Freitag, 29. September 2023

# 411 - Eine verhängnisvolle Liebe

Muna oder Die Hälfte des Lebens von Terézia
Mora ist die Geschichte einer Frau, die in der DDR im fiktiven Ort Jüris aufgewachsen ist. Der Roman beginnt Ende 1988 mit Munas Vorsatz, ihrer Heimatstadt und der Mutter so bald wie möglich den Rücken zu kehren.
Muna Appelius steht kurz vor dem Abitur. Sie lebt mit ihrer alkoholkranken Mutter, einer Theaterschauspielerin, zusammen, der Vater ist vor zehn Jahren an Lungenkrebs verstorben. Die finanzielle Situation der beiden Frauen ist prekär, denn Munas Mutter hat den Höhepunkt ihrer Karriere schon vor längerer Zeit überschritten. Beziehungen hat Muna bislang in Verbindung mit Trennung und Schmerz wahrgenommen.

Im Herbst 1988, ein halbes Jahr vor dem Ende ihrer Schulzeit, beginnt Muna ein Praktikum bei einem Magazin der Tageszeitung Volksstimme. Dort lernt sie Magnus Otto kennen. Magnus ist hauptberuflich Gymnasiallehrer, im Nebenberuf Bildredakteur beim Magazin und deutlich älter als Muna. Er steuert dem Magazin von ihm selbst aufgenommene Fotos bei. Muna verliebt sich sofort in den introvertierten und geheimnisvoll wirkenden Mann und beginnt, ihm nachzuspionieren.

Im Juli 1989 verbringt Muna eine Nacht mit Magnus. Er fährt am nächsten Tag angeblich für eine Radtour nach Rumänien, aber in Wahrheit nutzt er die Situation in Ungarn, um sich in den Westen abzusetzen. Er bricht alle Brücken hinter sich ab, Muna sucht vergeblich nach ihm. Sie wird zum ersten Mal vor einer Beziehung mit Magnus gewarnt, versteht jedoch nicht den Grund dafür, denn sie sieht in Magnus "den schönsten Mann, den ich je im Leben sehen würde".

Muna beginnt in Berlin ein Literaturstudium. Weitere Stationen führen sie nach Wien und London. Sie hat Affären mit verschiedenen Männern, keine davon befriedigt sie. Ihr Leben finanziert sie mit schlecht bezahlten Jobs. Magnus ist immer in ihrem Hinterkopf, allerdings sucht sie nicht mehr nach ihm. Doch dann, sieben Jahre nach ihrem One-Night-Stand, treffen sie sich zufällig in Berlin bei einer Open-Air-Veranstaltung. Sie nehmen den abrupt gerissenen Faden ihrer Beziehung wieder auf. 

Ohne, dass sie es zunächst spürt, nimmt das Verhängnis für Muna seinen Lauf: Sie, die intelligente und sehr gut aussehende Frau, der viele Türen offen stehen würden, richtet ihr Leben an Magnus' Wünschen und Bedürfnissen aus. Sie vernachlässigt die Arbeit an ihrer Dissertation, folgt ihm bei jedem Ortswechsel und achtet penibel auf jeden Stimmungswechsel ihres Liebsten, um diesen nicht zu reizen. Wenn man sich bislang fragte, wie es dazu kommen kann, dass sich ein Mensch von einem anderen Menschen völlig abhängig macht und ihm psychisch und sexuell ergeben ist, bekommt man beim Lesen von Muna oder Die Hälfte des Lebens eine Ahnung von den Mechanismen, die dazu führen. Magnus manipuliert Muna auf eine Weise, die deren Selbstbewusstsein aushöhlt und sie an sich zweifeln lässt.

Muna sehnt sich danach, mit ihrem Traummann eine Familie zu gründen. Doch Magnus ist beim Thema Kinder klar: Er will weder jetzt noch irgendwann Vater werden. In das "irgendwann" legt Muna ihre Hoffnung, dass sie und Magnus nun ein Paar sind. Sie baut darauf, seine Meinung mit der Zeit zu ändern. Vor den Zeichen, die auf eine deutliche Schieflage in dieser Beziehung hindeuten, verschließt sie die Augen.

