Dienstag, 29. Juli 2025

# 483 - Surreale Kurzgeschichten

Etgar Keret ist ein Experte für Kurzgeschichten. Nicht
nur, aber auch. In seinem neuesten Buch Starke Meinung zu brennenden Themen versammeln sich 33 von ihnen und bieten ihren Leserinnen und Lesern einen oft surrealen Blick aufs Leben.

Haben wir uns nicht manchmal gewünscht, in eine Zeitmaschine zu steigen und in der Zeit vor oder zurück zu reisen? Kerets Vision in einer der Geschichten macht es möglich, hat jedoch einen entscheidenden Haken: Wer in die Zukunft reist, nimmt an Körpergewicht zu; wer sich in der Vergangenheit umsehen möchte, verliert zwar einige Kilogramm, muss sich aber mit den Gefahren des vergangenen Zeitalters herumschlagen und dort bleiben, wenn er nicht wieder sein altes (Über-)Gewicht bekommen will.

Der Verlauf der titelgebenden Geschichte der englischen Ausgabe (Autocorrect) erinnert entfernt an den Kinofilm "Und täglich grüßt das Murmeltier": Juvi ist CEO des von ihm gegründeten Unternehmens. Heute ist ein wichtiger Tag, weil die Chinesen einen Vertrag unterschreiben werden. Sein Vater kommt an diesem Morgen schon früh in Juvis Wohnung und möchte mit ihm gemeinsam in die Firma fahren. Doch dann gibt es einen Unfall, bei dem der Vater ums Leben kommt. Die Frage, die sich Keret gestellt hat, lautet: Hätte das Unglück durch eine andere Entscheidung verhindert werden können? 
Wie oft haben wir uns das nicht schon selbst gefragt: Was wäre gewesen, wenn ich dies oder jenes getan oder gelassen hätte? Wir haben darauf keine Antwort, aber Keret nimmt sich die Freiheit, den morgendlichen Ablauf wieder und wieder wie einen Film zum Anfang zurückzuspulen. Jeder neue Anfang birgt die Chance, dass nun alles gut wird oder das Schicksal erneut die Keule herausholt.

Fast alle Kurzgeschichten spielen in Israel, der Heimat des Autors, und viele ranken sich in irgendeiner Weise um den Tod. Keret greift in den meisten dieser kurzen Szenarien ein aktuelles Thema auf und überzeichnet es stark. Das gilt auch für die Titelgeschichte der deutschen Ausgabe: Im Mittelpunkt steht ein Mann, der auf eine Zeitungsanzeige stößt, die provokativ "Haben Sie eine starke Meinung zu brennenden Themen?" fragt. Meine Güte, wer hat das heutzutage nicht? Sind wir nicht umgeben von Leuten, die weniger durch Kenntnisse, aber umso mehr durch ihre (laut)starken Meinungen auf sich aufmerksam machen? Und haben diese Leute nicht so viele Möglichkeiten wie nie zuvor, gequirlten Blödsinn in die Welt zu pusten? Hier setzt Kerets Geschichte an und gewinnt an Fahrt, als der junge Mann den zweiten Satz der Annonce liest: "Jetzt können Sie viel Geld aus Ihren Meinungen machen!" Ein Geschäftsmodell, das mit einem stabilen Einkommen mit wenig Leistung lockt - oder?

Lesen?

Etgar Keret greift wie nebenbei politische und gesellschaftliche Dystopien auf, die zum Teil bereits Wirklichkeit geworden sind: Das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023, der seit dem Ende des 19. Jahrhunderts währende israelisch-palästinensische Hass oder die Corona-Pandemie sind Beispiele dafür. Viele Texte beschreiben einen Alltag, der so auch in den USA stattfinden könnte: Hedgefonds, Dating-Plattformen oder Streaming-Dienste sind Teil des Lebens. Nur wegen der israelischen Ortsbezeichnungen oder den Erwähnungen des israelischen Militärs sowie der Hisbollah wird dieser irreführende Eindruck geradegerückt. Tatsächlich wurden zahlreiche Kurzgeschichten aus diesem Buch in US-amerikanischen Medien veröffentlicht. Jüdisches Leben kommt nur vereinzelt vor, was ein deutlicher Gegensatz zu Büchern anderer jüdischer Autorinnen und Autoren wie beispielsweise Deborah Feldman oder Akiva Weingarten ist.

