die Schuld dafür bei sich zu suchen, um die Wogen zu glätten. Sie beginnt bald, körperlich zu spüren, wenn sich ein neuer Konflikt anbahnt: "[...], im Kopf hörte ich wieder dieses Geräusch, immer nur dieses eine Geräusch, ich stellte mir vor, dass man so ein Geräusch unter solchen Hochspannungstransformatoren, Signalverstärkern hörte, obwohl ich nie unter einem Signalverstärker gestanden hatte, aber das war bestimmt dieses Geräusch."  Auch Evas kleiner Sohn leidet unter der katastrophalen Situation: Er wird immer stiller und beginnt, sich wieder einzunässen. Das Kind wird je nach Situation zu Evas Eltern, zur Nachbarin oder zu serbischen Freunden von Evas Vater, die in Stuttgart in ihrer Nähe leben, gebracht, bis sich das Verhältnis zwischen seiner Mutter und Viktor wieder eingerenkt hat.

Eva wird erst spät klar, dass viele Menschen um sie herum längst wahrgenommen haben, was da zwischen ihr und Viktor passiert; eher, als sie es sich selbst eingestanden hatte. Dann kommt der Moment, an dem sie sich einredet, dass ein gemeinsames Kind die Beziehung zum Guten wenden könnte. Als ihre Periode aussetzt, hofft sie auf weitere Anzeichen für eine Schwangerschaft. Das ist einer von vielen Momenten, an denen man Eva am liebsten schütteln und ihr sagen will: "Lauf weg von diesem Mann, so weit und so schnell du kannst." Der Roman endet so, wie es in Beziehungen, die nach diesem Muster verlaufen, häufig vorkommt.

Lesen?

Trotz des bedrückenden Themas schlägt das Buch beim Lesen nicht auf die eigene Stimmung. Das liegt vor allem am schwarzen Humor, den Milica Vučković wohldosiert einstreut. Eva nutzt beispielsweise ihr Handy als ein Ventil. Wenn wieder mal eine Situation eskaliert ist, gibt sie manchmal in die Suchleiste des Browsers dazu passende Anfragen ein: Viktor packt wieder seine Sachen in eine Reisetasche, um Eva auf seine übliche theatralische Art zu verlassen. Eva hingegen ist genervt vom Geräusch der Reißverschlüsse und gibt in das Suchfeld "Tod wegen Reißverschluss" ein. Das Ergebnis ist allerdings nicht das, was sie erwartet hatte.

Milica Vučković bedankt sich zum Schluss bei einer Freundin, die ihr ihre eigene Geschichte über eine toxische Beziehung mit einem Mann erzählt hat. Da kommt es dann wieder zurück, das Gefühl der Bedrückung.

Der tödliche Ausgang von Sportverletzungen ist 2025 im Paul Zsolnay Verlag erschienen und kostet gebunden 23 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.


Montag, 5. Mai 2025

# 473 - Habemus Papam: Der Papst ist tot, es lebe der Papst

Am Ostermontag verstarb Papst Franziskus, am 7. Mai
2025 wird das Konklave für seinen Nachfolger beginnen. 133 von 135 wahlberechtigten Kardinälen werden im Vatikan abgeschirmt vor den Augen der Welt aus ihren Reihen einen neuen Papst wählen. Stimmberechtigt sind nur unter 80-jährige Kardinäle, die sich für die Wahl in der Sixtinischen Kapelle versammeln. Sobald der Zeremonienmeister die Aufforderung "Extra omnes" ("Alle hinaus") ausspricht, müssen alle Nicht-Wähler den Raum verlassen. 
Nach jedem Wahlgang werden die Stimmzettel verbrannt: Steigt schwarzer Rauch aus dem eigens zu diesem Anlass montierten Schornstein der Sixtinischen Kapelle auf, ist keine Entscheidung gefallen. Ist jedoch weißer Rauch zu sehen, haben sich zwei Drittel der Wähler für einen Kandidaten entschieden, der anschließend der neue Papst sein wird. Was während des Konklaves passiert, unterliegt strengster Geheimhaltung. Verstößt ein Kardinal gegen dieses Gebot, droht ihm die Exkommunikation.

Diese Regeln werden durch weitere ergänzt, die keineswegs immer gleich waren. Die Anfänge der Papstwahlen, deren Verläufe, die politischen Hintergründe sowie die sich verändernde Rolle der Päpste schildert der Vatikanexperte Stefan von Kempis in seinem neuesten Buch Weißer Rauch und falsche Mönche - Eine andere Geschichte der Papstwahl.