Man ahnt es: Nach der ersten wüsten Beschimpfung, die Magnus Muna wegen einer Kleinigkeit an den Kopf wirft, dauert es nicht mehr lange bis zur ersten Handgreiflichkeit. Es wird nicht die letzte bleiben.

Lesen?

Muna oder Das halbe Leben ist ein sehr bewegender und oft verstörender Roman, und man möchte der jungen Frau, die am Ende des Buches ihr halbes Leben hinter sich hat, immer wieder zurufen: "Verlass ihn! Renn, so schnell du kannst!"
Terézia Mora erzeugt jedoch Verständnis für Munas irrationales Verhalten, das dazu führt, dass sie ihre Beziehung zu Magnus auch dann noch verteidigt, als er immer gewalttätiger und rücksichtsloser wird. Doch es führt ein Weg aus dieser unheilvollen Beziehung hinaus, auch wenn er nur über Munas psychischen Zusammenbruch und ein unheilvolles Wiedersehen möglich ist.

Muna oder Das halbe Leben steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2023, und das völlig zu Recht. Terézia Mora hat den Deutschen Buchpreis bereits 2013 gewonnen und hat mehr als ein Dutzend weitere Preise erhalten.

Der Roman ist 2023 im Luchterhand Verlag erschienen und kostet gebunden 25 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro. Terézia Mora hat das Buch als den ersten Teil einer Trilogie angekündigt. Man darf also gespannt sein, wie es weitergeht.


Sonntag, 24. September 2023

# 410 - Eine urbane Liebesgeschichte in Kreuzberg

Quelle Cover: Kanon Verlag
Der Erfolg von Tim Staffels in Berlin spielendem Buch Südstern hat den Autor selbst möglicherweise am meisten überrascht. Seine ersten vier Romane hat Staffel zwischen 1998 und 2008 veröffentlicht und dafür mehrere Literaturpreise erhalten, danach folgten zahlreiche Theaterstücke und Hörspiele. In einer Lebensphase, in der er sich aus dem Kulturbetrieb zurückgezogen hatte, um herauszufinden, ob er auch dann noch schreiben kann, wenn er nicht davon leben muss, hat Staffel dieses Buch neben seinem Brotjob geschrieben - und es damit auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 geschafft.

Vanessa Paschke und Deniz Aziz sind die zentralen Figuren der Handlung. Sie ist 27, Pharmakologin, Barfrau und seit Kurzem Drogenkurierin - was sie scherzhaft als Apothekenservice bezeichnet. Vanessa ist mit Olli, einem Bundestagsabgeordneten und Gesundheitsexperten, der sich für saubere Drogen engagiert, liiert.
Deniz ist ähnlich alt, Streifenpolizist aus Überzeugung und mit der Pflege seines an Parkinson erkrankten Vaters angesichts von Doppelschichten und gefährlichen Einsätzen und trotz der regelmäßigen Hilfe durch eine ambulante Pflegerin heillos überfordert.

Die beiden begegnen sich zufällig vor dem Mehrfamilienhaus in Kreuzberg, in dem Deniz mit seinem Vater Markus wohnt. Vanessa hat Markus nach Hause begleitet, als der den Weg nicht mehr fand. Seit diesem ersten Zusammentreffen gehen Vanessa und Deniz einander nicht mehr aus dem Kopf. Staffel beschreibt, wie sie sich langsam aneinander herantasten und nicht wissen, wie weit sie gehen und wie viel sie über sich erzählen dürfen. Es dauert einige Zeit, bis das Vertrauen zwischen ihnen so weit gewachsen ist, dass es auf dem Niveau ihrer Gefühle füreinander angekommen ist.