Kerets Art, zu schreiben, ist sehr speziell und oft irritierend. Bei manchen Geschichten bleibt das Lachen im Hals stecken, weil trotz des Humors, der sich durch die Seiten zieht, viele der Hauptfigur von einer atmosphärischen Düsternis umgeben sind, die sie daran hindert, glücklich zu sein, obwohl sie vom Glück nur eine Handbreit entfernt sind. Kann ich Starke Meinung zu brennenden Themen empfehlen? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht.

Starke Meinung zu brennenden Themen ist 2025 in der Übersetzung von Barbara Linner im Aufbau Verlag erschienen. Das gebundene Buch kostet 24 Euro, das E-Book 17,99 Euro.

Montag, 21. Juli 2025

# 482 - Männer, die die Welt verbrennen

Dieses Buch gehört zu denen, die mich beim Lesen wirklich auf die Palme gebracht haben. Nicht, weil ich den Autor Christian Stöcker kritisieren würde oder nichts vom Inhalt seines Buches Männer, die die Welt verbrennen halte. Das Gegenteil ist der Fall. Die Erkenntnisse aus Stöckers Recherchen rund um die Fossil-Branche sind so haarsträubend, dass man sie ins Reich der Verschwörungserzählungen verweisen möchte - wohin sie nicht gehören. Ein paar Kostproben gefällig?

Zwischen 1970 und 2020 hat die Öl- und Gasbranche inflationsbereinigt pro Jahr einen Gewinn (!) von einer Billion Dollar gemacht. Das sind drei Milliarden Dollar pro Tag! Das entspricht etwa dem jeweiligen Umfang der öffentlichen Haushalte von z. B. Kanada, Italien oder Brasilien. 
Subventionen (= Steuergelder) tragen dazu bei, dass es der Branche weiterhin gut geht. Der Internationale Währungsfond (IWF) stellte fest: "Weltweit beliefen sich die Subventionen für fossile Brennstoffe im Jahr 2022 auf 7 Billionen US-Dollar oder 7,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, was einem Anstieg von 2 Billionen US-Dollar seit 2020 entspricht [...]" Wohlgemerkt nur in diesem einen Jahr.

Noch nicht mal während der Covid19-Pandemie mussten sich die Ölkonzerne um ihr Geschäftsmodell Sorgen machen: Der Gewinn (!) der fünf größten Öl-Aktiengesellschaften ExxonMobil, Shell, Chevron, Total und BP betrug 2022 insgesamt 200 Milliarden Dollar.

Christian Stöcker hat sein Buch in neun Kapitel aufgeteilt. Sehr anschaulich beschreibt er, wie das Netzwerk der Klimawandelleugner erfolgreich agiert, wer am meisten von Geschäften mit fossilen Energien profitiert und wer für die möglichst lange Beibehaltung von Öl und Gas verantwortlich ist. Die maßgeblichen Akteure sind Männer. Es fallen Namen von einflussreichen Profiteuren wie zum Beispiel Charles Koch, Donald Trump oder Wladimir Putin. Sie benutzen ihre Macht und ihr Geld, um Entscheidungsträger in ihrem Sinne zu beeinflussen. Doch es gibt auch eine Reihe von Staaten, deren Haupteinnahmequelle die Erdöl- oder Erdgasförderung ist. Manchmal ist sie sogar die einzige nennenswerte Einnahmequelle. Auch sie sind Teil einer weltweiten Manipulationsmaschinerie.

Desinformation ist ebenfalls sehr gut geeignet, das "bewährte" Geschäft am Laufen zu halten. Erinnert sich noch jemand an die gigantischen Desinformationskampagnen, die die US-amerikanische Tabakindustrie ab 1960 gestartet hatte? Kurz zuvor hatten wissenschaftliche Studien einen Zusammenhang zwischen Zigarettenkonsum und schweren Erkrankungen wie zum Beispiel Lungenkrebs oder chronischer Bronchitis festgestellt. Das Geschäftsmodell der Tabakindustrie drohte, ins Wanken zu geraten. Die Branche streute gezielt Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Studien: Wissenschaftler wurden für dem Rauchen unkritisch gegenüber stehende Studien bezahlt, es wurde Werbung mit irreführenden Botschaften geschaltet und man erzeugte den Eindruck, dass es in der Wissenschaftsszene zwei Lager gebe - was falsch war.