Bei der Papstwahl ging es oft wenig zimperlich zu. Ab dem 3. Jahrhundert kommt es immer wieder zur Wahl von Päpsten und Gegenpäpsten, eine 'Tradition', die sich bis ins 15. Jahrhundert fortsetzte.
Wer sich eine Papstwahl als ehrenwerte Veranstaltung vorstellt, aus der nur der geeignetste Kardinal als Papst hervorgeht, weiß nach der Lektüre dieses Buches mehr: Im 6. bis 8. Jahrhundert wird Papst, "wer politischen Rückhalt genießt, wer Milizen hinter sich hat, die ihm auf den Straßen Roms Respekt verschaffen, oder wer über genügend Geld verfügt, um sich Stimmen zusammenzukaufen". Damals war das Amt stark politisch geprägt. Kein Wunder, dass da viele Leute außerhalb der Kirche ihre Finger im Spiel hatten. Auch das wiederholt sich bis in das 14. Jahrhundert hinein.
Gustav Piffl war Erzbischof von Wien und nahm 1914 und 1922 an den Konklaven teil. Nach seinem Tod 1932 wurden seine Tagebücher gegen seinen ausdrücklichen Wunsch 1963 in einer belgischen Tageszeitung abgedruckt. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass hinter den Kulissen mit Methoden um das Papstamt gekämpft wurde, die sich mit dem christlichen Wertekanon eher nicht in Einklang bringen lassen.

Stefan von Kempis rollt das Papstamt von Beginn an vor seinen Leserinnen und Lesern aus. Er stellt zum Beispiel die berechtigte Frage, warum ausgerechnet der wankelmütige und unzuverlässige Apostel Petrus für die katholische Christenheit der Ausgangspunkt für das Papstamt ist, das seinetwegen auch als Petrusamt bezeichnet wird. Petrus gründete zwar die erste christliche Gemeinde in Jerusalem, aber er war nun mal auch derjenige, der Jesus drei Mal verleugnete.
Auch die Frage, warum ausgerechnet Rom der Mittelpunkt der katholischen Kirche wurde, wird von dem bei Vatican News tätigen Journalisten beantwortet.
Interessant ist auch, dass Wahlmodi, um die heute immer wieder kontrovers diskutiert wird, zu Zeiten der ersten Päpste selbstverständlich praktiziert wurden. Das trifft insbesondere auf die ersten Jahrhunderte der Papstwahlen zu, in denen Laien an der Wahl beteiligt waren. Am deutlichsten geht das aus der Kirchenordnung Traditio Apostolica aus dem beginnenden 3. Jahrhundert hervor, die vorschreibt, dass der Bischof von Rom vom ganzen Volk gewählt wird.
Stefan von Kempis hat bis ins 16. Jahrhundert hinein achtzehn unterschiedliche Arten der Papstwahl gezählt.

Lesen?

In Weißer Rauch und falsche Mönche - Eine andere Geschichte der Papstwahl erzählt Stefan von Kempis in einem unterhaltsamen Plauderton die Geschichte des Papsttums, sodass das Buch trotz der manchmal verwirrenden Namensvielfalt immer interessant ist. Er schreckt auch nicht vor der Schilderung von unappetitlichen Ereignissen wie beispielsweise der sog. Leichensynode von 897 zurück: Um die Entscheidungen von Papst Formosus rückgängig zu machen, wird dessen Leichnam exhumiert und zum Zentrum einer schaurigen Inszenierung gemacht. Römische Kleriker und Bischöfe erklären den Toten für von vornherein unwürdig, das Papstamt zu bekleiden, und untermalen dies mit symbolischen Handlungen. An dieser Stelle wird der Vorgang so unappetitlich, dass ich auf die Fortsetzung der Schilderung verzichte.

Und was hat es mit den falschen Mönchen auf sich, von denen im Untertitel des Buches die Rede ist? Sie streifen 1559 während des mit 113 Tagen längsten Konklaves des 16. Jahrhunderts durch Roms Straßen und stiften mit dem Predigen von protestantischen Inhalten Verwirrung und Unruhe. Sie gab es tatsächlich.
Papst Pius IX., dem der Kirchenstaat verloren gegangen war, sorgte sich um die Zukunft des Papsttums und erließ eine große Zahl von angstbesetzten Konklave-Verordnungen. Er hielt es für möglich, dass sich Anhänger des Revolutionärs Garibaldi als Mönche verkleidet ins Konklave schmuggeln und dort Unruhe verbreiten könnten. Sie sind die eingebildeten falschen Mönche.

Einige Kardinäle, die an der kommenden Papstwahl teilnehmen werden, geben der Presse bereits ihre Einschätzung zur wahrscheinlichen Dauer des Konklave. Wie die Geschichte zeigt, kann das jedoch eine sehr schnelle, aber auch zähe Angelegenheit werden: Zwischen drei Stunden (1503) und 1005 Tagen (ab November 1268) war bisher alles möglich.

Weißer Rauch und falsche Mönche - Eine andere Geschichte der Papstwahl ist 2025 im Herder Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 25 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.