Sowohl Vanessa als auch Deniz kommen aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Beide sind in Kreuzberg aufgewachsen, Deniz' Vater stammt aus der Gegend um den Südstern, einem im 19. Jahrhundert angelegten Platz, über den mehrere Kreuzberger Straßen verlaufen und unter dem sich eine gleichnamige U-Bahn-Station befindet. Markus passiert diesen Platz immer dann, wenn er das Grab seiner verstorbenen Frau Selda besuchen will. Es ist der einzige längere Weg, den er noch ohne Begleitung machen kann und für ihn ein bisschen ein Kurztrip in die eigene Vergangenheit.

Südstern greift das Leben vieler Menschen in Kreuzberg auf, die in Staffels Roman oft nur kurz und als Stellvertreter vieler Menschen auftreten, die ein ähnliches Schicksal haben. Da geht es um  Schutzgelderpressung in der Gastronomie ebenso wie um Probleme im Kleinbürgermilieu.
Vanessa sieht schnell, wo die wahren Nöte der Leute liegen und wird von manchen direkt um ihre diskrete
 "Hilfe" gebeten. Ärzte, Politiker und Sportler, die den Druck, der auf ihnen lastet, nicht mehr aushalten, sind ihre typischen Kunden. Aber sie ist auch da, wenn ihre empathische Unterstützung gebraucht wird: Sobald sie den Eindruck hat, dass ihr durch Bundeswehreinsätze traumatisierter Bruder Felix dem Tod näher als dem Leben ist, lässt sie alles stehen und liegen. Dessen Depression und Gewaltbereitschaft sind so stark, dass er für die Arbeit als Justizvollzugsbeamter im Gefängnis Tegel nicht mehr geeignet ist und schon mit 29 Jahren frühpensioniert wird. 

Deniz hat als Polizist zwar seinen Traumberuf gefunden, kämpft aber darum, als Beamter mit Migrationshintergrund ernst genommen zu werden. Er muss sich nicht nur gegen Pöbeleien, sondern auch massive tätliche Angriffe im Dienst wehren. Dass er ausgerechnet mit seiner Kollegin Jovanna auf Streife ist, die nicht nur eine Angststörung, sondern auch ein ausgewachsenes Rassismusproblem hat, macht sein Leben nicht leichter.

Trotz aller Unterschiede bewegen sich Vanessa und Deniz aufeinander zu. Vanessa realisiert jedoch lange nicht, in welchem Konflikt sich Deniz befindet: Er liebt Vanessa, kann aber als Polizist schlecht damit umgehen, dass sie dealt. Werden sie den Konflikt lösen können?

Lesen?

Südstern ist ein Buch mit einer sehr urbanen Atmosphäre. Tim Staffel hält seine Sätze so kurz wie möglich und verzichtet auf sprachliche Schnörkel. Die Perspektivwechsel von Vanessa zu Deniz und umgekehrt passieren oft von einem Satz zum nächsten, was manchmal nur aus dem Zusammenhang erkennbar wird. Das irritiert zunächst, man gewöhnt sich jedoch daran.

Die Frage "Kriegen sie sich?" wird genauso hochgehalten wie die Beschreibung des besonderen Umfelds, in dem sich die beiden Protagonisten bewegen. Das macht den Roman von der ersten bis zur letzten Seite interessant. Insbesondere Vanessa stellt sich immer die Frage, was ein Zuhause und was Heimat ist. In ihrer Kindheit hatte sie beides nicht, jetzt als Erwachsene scheint sie erneut heimatlos zu sein. Aber die Hoffnung auf einen Platz, wo sie hingehört, ist ihr geblieben.

