Dienstag, 31. Januar 2023

# 379 - Vier Generationen auf der Flucht - eine wahre Familiengeschichte

Inge Ruth Marcus' Familiengeschichte ist
außergewöhnlich. So außergewöhnlich, dass sie von der Autorin mit ihrem biografischen Roman Glut im Eis erzählt werden musste. Einen ersten Hinweis darauf gibt schon ihr Geburtsort: Hsinking in Mandschukuo. 1941 kam sie dort zur Welt, in einem nur dreizehn Jahre existierenden Marionettenstaat, von dem ich bis dato noch nie gehört hatte.

Hsinking heißt heute Changchun und ist eine Provinzhauptstadt im Nordosten Chinas mit mehr als 3,4 Millionen Einwohnern. Marcus deutet es im Untertitel ihres Romans an: "Vier Generationen zwischen fünf Diktatoren". Sie selbst gehört zur vierten Generation, erwähnt sich jedoch ohne Namensnennung nur kurz. Im Mittelpunkt ihres Buches steht ihr Großvater, dem sie das Pseudonym Josef Naumann gegeben hat. Josef wird 1877 in Hamburg geboren, wächst in bürgerlichen Verhältnissen auf und arbeitet für eine Hamburger Handelsfirma. Schon früh spürt er den Wunsch, mehr von der Welt zu sehen. Es ist die Zeit, in der die neuartigen Dampfschiffe den Fortschritt symbolisieren und der Arzt Bernhard Nocht für sein besonnenes Verhalten während der Cholera-Epidemie verehrt wird.

Dann ergibt sich für Josef unerwartet die Gelegenheit, weit weg von zu Hause zu arbeiten: Sein Arbeitgeber sucht für ein deutsches Handelsunternehmen in Wladiwostok, mit dem er als Geschäftspartner in Verbindung steht, jemanden mit bestimmten Sprachkenntnissen und Verwaltungserfahrung. Ohne lange zu überlegen nimmt Josef die Herausforderung an und macht sich auf die Reise in eine ihm fremde Welt, fast 8.000 Kilometer Luftlinie von zu Hause entfernt. Erst nach sechs Jahren würde ihm ein halbes Jahr Urlaub zustehen.

Sollte Josef bis dahin geglaubt haben, mit dem Besteigen des Schiffes sein größtes Abenteuer vor sich zu haben, würde er einige Jahre später eines Besseren belehrt werden. Das, was das Leben für ihn bereithalten würde, sollte eine Abfolge von extremen Situationen sein, die ihn mehrmals dem Tod nahebringen. Josef erlebt die Zarenzeit unter Nikolaus II., dem letzten Kaiser Russlands, und Jahre der Verbannung in Sibirien. Dort findet er zwar sein privates Glück mit einer Burjatin, mit der er zwei Kinder haben wird, ist aber wieder von Verfolgung bedroht. Die Rote Armee kämpft gegen die aus Freiwilligen bestehende Weiße Armee und hinterlässt dort, wo sie auftaucht, eine Spur der Verwüstung. Die Situation wird für Josef als Deutschen brenzlig, aber unter abenteuerlichen Umständen und mit der Hilfe der Familie seiner Frau gelingt die Flucht nach Wladiwostok. Dort bekommt Josef wieder Arbeit. Kommen die Vier hier nun zur Ruhe? 

Lesen?

Glut im Eis ist ein anspruchsvoller Roman, für den man sich Zeit nehmen sollte. Inge Ruth Marcus spannt auf fast 650 Seiten einen weiten Bogen der europäischen und asiatischen Geschichte zwischen 1897 und 1945 und zeigt, wie sehr Menschen zu einem Spielball der politischen Verhältnisse werden können. Ihr Großvater war zweifellos ein kluger Mann, der gern "trickste", wie es seine burjatische Frau gern nannte. Das, was er und später auch seine Familie erleben musste, war nur mit Mut, Zähigkeit und einem unbedingten Überlebenswillen auszuhalten. Ganz sicher kam Josef auch zugute, dass er das, was man heute als "Netzwerken" bezeichnet, sehr gut beherrschte. So gab es oft ihm wohlgesonnene Menschen, die ihm hilfreich verdeckt oder offen zur Seite standen und ihm den Hals retteten.

