Sonntag, 26. März 2023

# 386 - Sörensen ermittelt weiter

Sörensen am Ende der Welt ist der dritte Teil der
bislang vierbändigen Krimireihe von Sven Stricker, in der der gleichnamige Kriminalhauptkommissar aus Hamburg sein Leben im abgelegenen nordfriesischen Katenbüll wieder auf die Reihe bekommen will. Was keiner wissen soll: Er wurde im Gegensatz zu seinen Vorgängern nicht dorthin strafversetzt, sondern hat selbst um die Versetzung gebeten. Sörensen erhofft sich ein ruhiges Leben, um seine Angststörung zu überwinden.

Was schon in den ersten beiden Bänden nicht gelang, findet in diesem Buch seine Fortsetzung. Seitdem Sörensen in Katenbüll angekommen ist, häufen sich die Mordfälle. An beschauliche Ruhe ist da nicht zu denken. Diesmal findet der örtliche Tankstellenpächter auf seiner Hunderunde einen Toten im Koog, in dessen Brust ein Schraubenzieher steckt. Die Aufzeichnungen der Videokameras in der Tankstelle zeigen, dass der Angestellte Ole vermutlich der Letzte war, der das Mordopfer lebend gesehen hat. Aber ist der junge Mann, der demnächst Vater wird, auch der Täter?

Im Gegensatz zu den Ermittlungen in der Großstadt setzen die Beamten der kleinen Katenbütteler Polizeistation nicht nur Indizien zusammen, sondern fügen ihrer Arbeit eine wichtige Zutat hinzu: ihr Bauchgefühl. Auf dem platten Land kennt man sich, und Sörensen und seine Kollegin Jennifer Holstenbeck sind sich einig: Der Ole war das nicht. Die Nachforschungen ergeben, dass der Tote sich gemeinsam mit seiner Frau und seinem Bruder auf das Ende der Weltordnung vorbereitet hatte. Dessen Wohnhaus ist eine Mischung aus Hochsicherheitsgebäude und Warenlager. Zu allem Überfluss heftet sich ein freier Journalist an Sörensens Fersen, der eine Story wittert, die er teuer an Deutschlands größte Zeitungen verkaufen kann. 

Lesen?

Sven Stricker ist ein Krimi gelungen, der seine Leserinnen und Leser auf mehreren Ebenen packt. Der Mordfall - der nicht der einzige bleiben wird - ist spannend und hat eine überraschende Auflösung. Sörensens psychische Probleme werden sensibel und glaubhaft beschrieben, und Stricker legt dem Polizisten norddeutsch gefärbte Sätze in den Mund, die ihn noch authentischer wirken lassen. 

Sörensen erinnert manchmal an die Figur des Kriminalinspektors Columbo: Beide stellen häufig Fragen, deren Sinn sich erst später erschließt, und vermitteln ihrem Gegenüber den Eindruck, für dumm verkauft werden zu können. Das stellt sich immer dann als Irrtum heraus, wenn alle Erkenntnisse zu einem Gesamtbild zusammengefügt werden.
Sörensen ist zwar Single, aber auch ein Familienmensch - wenn ihm nicht ständig die Angststörung im Weg stehen würde. Seine Lebensgefährtin hat sich von ihm getrennt, die gemeinsame Tochter lebt bei ihr in Hamburg. Sörensen vermisst sie jeden Tag. Und dann ist da noch Sörensens Vater, zu dem der Polizist bislang kaum Kontakt hatte. Der Senior hat seinem Sohn etwas zu sagen, das sich auf ihr Verhältnis auswirken wird. Unbedingte Leseempfehlung!

Sörensen am Ende der Welt ist 2021 im Rowohlt Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 11 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro.

Tipp: In der ARD Audiothek können die ersten drei Sörensen-Krimis als Hörspiel aufgerufen werden. In der Hauptrolle spricht Bjarne Mädel, der auch in der Verfilmung des ersten Sörensen-Krimis Sörensen hat Angst den Part des Kriminalhauptkommissars übernommen hat.