Kritik habe ich an einigen Ungenauigkeiten, die vermeidbar gewesen wären. Da geht es um Felix' üppige Pension, die nach wenigen Dienstjahren im mittleren Dienst die Durchschnittspension aller Beamten übersteigt.
Es geht auch um Deniz' pflegebedürftigen Vater Markus, der bereits einen Pflegegrad hat, der im Roman aber nicht hoch genug ist, um den Einbau einer bodengleichen Dusche zu bezahlen - was schlicht falsch ist.
Und dann ist da noch die offenbar prekäre Situation mit der für Markus dringend nötigen Physiotherapie, für die der Arzt nur ein Rezept über zehn Behandlungen ausgestellt hat, was er nur einmal pro Quartal darf. Allerdings gehört Parkinson zu denjenigen Erkrankungen, für die eine Dauerverordnung möglich ist. 
Gegen diese Kritik ist die Szene, in der Vanessa und Deniz Ende April Pflaumen, Aprikosen und Kirschen aus Gärten klauen, eine Kleinigkeit. 

So hoffnungslos und dramatisch etliche Szenen in Tim Staffels Roman sind, so positiv ist es, dass sich für die Hauptpersonen etliches in ihrem Leben zum Guten wendet. Die Leserinnen und Leser erwartet ein Happy End, mit dem in dieser Form nicht zu rechnen war.

Südstern ist 2023 im Kanon Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 25 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.




Montag, 18. September 2023

# 409 - Eine Tour de Force durch das kriegseuphorische Wien

Hans Ranftler ist siebzehn Jahre alt, lebt und arbeitet
für einen Hungerlohn als Knecht auf einem Hof in einem tiroler Tal und trauert seiner Schulzeit in einem Gymnasium nach, die mit dem Unfalltod des Vaters vor sieben Jahren ein jähes Ende nahm. Von dem, was in der Welt oder sogar nur in Österreich passiert, hat er nur so viel mitbekommen, wie ihm sein mit "Herr" angesprochener Bauer erzählt hat.

Am frühen Morgen des 30. Juli 1914 kommt Hans mit dem Zug in Wien an, nachdem er sich vom Hof fortgeschlichen hat. Sein Ziel ist die Praxis der Psychoanalytikerin Helene Cheresch, einer Expertin für "Massenhysterien und parapsychologische Effekte", von der er in der Zeitung gelesen hat. Hans hat an sich eine Gabe beobachtet, die er für so außergewöhnlich hält, dass er von Chereschs Interesse daran ausgeht: Er nimmt Gedanken von Menschen in seiner Nähe kurz, bevor sie ihnen selbst bewusst werden, wahr.

Im Umfeld von Chereschs Praxis lernt Hans zufällig den Aristokratensohn und Offizier Adam und die begabte Mathematikdoktorandin Klara kennen, die aus armen Verhältnissen kommt und mit der Psychoanalytikerin lebt.  

Wien ist zu diesem Zeitpunkt in Aufruhr. Zar Nikolaus II. hat die Generalmobilmachung der russischen Armee befohlen, und in Österreich ist der drohende Kriegsbeginn das alles beherrschende Thema. Zu Tausenden strömen junge Männer euphorisch in die Kasernen, der Kriegstaumel hat die ganze Stadt ergriffen. Jeder, mit dem Hans in Wien zusammentrifft, geht wie selbstverständlich davon aus, dass sich der junge Mann zum Kriegsdienst melden wird. Doch das hat Hans nicht vor.

Für Klara und Adam geht es nur einen Tag später ums Ganze: Die Doktorandin will am 31. Juli 1914 ihr Rigorosum bestehen, bei dem es um Irrationalzahlen geht, die auch als Inkommensurable bezeichnet werden, und der junge Offizier hat bereits seinen Einberufungsbefehl in der Tasche. Die beiden sind gut miteinander befreundet und nehmen den intelligenten, aber unbedarften Hans unter ihre Fittiche. 

Adam, der von seinem Vater früh für das Leben als Offizier gedrillt wurde, hat diesem vor Jahren eine Bratsche abgetrotzt, um seiner wahren Leidenschaft, der Musik, nachgehen zu gönnen. Hans erlebt nun eine Probe des Zweiten Streichquartetts von Arnold Schönberg, danach ein Abendessen mit Adams Eltern und weiteren elitären Gästen und anschließend zu dritt Besuche von anrüchigen Etablissements, in denen Adam und Klara ein und aus gehen, die für Hans aber eine ganz neue Welt sind. Das, was er in kurzer Zeit in atemberaubender Geschwindigkeit kennenlernt, hat mit seinem bisherigen Leben auf dem Land nichts zu tun.