Inge Ruth Marcus hat im Anhang ein 20-seitiges Sachregister erstellt, das sehr dabei hilft, die geschilderten Zusammenhänge ihres Romans zu verstehen. Dennoch habe ich mehrmals zusätzlich das ein oder andere nachgeschlagen, weil mich die geschichtlichen Hintergründe interessiert haben. 
Auch die nach Zeiträumen aufgeteilte Auflistung der handelnden Personen habe ich häufig genutzt. Ohne sie kann man bei der Vielzahl der Menschen, die für die Handlung eine Rolle spielen, schnell ins Schleudern kommen.

Das einzig Irritierende war für mich Marcus' Umgang mit der wörtlichen Rede. Das Gesagte wird nie in Anführungszeichen gesetzt, sondern mit dem Namen des Sprechers oder der Sprecherin angekündigt und am Beginn mit einem Spiegelstrich markiert. Daran habe ich mich bis  zum Schluss nicht gewöhnen können.

Glut im Eis ist 2022 im Anthea Verlag Berlin erschienen und kostet als Paperback-Ausgabe 22,90 Euro.

Freitag, 20. Januar 2023

# 378 - Das Leben einer Kriegsreporterin in einem Roman

In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. hat die Schriftstellerin und Kriegsreporterin Gabriele Riedle ihr Buch genannt. Und damit keine Missverständnisse aufkommen, über das, was die Leserinnen und Leser erwarten können, lautet der Untertitel: Eine Art Abenteuerroman.

Diese sehr vage Bezeichnung trifft es genau: Dieses Buch ist kein Roman im üblichen Sinne, weil es sich bei seinem Inhalt kaum um Fiktion handelt. Gabriele Riedle hat ihre namenlose Ich-Erzählerin in die Rolle einer Kriegsreporterin schlüpfen lassen und lässt diese schildern, was ihr Berufsleben prägt.

Der rote Faden ist der Tod ihres britischen Kollegen Tim Hetherington, der 2011 im libyschen Misrata von einer Granate getötet wurde. Die Trauer um ihn ist deutlich zu spüren, Riedle hatte mit ihm für eine "Geo"-Reportage in Liberia zusammengearbeitet. Von Hetheringtons Tod hat die Erzählerin an einem sonnigen Apriltag 2011 im Radio erfahren, die nächste Meldung war die über das Wetter. Zu ihm kehren die Ausführungen immer wieder zurück.

Gabriele Riedle hat einen sehr besonderen Erzählstil gewählt. Die Gedanken mäandern oft von einem Thema zum nächsten, oft passen auf eine Buchseite nur zwei Sätze. Sie beschreibt das Leben von Kriegsberichterstattern und -fotografen auf eine Weise, auf die vor allem ein Attribut passt: atemlos.

Da ist der Chefredakteur eines Nachrichtenmagazins, der die Reporter in ein Krisengebiet schickt und sich von ihnen wünscht, sie mögen an die Leser denken. Was er damit meint? Unklar. Manchmal ist das auch egal, weil der Chefredakteurssessel bedenklich wackelt, wenn die Auflage sinkt. Und dann "rief auch der Neue uns hinterher, wir sollten einfach immer nur sagen, was ist, und natürlich sollten wir dabei an die Leser denken."

In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. ist ein Blick hinter die Reportagen. Wir erahnen, was sich in Redaktionen abspielt, und erfahren, wie es ist, ständig unter Lebensgefahr von dem zu berichten, was die Auftraggeber in Hamburg, Manhattan oder sonstwo erwarten. Wir erfahren auch, dass die Welt der Kriegsberichterstattung von Männern dominiert wird, dass es hier Besonnene und Wichtigtuer gibt und Janusköpfigkeit sowohl in den fernen Krisengebieten Afghanistans oder Liberias als auch in den westlichen Chefredaktionen existiert.

Lesen?