Freitag, 17. März 2023

# 385 - Flucht, Rassismus, Nationalsozialismus und Liebe - und die Frage nach der Vererbung von Erinnerungen

Mit Stay away from Gretchen ist Susanne Abel ein Roman gelungen, an dem man nur den Titel kritisieren kann. Der hätte mich fast davon abgehalten, das Buch zu lesen, weil ich dahinter "Kitsch" vermutet hatte.

Greta Schönaich - eben jenes Gretchen - wächst in Ostpreußen auf. Als Achtjährige erlebt sie den Kriegsbeginn sowie die Euphorie und die Siegesgewissheit, die die meisten Erwachsenen um sie herum haben. Mit ihrer Schwester teilt sie die Verehrung für Adolf Hitler, den die beiden Mädchen wie einen Popstar anhimmeln. Nur ihr Opa, der als Soldat im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren hat, kann der Situation nichts Gutes abgewinnen. 

Gretas Vater Otto, ein glühender Nazi, wird 1940 eingezogen; der Rest der Familie, der außer dem Mädchen noch aus den Großeltern, der Mutter und der älteren Schwester Fine besteht, flieht im Januar 1945 nach Westen. Auf der Flucht wird die Familie auseinandergerissen und trifft sich erst im Mai 1946 bei Verwandten in Heidelberg wieder. Der Vater findet seine Familie nach langer Gefangenschaft in Russland erst 1952 wieder. 

Die Stadt wird ihre neue Heimat. Gretas Lebensweg nimmt eine drastische Wendung, als sie in Heidelberg einen dort stationierten amerikanischen Soldaten kennenlernt, in den sie sich verliebt. Dass er nach der nationalsozialistischen Rassenlehre ein Untermensch ist, ist ihr gleichgültig. Die Folgen dieser Liebe sollen ihr ganzes weiteres Leben beeinflussen.

2015 - im Hier und Jetzt

Susanne Abel belässt es nicht dabei, die Geschichte der Schönaichs zu erzählen, sondern springt immer wieder rund siebzig Jahre in die Zukunft. Hier steht zunächst der prominente Kölner TV-Nachrichtenmoderator Thomas "Tom" Monderath im Mittelpunkt. Er ist Single, hat immer mal wieder One-Night-Stands und lebt ansonsten im Takt der Nachrichtenlage. Seine 84-jährige Mutter Greta ist verwitwet und lebt allein in der Wohnung, in der Tom aufgewachsen ist. Die Seniorin sieht ihren Sohn vor allem dann, wenn sie abends den Fernseher anschaltet. Der Kontakt zu ihm ist ziemlich spärlich. 

Das ändert sich schlagartig, als die alte Dame seltsame Dinge tut. Tom schiebt den Gedanken, dass sich da möglicherweise Probleme auftun könnten, die sein egozentrisches Leben aus dem Lot bringen, zur Seite. Aber die Diagnose des Arztes ist eindeutig: Seine Mutter leidet an Alzheimer. Je mehr sie sich geistig aus der Gegenwart entfernt, umso stärker rückt die Vergangenheit in den Vordergrund. Als Tom in ihrer Wohnung ein Foto findet, auf dem ein afroamerikanischer Soldat abgebildet ist, bemerkt er die Reaktion seiner Mutter: Sie wird so emotional, wie er sie nie kennengelernt hat und behauptet, dieser Mann sei sein Vater. Tom beginnt mithilfe einer Kollegin, Nachforschungen anzustellen und lernt seine Mutter von einer ganz neuen Seite kennen.

Lesen?