Lesen?

Raphaela Edelbauer hat mit Die Inkommensurablen einen Roman geschrieben, der dicht gedrängt sowohl ein Ritt durch die Wiener Geschichte als auch die Zeichnung eines Gesellschaftsbildes beinhaltet. Die kriegstrunkene Bevölkerung verachtet Juden und Sozialisten, weil man bei ihnen eine fehlende nationalistische Einstellung voraussetzt. Die gesellschaftlichen Klassen spielen eine große Rolle und werden hier durch die drei Kurzzeit-Freunde Hans (Bauern), Adam (Adel und Militär) und Klara (Proletariat) repräsentiert. Hans beobachtet in einem Unterweltlokal zum ersten Mal homosexuelle Menschen, erlebt Drogensüchtige und hört neue Musik wie den Jazz und die heftig kritisierte Zwölftonmusik, deren bekanntester österreichischer Komponist der o. g. Arnold Schönberg ist.

Das Buch hält die Aufmerksamkeit durch sein Tempo und Edelbauers treffsichere Formulierungen hoch.
An manchen Stellen schleicht sich jedoch etwas Unglaubwürdigkeit in die Handlung: Es bleibt unklar, was Adam und Klara dazu bringt, die letzten Stunden bis zu den Wendepunkten ihres Lebens ausgerechnet mit einem ihnen völlig unbekannten Knecht zu verbringen, dem sie zufällig bei ihrer Psychoanalytikerin begegnen. Auch dass die Zeit für einige ausgedehnte philosophische Betrachtungen ausreicht, ist im Hinblick auf die sich überschlagenden Ereignisse erstaunlich. Nicht zuletzt ist das Vertrauen, dass beispielsweise Klara Hans entgegenbringt, ungewöhnlich: Sie kennen sich nur wenige Stunden, als sie ihm ein Geheimnis über Adam anvertraut. Doch was erwartet man von ihr, die sich unter großen Opfern durch ihr Studium gekämpft hat, um sich die letzte Nacht vor ihrem Rigorosum um die Ohren zu schlagen? Logisches Verhalten jedenfalls nicht unbedingt.

Die Wege der drei jungen Menschen trennen sich nach eineinhalb intensiven Tagen. Was aus ihnen wird und ob sie sich wiedersehen, bleibt offen.

Die Inkommensurablen ist ein lesenswertes Buch mit einigen Abstrichen. Es steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023.

Der Roman ist 2023 bei Klett-Cotta erschienen und kostet als Hardcover 25 Euro sowie als E-Book 19,99 Euro.

Samstag, 9. September 2023

# 408 - Ein Freund der Erde - wahrgenommen als Feind der Menschen

Im Jahr 2000 wurde der achte Roman des US-Autors
T. C. Boyle veröffentlicht, A Friend of the Earth. Ein Jahr später erschien die deutsche Fassung mit dem Titel Ein Freund der Erde. Jetzt sind wir im Jahr 2023, und man wird beim Lesen des Buches das Gefühl nicht los, dass auf Boyles Schreibtisch eine Kristallkugel steht, in die der Autor dann und wann einen Blick hineinwirft, um sich Anregungen für seine Bücher zu holen. Aber von vorn.