Was das mit der Fossilbranche zu tun hat? Von ihr wird mit denselben Mitteln erfolgreich die öffentliche Meinung beeinflusst, obwohl man dort längst weiß, dass die durch das Verbrennen von Erdöl und -gas freigesetzten Treibhausgase die Erde immer weiter aufheizen. Zitat aus einem internen Briefing mit dem Betreff "CO2 Greenhouse-Effect" des Exxon-Konzerns aus dem Jahr 1982:

"Die Verbrennung fossiler Brennstoffe und die Abholzung von Wäldern gelten als die wichtigsten anthropogenen Faktoren [...]. Wir gehen davon aus, dass sich der Klimawandel um das Jahr 2090 verdoppeln könnte, basierend auf dem im langfristigen Energieausblick von Exxon prognostizierten Brennstoffbedarf. [...] Unsere beste Schätzung geht davon aus, dass eine Verdoppelung der aktuellen Konzentration die durchschnittliche globale Temperatur um etwa 1,3 bis 3,1 Grad Celsius erhöhen könnte." Der Text belegt, dass dem Exxon-Konzern der Zusammenhang zwischen dem Verbrennen von fossilen Brennstoffen und dem Treibhauseffekt schon vor mehr als vierzig Jahren bekannt war.

Doch der Blick richtet sich auch nach Deutschland. Ein Klimawandelleugner-Netzwerk ist hier ebenfalls erfolgreich aktiv. Ein seit 2007 eingetragener Verein mit Verbindungen zu einem FDP-Bundestagsabgeordneten, der AfD sowie Koch Industries streut Halb- oder Unwahrheiten, die durch dessen gute Vernetzung ihre gewünschte Wirkung nicht verfehlen. Derselbe Abgeordnete gründete vor mehr als zehn Jahren eine sogenannte Denkfabrik, die sich als 'Freiheitsinstitut' bezeichnet und libertäre Positionen vertritt, wozu auch die Leugnung des Klimawandels gehört. Diese Denkfabrik ist Teil des Atlas-Netzwerks, das aktiv eine 'klimaskeptische' Grundhaltung vertritt und beispielsweise - wenig überraschend - von den Stiftungen der Koch-Brüder und ExxonMobil finanzielle Zuwendungen erhält.

Im letzten Kapitel "Das Zeitalter des Lichts hat begonnen, das des Feuers muss enden" gibt Stöcker einen Ausblick auf eine Entwicklung, die bereits begonnen hat. In immer mehr Ländern wächst die Erkenntnis, dass die bisherigen Arten, Energie zu erzeugen (einschließlich Atomstrom), im Vergleich zu erneuerbaren Ressourcen zu kostspielig sind. Zitat aus einer 2021 von BloombergNEF veröffentlichten Studie: "In Staaten einschließlich China, Indien und Deutschland ist es jetzt billiger, ein neues, großes Solarkraftwerk zu errichten, als ein bereits existierendes Kohle- oder Gaskraftwerk weiterzubetreiben."

Die Abkehr vom Verbrennen von fossilen Ressourcen wird, wenn nicht aus Klimaschutzgründen, aus ökonomischen Gründen erfolgen.

Lesen?

Der Journalist und Fachhochschul-Professor Christian Stöcker beschäftigt sich schon lange mit Technik-, Energie- und Klimathemen. Mit Männer, die die Welt verbrennen zeichnet er die Mechanismen nach, die der Fossilwirtschaft immer noch ihre großen Gewinne sichern und nur ein Ziel haben: einem kleinen Kreis von Männern (und ihren Unternehmen) ihren Profit zu sichern, auch mit Steuergeldern.

Männer, die die Welt verbrennen ist 2024 bei Ullstein Buchverlage erschienen. Mir lag die im selben Jahr herausgegebene Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung vor, die als Paperback für 5,-- Euro erhältlich ist.

Sonntag, 13. Juli 2025

# 481 - Miss History schreibt

Wer ein bisschen auf Social Media-Kanälen wie
Instagram, Facebook oder TikTok unterwegs ist, ist ihren Beiträgen vielleicht schon begegnet: Unter dem Namen 'Miss History' stellt Melina Hoischen interessante historische Ereignisse vor. Das tut sie in mittelalterlich anmutenden Gewändern und spricht dabei ihr Publikum stilecht mit "Edeldamen und Edelherren, seid gegrüßt zu Eurem täglichen Geschichtswissen" an. Ich kenne sie von Instagram, wo ihr 326.000 Menschen folgen.