Stay away from Gretchen erzählt eine von tragischen und traumatischen Erlebnissen geprägte Lebensgeschichte. Susanne Abel beschreibt die Folgen des nationalsozialistischen Rassenwahns und die gesellschaftliche Ausgrenzung der deutschen Frauen, die von afroamerikanischen US-Soldaten schwanger wurden. Ihre Kinder wurden als minderwertig angesehen, vielen Müttern wurden sie zwangsweise weggenommen, um dann zur Adoption freigegeben zu werden.

Doch auch innerhalb der US-Armee wurde die Rassentrennung vollzogen. Afroamerikanische GIs bekamen den Rassenhass zu spüren und wurden oft wie Fußabtreter behandelt. 

Das Thema Flucht und Vertreibung wird in Abels Roman immer wieder angesprochen, wenn beispielsweise Bezüge zu der Fluchtbewegung im Jahr 2015, als zwei Millionen Menschen auf dem Land- und Seeweg in die EU flohen, hergestellt werden. Weder damals noch heute waren geflüchtete Menschen in den Orten, in denen sie Zuflucht suchten, willkommen.

Das Buch greift zudem Erkenntnisse im Zusammenhang mit Demenzerkrankungen auf. Mit fortschreitender Demenz vergessen die Menschen, worüber sie ihr Leben lang schweigen wollten. Es ist häufig so, als würde sich eine Tür öffnen, hinter der die Vergangenheit jahrzehntelang fest verschlossen gewesen war. Abel arbeitet auch Forschungsergebnisse in ihre Handlung ein, wonach Erfahrungen und Erlebnisse, die in einer Generation gemacht wurden, durch eine Art "genetisches Gedächtnis" an die nachfolgenden Generationen weitergegeben werden.

Fazit: Lesen? Ja!

Stay away from Gretchen ist 2021 bei der dtv Verlagsgesellschaft erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 20 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro.

Freitag, 10. März 2023

# 384 - Ein "Nachschlag" zum Weltfrauentag

Nach dem Weltfrauentag ist vor dem Weltfrauentag. Ich will nicht falsch verstanden werden: Um die Gleichberechtigung von Frauen zu erreichen, ist noch reichlich Luft nach oben. Der Gender Pay Gap oder die viel zu hohe Zahl der Femizide sind nur zwei Beispiele dafür, dass immer noch, nach mehr als 100 Jahren Frauenbewegung, jede Menge zu tun ist, um eine tatsächliche Gleichstellung zu erreichen. Spätestens, wenn ich dann alle Jahre wieder am 8. März sogar von konservativen Politikern "Alles Gute zum Internationalen Frauentag" lese, weiß ich, dass das nichts für mich ist. Wer Frauen 364 Tage im Jahr geringschätzig behandelt, kann sich das Gesülze am Frauentag sparen.

Deshalb habe ich beschlossen, mich weder in meiner Bücherkiste noch auf meinem zweiten Blog an diesem Tag zu äußern. In den letzten Jahren habe ich das getan und gemerkt, dass das meinem Blutdruck nicht gutgetan hat. Also Schluss damit.

Ich bleibe aber selbstverständlich am Thema dran, was sich auch immer wieder bei der Buchauswahl für die Bücherkiste niederschlägt. Vor Kurzem bin ich auf zwei sehr interessante Titel gestoßen, die ich Euch nun gern vorstellen möchte.

Virginia Woolf: Ein eigenes Zimmer / Ein Zimmer für sich allein

Virginia Woolf hat das Essay bereits 1929 unter dem
Titel A Room Of One's Own veröffentlicht. Es geht auf zwei Vorträge zurück, die Woolf ein Jahr zuvor vor Studentinnen der Cambridge University gehalten hat. Die jungen Frauen studierten an zwei Colleges, die eigens als männerfreie Lernorte gegründet worden waren. Das Thema der Vorträge: "Frauen und Literatur". Die Schriftstellerin rang mit sich, was darunter zu verstehen sei: Literatur über Frauen? Literatur von Frauen? Oder etwas ganz anderes? Sie entschied sich, über die zwei grundlegenden Voraussetzungen zu sprechen, die Menschen zum Schreiben brauchen: genug Geld und einen eigenen Platz zum Arbeiten.