Ein Freund der Erde spielt sowohl in den 80-er und 90-er Jahren des 20. Jahrhunderts als auch 2025 und 2026. Der Protagonist ist der ehemalige militante Umweltaktivist Tyrone "Ty" O'Shaughnessy Tierwater, der 2025 75 Jahre alt ist und im Auftrag eines gealterten früheren Popstars in Kalifornien die letzten Wildtiere hütet, die außerhalb des privaten Geheges längst ausgestorben sind: Löwen, Hyänen, Ameisenbären. Ratten haben selbstverständlich auch überlebt, für sie ist kein Schutz nötig. Krabben, Thunfische und Forellen sind ebenso Geschichte wie Frösche, Kondore oder Giraffen. Welse gibt es noch als Zuchttiere mit der Konsequenz, dass ein großer Teil der Ernährung durch sie sichergestellt wird - von Wels-Sushi bis Wels-Pizza ist da einiges möglich.
In der Nähe von Oslo werden kalifornische Weinreben angebaut, die nassen Loire- und Rheintäler eignen sich gut für den Ananas-Anbau. Auf der Erde leben 11,5 Milliarden Menschen, allein in Kalifornien 60 Millionen. Zu der Bevölkerungsexplosion haben auch medizinische Fortschritte beigetragen, die durch lebensverlängernde Maßnahmen zu einer Lebenserwartung von 100 Jahren führen.

Die Menschen in Kalifornien kämpfen 2025 ums Überleben in einer unwirtlichen Umgebung. Extreme Hitzeperioden, die die Erde aufbrechen und alles verdorren lassen, wechseln sich mit mächtigen Unwettern ab: Tage- oder wochenlang kommen ununterbrochen große Regenmengen vom Himmel, die alles überfluten und für Schimmel in den Gebäuden sorgen. Die Stürme sind so stark, dass ihnen nur speziell abgesicherte Dächer standhalten. Die klimatischen Veränderungen und die extensive Abholzung der Wälder haben dazu geführt, dass es so gut wie keine Bäume mehr gibt. 

Wenn man sagt, dass Ty sein Leben für den Umweltschutz gegeben hat, ist das nicht übertrieben. Er hat gemeinsam mit seiner damaligen Frau Andrea an legalen Aktionen der Umweltorganisation "Earth Forever!- EF!" teilgenommen und sich radikalisiert, als er den Eindruck hatte, dass diese Aktionen nichts an der verfehlten Klima- und Umweltpolitik der US-Regierung und der Bundesstaaten ändern. Er machte Bau- und Holzfällermaschinen von großen Unternehmen nachts unbrauchbar und steckte eine Holzplantage in Brand, für die ein natürlicher Wald mit alten Baumriesen abgeholzt worden war. Dafür saß er jahrelang im Gefängnis. An seiner Einstellung hat die Haft nichts geändert. Ty war nie ein Redner, sondern wollte mit seinen Taten etwas erreichen: "Ich halte keine Predigten. Es ist zu spät dafür, und abgesehen davon hat das Predigen noch nie irgendwas geholfen. Aber eins will ich sagen, der Ordnung halber - die meiste Zeit meines Lebens war ich Verbrecher. Genau wie ihr", lässt Boyle Ty Tierwater 2025 sagen.

Was ihn sein Leben lang verfolgt, ist der lange zurückliegende Tod seiner Tochter Sierra, die damals wegen einer spektakulären Umweltaktion zu einer Ikone der Umweltbewegung wurde. Alles lange her, kaum jemand kennt heute noch ihren und Tys Namen. Das soll sich plötzlich, vierundzwanzig Jahre nach Sierras Tod, ändern: Andrea taucht unvermittelt bei Ty auf, zwanzig Jahre, nachdem sich die beiden getrennt haben. Sie hat eine Frau mitgebacht, die Ty flüchtig von früher kennt und ihn nun interviewen will, um eine Biographie über seine Tochter zu schreiben. Die Anwesenheit der beiden Frauen führt zu problematischen Situationen, die sich zuspitzen, als das Wetter noch schlechter wird. Die normalerweise in ihren Gehegen lebenden Tiere sind vom ansteigenden Wasser bedroht, sodass Ty nur eine Chance sieht, sie zu retten: Sie müssen vorübergehend im weitläufigen Wohnhaus des Popstars untergebracht werden, das  auf einer künstlichen Anhöhe steht. Diese Umsiedlung bringt eine verhängnisvolle Kette von Ereignissen in Gang, die manche der Hausbewohner nicht überleben.

Lesen?