In ihrem Buch Mystery mit Miss History hat sie aus ihrem mittlerweile großen Themenfundus zwölf historische Begebenheiten ausgewählt, die so rätselhaft sind, dass sie nicht nur die Menschen ihrer Zeit beschäftigt haben, sondern auch Kriminologen, Theologen, Ingenieure oder Historiker bis heute nicht zur Ruhe kommen lassen.

Melina Hoischen versucht den Rätseln, soweit es mit dem verfügbaren Material möglich ist, auf den Grund zu gehen. Sie widmet sich unter anderem ausführlich den 4.500 Jahre alten Pyramiden von Gizeh, der geheimnisumwobenen Legende von El Dorado oder den steinernen Moai-Statuen, die angeblich über die Osterinsel wandern. Welche Erklärungen gibt es für die rätselhaften Phänomene? Gibt es wissenschaftliche Beweise zum Beispiel für die Existenz von Päpstin Johanna im 9. Jahrhundert? Kann es sein, dass das legendäre Bernsteinzimmer noch existiert? Was hat es mit dem "Zodiac-Killer" auf sich, der Ende der 1960-er Jahre im kalifornischen Napa-Valley die Bürgerinnen und Bürger in Angst und Schrecken versetzte? Und warum und wo ist die Boeing 777 mit der Flugnummer MH 370 auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking abgestürzt?

Die Autorin und Moderatorin schreibt in einem lockeren, manchmal auch flapsigen Stil. Jedes Ereignis wird verständlich erklärt, es sind keine Vorkenntnisse nötig, um ihr zu folgen. Sie greift Beweise und Gegenbeweise auf und erläutert sie gut nachvollziehbar.
Hoischen hat ihrem Buch (E-Book) fünfzig Seiten Fußnoten und Anmerkungen beigefügt, der Tonfall ist aber nicht so sachlich und nüchtern, wie man ihn von den meisten Sachbüchern kennt. Sie hat neben dem Informations- auch auf den Unterhaltungswert Wert gelegt. Beides ist ihr gelungen.

Lesen?

Mystery mit Miss History greift spannende und bekannte Rätsel der Weltgeschichte auf, über die immer wieder in unregelmäßigen Abständen in den Medien berichtet wird - dann, wenn es (angeblich) neue Erkenntnisse gibt. Das ist interessant und haucht den geschichtlichen Ereignissen, die man in der Schule vielleicht mit einem unterdrückten Gähnen verfolgte, Leben ein.

Hoischers Schreibstil hat mich nicht durchgehend begeistert: zu viele Ausrufungszeichen, zu viele "..." bei etwas Geheimnisvollem oder Unerklärlichem und ab und zu eingestreute Emojis. Aber das ist Geschmackssache und hält mich nicht davon ab, das Buch als Lektüre zu empfehlen.

Mystery mit Miss History ist 2025 bei Knaur erschienen und kostet als gebundenes Buch 18,99 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.


Freitag, 11. Juli 2025

# 480 - Ein tödliches Testament

Der bekannte und wohlhabende Seidenfabrikant Sahei Inugami hat sowohl sein Unternehmen als auch seine Familie streng patriarchalisch geführt. 1945 stirbt der 81-Jährige in seinem Anwesen am Nasu-See im Kreis seiner Familie. Nur sein Anwalt Kyozo Furudate ahnt, dass mit dem letzten Atemzug des alten Mannes keine guten Zeiten anbrechen. Furudates ungutes Gefühl soll sich in Der Inugami-Fluch des japanischen Krimi-Autors Seishi Yokomizo bewahrheiten. Das Buch ist der vierte Band einer Reihe um den unkonventionellen, aber erfolgreichen Privatdetektiv Kosuke Kindaichi.