Virginia Woolf bedient sich in ihrem Essay eines literarischen Tricks: Anstelle von sich selbst und ihrer eigenen Wahrnehmung zu sprechen, wenn es um die alltägliche Ungleichbehandlung von Frauen gegenüber Männern geht, lässt sie die fiktive Figur "Mary" für sich sprechen. Mary erlebt, was Woolf anprangert: Frauen dürfen nur in Begleitung eines Mannes die Universitätsbibliothek betreten, und ein örtliches Frauencollege muss um seine Existenz bangen, wenn nicht bald genügend Spenden eingesammelt werden können. Marys Fazit: Während männliche Bildung mit viel Aufwand gefördert wird, müssen Frauen um ihre soziale Stellung und ihr finanzielles Überleben kämpfen.

Die junge Frau will herausfinden, was der Grund für die ungleiche Behandlung von Frauen und Männern ist. Die Nationalbibliothek des Vereinigten Königreichs, die British Library in London, erscheint Mary als die richtige Anlaufstelle für ihr Anliegen. Doch sie wird enttäuscht: Alle Schriften, die sich mit Frauen beschäftigen, wurden von Männern geschrieben. Frauen waren Objekte, die man beobachtete und analysierte, sie nahmen jedoch nicht selbst die Rolle der Forschenden ein.

53 Jahre nach Virginia Woolfs Tod erschien in einer großen deutschen Wochenzeitung ein Essay über die Schriftstellerin. Es beginnt mit diesen Worten: "Sie war eine frigide Frau - und hatte ein Verhältnis mit ihrem Schwager, mit ihrem homosexuellen Kollegen Lytton Strachey und ihrer lesbischen Kollegin Sackville-West, als sie schon glücklich verheiratet war." Mehr muss man nicht wissen, um einen Eindruck davon zu haben, wie der damals bekannte Literaturkritiker Raddatz auf das Leben einer sehr viel bekannteren Schriftstellerin schaute und dass eine solche Einleitung unwidersprochen abgedruckt wurde.

Das Essay wird unter beiden oben genannten Titeln von unterschiedlichen Verlagen vertrieben. Da das gesamte Werk von Virginia Woolf seit dem 1. Januar 2012 gemeinfrei ist, reißt die Serie der deutschen "Neuübersetzungen" nicht ab.

Mary Beard: Frauen & Macht

Knapp 90 Jahre nach Virginia Woolfs Essay ist dieses
Buch der britischen Altphilologin und Cambridge-Professorin Mary Beard erschienen: Frauen & Macht. Beard beschäftigt sich darin mit der Frage, warum Frauen immer noch um Gleichberechtigung und Respekt ringen müssen und wie sie (von Männern) zum Schweigen gebracht werden.

Mary Beard geht weit in der Zeit zurück. Sie erläutert, dass die Rollenzuschreibungen ("Frauen können nicht...", "Frauen sind nur geschaffen für..." etc.) ihre Wurzeln in den großen Schriften der römischen und griechischen Antike haben. Insbesondere im antiken griechischen Theater kommen Frauen nicht gut weg, sobald sie in irgendeiner Form mit Macht in Berührung kommen: Entweder sie handeln, wie es ein Mann tun würde, oder sie missbrauchen ihren Einfluss. Die Verbindung von Macht und Frauen gilt als unnatürlich und nicht angebracht. Und immer geht es um das Recht zu sprechen, das Frauen schon damals oft verwehrt wurde.

Es sind die antiken Werke, die viele schon aus der Schule kennen, die Frauen per se einen niedrigeren Status als Männern zuweisen. Beard führt beispielhaft die Odyssee von Homer oder die Metamorphosen von Ovid an. Auch der Satz "Orator est vir bonus dicendi peritus" - "Ein Redner ist ein tüchtiger, im Reden erfahrener Mann" - lässt keinen Zweifel daran aufkommen, wie sinnvoll man es in der damaligen Gesellschaft fand, wenn Frauen ihre Stimme erhoben. 