In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. ist ein sehr schnelles und teilweise hektisches Buch. Bei all dem, was inhaltlich vermittelt wird, wird jedoch deutlich, dass Gabriele Riedle offenbar nichts mehr erschüttern kann. Sie schreibt beispielsweise mit Ironie über die Chefredaktionen, mit Belustigung über die Taliban, die sich in ihren eigenen strengen Vorschriften verheddern, doch auf alles fällt eine gute Portion Zynismus. Die größten Schwierigkeiten hatte ich jedoch mit ihrem Schreibstil, mit dem ich am besten durch oberflächliches, schnelles Lesen umgehen konnte. Als ich das Buch zur Seite gelegt habe, zeigte mir der E-Book-Reader an, dass ich 80 Prozent geschafft hatte. Auf das letzte Fünftel habe ich verzichtet.

In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. ist 2022 in der Buchreihe "Die andere Bibliothek" im Aufbau Verlag erschienen und kostet 24 Euro, als E-Book 16,99 Euro. Es stand auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022.

Freitag, 13. Januar 2023

# 377 - In 80 Büchern um die Welt?

Vermutlich soll der Buchtitel In 80 Büchern um die Welt auf Jule Vernes Werk In 80 Tagen um die Welt anspielen. Doch während Phileas Fogg sein Ziel, einmal um die Welt zu reisen, tatsächlich haarscharf nach 80 Tagen erreichte, verfehlt dieses Buch das gesetzte Ziel knapp: In 78 kurzen zwei- bis sechsseitigen Texten stellen 55 literarische Fachfrauen und -männer Bücher der Weltliteratur vor, die sich mit dem Reisen über kurze oder sehr lange Distanzen beschäftigen.

Es geht allerdings nicht nur um Reisen, die zum Spaß gemacht werden. Das vom britischen Literaturprofessor John Sutherland herausgegebene Buch greift auch Werke auf, in denen es um Migration, Flucht und höchste Not geht. In 80 Büchern um die Welt ist in vier Abschnitte aufgeteilt, die die Beiträge chronologisch sortieren. Es beginnt mit der Vorstellung von Homers Odyssee (725-675 v. Chr.), setzt sich fort mit Laura in der Prärie von Laura Ingalls Wilder (1935) oder John Steinbecks Früchte des Zorns (1939), beschreibt Lolita von Vladimir Nabokov (1955) und endet im letzten Kapitel mit Lincoln Highway von Amor Towles (2021).

Warum gerade diese 55 Titel ausgewählt wurden, bleibt etwas im Dunklen. Zwar erläutert der Lektor John McMurtrie in der Einleitung, welche "drei Kriterien maßgeblich" gewesen seien - "Erstens muss es sich um ein literarisches Werk handeln [...]; zweitens sollte jedes Buch eine Reise enthalten, die zu realen und nicht imaginären Orten führt [...]" -, das dritte Kriterium bleibt er jedoch schuldig. 
Trotzdem ist die Auswahl eine gute Mischung aus Bekanntem und (fast) Unbekanntem, sodass die kurzen Texte zum Lesen der vollständigen Romane einladen.

Ein Highlight sind die zahlreichen Illustrationen: Fotos, historische Karten oder Zeichnungen geben einen guten Eindruck davon, in welchem zeitlichen Kontext die jeweiligen Bücher erschienen sind.

Lesen?

In 80 Büchern um die Welt ist ein sehr gutes Buch zum Schmökern: Es erinnert an Romane, die man vor vielen Jahren gelesen und nur noch undeutlich in Erinnerung hat und gibt Hinweise auf Titel, die man sich noch vornehmen kann. Die Illustrationen runden den positiven Bucheindruck ab.
Sehr schade ist allerdings, dass Autorinnen deutlich unterrepräsentiert sind. Unter den sechs "Tipps zum Weiterlesen" finden sich dann leider nur noch Autoren.

Hinweis: Diese Ausgabe hat keine Ähnlichkeit mit dem gleichnamigen Buch, das 2011 im Thiele & Brandstätter Verlag veröffentlicht wurde und nur noch antiquarisch erhältlich ist.

In 80 Büchern um die Welt ist 2022 im Hirzel Verlag erschienen und kostet 29 Euro.