Kindaichi wird von einem Mitarbeiter Furudates gebeten, unverzüglich an den Nasu-See zu kommen. Jemand hat unbefugt Inugamis Testament gelesen, der Detektiv soll nun das Schlimmste verhindern. Doch Kindaichi lernt den Mitarbeiter nicht mehr kennen, weil dieser vergiftet wird. Kindaichis Interesse ist geweckt. Mit Erlaubnis der Familie nimmt er an der Testamentseröffnung teil und erlebt hautnah das Entsetzen der Angehörigen: Das Testament des Verstorbenen sieht vor, dass nicht etwa Inugamis drei Töchter oder seine Enkelkinder bedacht werden sollen, sondern die junge und sehr schöne Tamayo Nonomiya das Vermögen erbt. Tamayo ist allerdings kein Familienmitglied, sondern die Enkelin eines Priesters. Dieser kümmerte sich um den damals 17-jährigen Waisen Inugami und hat ihn sein ganzes Leben lang unterstützt.

Tamayos Erbschaft ist jedoch an eine Bedingung geknüpft: Sie muss innerhalb von drei Monaten einen der Enkelsöhne heiraten. Tut sie es nicht, verfällt ihr Anspruch. Als Nacherbe hat Inugami einen unehelichen Sohn benannt, der seit langer Zeit als verschollen gilt und von der Familie totgeschwiegen wird. Die Erbkonstellation setzt eine Mordserie in Gang, bei der die Toten in bizarren Situationen aufgefunden werden.

Privatermittler Kindaichi findet sich bei seinen Nachforschungen in einem Geflecht von Intrigen, Lügen, heimlichen Liebschaften und enttäuschten Hoffnungen wieder, das er entwirren muss, um herauszufinden, wer für die Morde verantwortlich ist.

Lesen?

Vor mehr als zwei Jahren habe ich hier den ersten Band der 77-teiligen Krimiserie um den Detektiv Kosuke Kindaichi Die rätselhaften Honjin-Morde  vorgestellt. Der Autor Seishi Yokomizo ist bereits seit über vierzig Jahren verstorben, seine Bücher sind in Japan jedoch noch immer populär. Sie bieten einen Einblick in frühere Gepflogenheiten des Landes, an die sich heute nur wenige Menschen erinnern. Bei Yokomizo wird nicht nur gemordet, um jemanden aus dem Weg zu schaffen; es wird gemordet, um mit viel Symbolik und Anspielungen auf Landes- oder Familientraditionen Botschaften zu vermitteln. Das trägt wesentlich zur etwas mystischen Atmosphäre des Krimis bei.

Unübersehbar ist die Beurteilung von Frauen: Yokomizos männliche Figuren beurteilen ihren Wert vor allem nach ihrem Aussehen und ihrer Zugewandtheit. Es wird deutlich, dass Frauen unterhalb von Männern stehen. Diese Sichtweise besteht in der japanischen Gesellschaft seit dem 6. Jahrhundert, als der Konfuzianismus begann, sich im Land auszubreiten. Der Inugami-Fluch ist also nicht nur die Geschichte eines Kriminalfalls, sondern auch ein Blick in eine uns fremde Kultur in einer zurückliegenden Zeit.

Der Inugami-Fluch wurde 1951 im japanischen Original erstmals unter dem Titel Die Familie Inugami veröffentlicht. Der von Ursula Gräfe ins Deutsche übersetzte Krimi erschien 2025 bei Blumenbar, einem Imprint des Aufbau-Verlags. Das Buch (Hardcover) kostet 24 Euro, als E-Book 14,99 Euro.

Mittwoch, 2. Juli 2025

# 479 - Beklaute Frauen

Die Journalistin, Historikerin und Literaturwissenschaftlerin Leonie Schöler greift in ihrem Buch Beklaute Frauen auf, was lange Zeit nicht im öffentlichen Bewusstsein war: Zahlreiche Frauen, die auf ihrem Gebiet Großes geleistet haben, erlebten, dass nicht sie, sondern die Männer, mit denen sie zusammengearbeitet hatten, geehrt wurden. Diejenigen, die ihnen die Anerkennung verwehrten, waren Männer: Kollegen in der Forschung, Künstler (Picasso kommt hier ganz schlecht weg), einflussreiche Männer des Literaturbetriebs, Ehemänner...