Aber jetzt sind wir im 21. Jahrhundert und alles ist viel besser - oder? Nein, wie Beard anhand von Beispielen nachweist. Ob es sich um den Versuch, eine US-Senatorin 2017 während einer Sitzung mundtot zu machen oder die bis heute geltenden Protokolle und Regeln des britischen Unterhauses aus dem 19. Jahrhundert handelt: Frauen wird immer noch zu oft das Recht verwehrt, sich zu äußern. Mary Beard belässt es nicht bei der Beschreibung dieses Missstands, sondern sie schlägt vor, wie diesem heute begegnet werden kann.

Frauen & Macht ist 2018 im S. Fischer Verlag erschienen und kostet in der gebundenen Ausgabe 13 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro.

Lesen?

Keine Frage, beide Bücher sind absolut lesenswert, und zwar nicht nur für Frauen. Es ist völlig inakzeptabel, dass sich immer noch Männer in der Öffentlichkeit herabsetzend über Frauen äußern, ihnen de facto den Mund verbieten und das praktisch nicht kommentiert wird.
Heute fast vergessen sind die Ansichten des "Literaturpapstes" Reich-Ranicki. Als 1977 der erste Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt stattfand, kommentierte er den Vortrag der Schriftstellerin Karin Struck so: "
„Wen interessiert, was eine Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert? Das ist keine Literatur – das ist ein Verbrechen.“ Noch im Jahr 2000 behauptete er zum wiederholten Mal, Frauen könnten keine Romane schreiben. Ihre Domäne sei die Lyrik und sie müssten mit dem Schreiben aufhören, sobald sie Kinder bekämen. Warum? "Fragen Sie einen Gynäkologen!" Sein 2002 erschienener 20-bändiger Literaturkanon enthält folgerichtig kein einziges Werk einer Frau.

Zum Schluss noch ein bisschen Statistik, die belegt, dass es Frauen in der Welt der Literatur nach wie vor schwer haben: Zwei Drittel der veröffentlichten Bücher stammen von Männern; Buchrezensionen in der Presse oder im Radio werden überwiegend von Männern und ebenfalls überwiegend über Titel von Autoren erstellt. Das habe ich übrigens im Buch Frauen Literatur - abgewertet, vergessen, wiederentdeckt von Nicole Seifert gelesen.



Freitag, 3. März 2023

# 383 - Ein Roman, der ein Jahrhundert ukrainischer Geschichte erzählt

Lisa Weeda wurde in den Niederlanden geboren und
hatte sich lange nicht mit der Geschichte ihrer Familie beschäftigt. Sie wusste, dass ihre Großmutter Aleksandra aus der Ukraine stammte, im Zweiten Weltkrieg 1942 als Zwangsarbeiterin nach Deutschland kam, später in den Niederlanden geheiratet hatte und dort geblieben war. Erst vor einigen Jahren begann sich die Autorin für ihre Familiengeschichte bis zurück zu ihrem Urgroßvater zu interessieren - eine Geschichte, die sich in der Ostukraine, Russland, Deutschland und den Niederlanden abspielte. Sie erfuhr, dass sie von Donkosaken abstammte, die sich bereits im 15. Jahrhundert zusammenschlossen.

In ihrem Debütroman Aleksandra lässt Weeda mit einer Mischung aus Fiktion und realen Begebenheiten ihre Ich-Erzählerin Lisa im Jahr 2018 nach Lugansk reisen. Ihre Großmutter Aleksandra hatte sie beauftragt, das Grab ihres Neffen Kolja zu suchen, der drei Jahre zuvor verschwunden war. Die Erzählerin hat etwas Besonderes im Gepäck: ein Sticktuch, auf dem mit schwarzem und rotem Faden die Lebenslinien der einzelnen Familienmitglieder nachempfunden waren. Die roten Linien stehen für das Leben, die schwarzen für den Tod. Dieses Tuch soll auf Koljas Grab gelegt werden, da Aleksandra fühlt, dass dieser sonst keine Ruhe findet.

Am Grenzübergang von der Ukraine zur sog. Volksrepublik Lugansk, die 2014 völkerrechtswidrig von Russland annektiert wurde, scheitert Lisa am Wachsoldaten, der sie partout nicht passieren lassen will. In einem günstigen Moment rennt sie in ein Getreidefeld, um ihr Ziel zu erreichen und den Wunsch der Großmutter zu erfüllen. Als sie stolpert, fällt sie auf die Stufen eines plötzlich auftauchenden Palasts mit gigantischen Ausmaßen und trifft dort auf ihren schon lange verstorbenen Urgroßvater Nikolaj, der sie durch die zahllosen hohen Räume des Gebäudes führt. 

Dieser "Palast der verlorenen Donkosaken" erinnert an Josef Stalins hochfliegende Pläne aus den 1930-er Jahren, in Moskau einen "Palast der Sowjets" zu bauen, der mit einer Höhe von 415 Metern alle Gebäude auf der Welt überragen und von der Großartigkeit der Sowjetunion überzeugen sollte. 

Nikolaj zeigt seiner Urenkelin etliche Palasträume und leitet sie auf diese Weise durch die kollektiven Erinnerungen der Familie sowie die Historie der Ukraine und Russlands. Die Zeit unter Stalin, als Nikolaj und seine Frau Anna wie viele andere Bauern ihre Ernte hergeben mussten und später sogar enteignet wurden, die Qualen des Holodomors Anfang der 1930-er Jahre oder der Einmarsch der Nationalsozialisten in die Ukraine waren nur einige der prägenden Ereignisse, die die Familie vor schwere Prüfungen stellte und auseinander riss.
Diese so verpackten Begebenheiten verknüpft Lisa Weeda mit den Erzählungen ihrer Großmutter und dem, was im Zusammenhang mit der Annexion der Volksrepublik Lugansk, in deren Wirren Kolja verschwand, passierte.

Lesen?

Aleksandra ist ein vielschichtiger Roman, der seine Leser und Leserinnen auf fast jeder Seite mit historischen Informationen versorgt. Lisa Weeda hat eindrucksvoll dargestellt, wie sehr Menschen durch politische Entscheidungen hin und her geworfen werden können wie Laub im Wind, ohne eine Chance zu haben, ihre Lage aktiv zu verbessern. 

Lisa Weede hat der Handlung erfreulicherweise einen Familienstammbaum vorangestellt, der sich über fünf Generationen erstreckt. Das ist sehr hilfreich, um sich zurechtzufinden, da einzelne Vornamen in mehreren Generationen vorkommen, was ziemlich verwirrend sein kann.

Der im Roman verwendete Leitspruch der Donkosaken spiegelt wider, wie die Ukrainer mit den Angriffen Russlands umgehen: "Wir sterben lieber frei als versklavt" macht deutlich, dass Aufgeben die letzte Option ist.

Lisa Weeda hat acht Jahre an ihrem Buch geschrieben. Aufgrund der Faktenfülle wäre mir sehr recht gewesen, wenn sie sich nicht auf rund 280 Seiten beschränkt, sondern der gesamten Darstellung mehr Raum gelassen hätte.

Aleksandra war 2022 in den Niederlanden ein großer Publikumserfolg und wurde mit De Bronzen Uil, dem Preis für das beste niederländisch-sprachige Debüt, ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des niederländischen Libris-Literaturpreises.

Der Roman erschien am 24. Februar 2023 zum ersten Jahrestag des russischen Angriffs auf die Ukraine im Kanon Verlag und kostet 25 Euro.