Die Annahme, dass Männer seit Anbeginn der Menschheit dasjenige Geschlecht sind, das führende Positionen inne hatte, während Frauen Früchte sammelten, kochten und sich um die Kinder kümmerten, wurde durch mehrere archäologische Funde widerlegt. Der wohl spektakulärste Fund wurde 2008 gemacht: Bei Valencia wurde das 5.000 Jahre alte Grab eines einflussreichen Herrschers aus der Kupferzeit entdeckt. Darin befanden sich wertvolle Grabbeigaben und aus Elfenbein gefertigte Waffen. Die Wissenschaftler gingen selbstverständlich davon aus, dass es sich bei den Gebeinen um einen Mann gehandelt hat und nannten ihn "Ivory Man". Erst 2023 ergaben DNA-Untersuchungen, dass sich die Forscher geirrt hatten: Es handelte sich bei dieser hochgestellten Persönlichkeit um eine Frau. Man war lange Zeit davon ausgegangen, dass man anhand der Grabbeigaben automatisch auf das Geschlecht einer Person schließen kann. Der geschlechtsbezogene Verzerrungseffekt (Gender Bias) hatte voll zugschlagen. Auch Charles Darwin war von ihm beeinflusst, wie man in seinem 1871 erschienen Werk Die Abstammung des Menschen nachlesen kann:
"Der hauptsächlichste Unterschied in den intellektuellen Kräften der beiden Geschlechter zeigt sich darin, dass der Mann zu einer größeren Höhe in Allem, was er nur immer anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildungskraft, oder bloß den Gebrauch der Sinne und der Hände erfordern." Darwins unvoreingenommene Einschätzung darüber, wozu Frauen in der Lage sind, darf bezweifelt werden. Damit war er in der durch Männer geprägten Wissenschaftswelt des 19. Jahrhunderts nicht allein.

Schöler nennt zahlreiche Beispiele von Frauen, die um die Anerkennung ihrer Leistung gebracht wurden. Sie beschränkt sich dabei auf die letzten 200 Jahre in Europa, um eine Einordnung in den historischen Kontext zu ermöglichen. Es geht dabei um bekannte und unbekannte sowie um Frauen, die eine bedeutsame Entwicklung angestoßen haben, die Geschichtsschreibung es aber nicht wichtig fand, ihre Namen festzuhalten. Ob es dabei um Rosalind Franklin (sie wurde um den Nobelpreis gebracht), Elisabeth Hauptmann (sie war zu 80 Prozent am Entstehen von Brechts Dreigroschenoper beteiligt) oder die etwa 6.000 Frauen geht, die am 5. Oktober 1789 am Marsch auf Versailles teilnahmen und von König Ludwig XVI. die Unterzeichnung der Menschenrechtserklärung und die Abschaffung der Privilegien des Adels erzwangen: Ihre Namen wurden ignoriert, ihr Engagement brachte ihnen keine Vorteile.

Männer, die Frauen durch Ausbeutung oder Diebstahl um die ihnen zustehende Anerkennung gebracht haben, fanden oft nichts dabei, mit ihrem Handeln zu prahlen. Ihr Verhalten hatte für sie in der Regel keine negativen Folgen. 
Diesem Buch ist deutlich anzumerken, dass Leonie Schöler Historikerin ist. Sie hat sehr genau recherchiert und ihrem Text sehr viele Quellennachweise, Literaturempfehlungen und ein umfangreiches Personenregister beigefügt.

Lesen?

Das Besondere an Beklaute Frauen ist nicht nur, dass Leonie Schöler über das Schicksal von Frauen schreibt, deren Leistungen durch männliche Einflussnahme unter den Tisch fielen. Sie erklärt darüber hinaus, in welchem historischen Zusammenhang die Unterschlagungen, Betrügereien, Diebstähle und Zurückweisungen stattgefunden haben. Sie nennt die Namen von Männern, die nur vorgaben, mit Frauen auf Augenhöhe leben und/oder arbeiten zu wollen, deren Fähigkeiten jedoch nur für ihren eigenen Erfolg missbrauchten: Darunter sind nicht nur die schon genannten Bert Brecht und Pablo Picasso, sondern auch Karl Marx, Walter Gropius oder Albert Einstein.  Schöler zieht in ihrem Schlusswort ein für Frauen bedrückendes Fazit: "Jede beklaute Frau ist kein Einzelfall, sondern Teil eines Systems, das uns alle betrifft und bis heute wirkt."

Wer nach dem Lesen dieses Buches immer noch glaubt, dass der Feminismus überflüssig geworden ist, dem ist nicht mehr zu helfen.

Beklaute Frauen mit dem Untertitel Denkerinnen, Forscherinnen, Pionierinnen: Die unsichtbaren Heldinnen der Geschichte ist 2024 im Penguin Verlag erschienen und kostet 22 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.