Boyles dystopischer Roman greift Themen auf, die ein Großteil der Menschen jahrzehntelang verdrängt hat. Der Klimawandel und seine Folgen sind für sich genommen keine Neuigkeit, wurden und werden jedoch "erfolgreich" ignoriert. 

Boyle zeichnet die Folgen von drastischen Hitze- und Regenperioden nach und hält bereits vor dreiundzwanzig Jahren eine aktive Klimabewegung für möglich, die sich zum Teil radikalisiert, weil sie kein anderes Mittel mehr findet, um die Politik und die Bevölkerung aufzurütteln. Dass es heute, zwei Jahre vor dem im Roman maßgeblichen Jahr, noch nicht so schlimm gekommen ist, wie vom Autor vorhergesagt, kann vernachlässigt werden. Nur Geduld, das wird schon.

Gegen Ende schleicht sich bei Ty Tierwater Resignation ein, als er gefragt wird: "Und was hast du erreicht? Sieh dich doch um - sieh dich doch nur um und beantworte mir das." - "Nichts, überhaupt nichts", ist seine Antwort. Mehr Frustration geht nicht.
T. C. Boyle entlässt seine Leserinnen und Leser allerdings nicht in dieses düstere Gefühl, sondern öffnet eine Tür, damit Ty und Andrea so etwas wie eine Zukunft haben.

T. C. Boyle hat ein sehr feines Gespür für Themen, die Menschen jetzt bewegen oder es später tun werden. Man mag einwenden, dass das Narrativ des menschengemachten Klimawandels und dessen Folgen so oft gebetsmühlenartig wiederholt wird, dass man davon nichts mehr hören oder lesen mag. Aber solange es ein Aufreger ist, wenn im Wolfsburger VW-Werk mit seinen mehr als 30 Kantinen und Kiosken in nur einer (!) Kantine ausschließlich vegetarisch gekocht und die heißgeliebte VW-Currywurst nur fleischlos angeboten wird, ist es offenbar angebracht, immer wieder zu wiederholen, dass wir uns aus unserer Komfortzone verabschieden und die Realität wahrnehmen und entsprechend handeln sollten. Zwei Jahre lang wurde in dieser einen Betriebskantine fleischlos gekocht, dann knickte die Konzernleitung im August 2023 ein und passte das Angebot an das der anderen "normal" kochenden Kantinen an. Was würde T. C. Boyle dazu sagen? Man kann es nur erahnen.

Ein Freund der Erde ist in der deutschen Version 2001 im Hanser Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 13 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro.

Montag, 4. September 2023

# 407 - Wo ist Valentin?

Valentin - das ist der Name des bei der Lehrerin Katja
lebenden Katers. Er wurde am Valentinstag geboren und kam so zu seinem Namen. Nomen est omen: Katja liebt das Tier heiß und innig wie wahrscheinlich kein anderes Wesen auf der Welt. Die Idylle der beiden wird durch nichts und niemanden gestört, denn nach einer erschütternden Erfahrung mit einem früheren Partner ist die junge Frau Single.

Doch dann kommt der Tag, an dem Katja ihren Kater nach dem Unterricht nicht zu Hause antrifft. Wo ist Valentin? ist die zentrale Frage der Handlung und der Titel des neuesten Buches von Kai Hensel.

Katja versucht alles, um Valentin, ohne den sie sich unvollständig fühlt, zu finden. Sogar auf das ihr bislang unbekannte Terrain Social Media begibt sie sich. Unbedarft, wie sie in dieser Hinsicht ist, ahnt sie nicht, was sie mit ihren Beiträgen in einem bekannten sozialen Netzwerk auslöst. Der bislang beliebten Lehrerin an einem Kleinstadt-Gymnasium schlägt nun nicht nur Mitgefühl, sondern auch Misstrauen entgegen: Was hat es mit Valentins Verschwinden auf sich? Hat Katja etwas zu verheimlichen?

Auch die Schülerin Ricky hat den Verdacht, dass es in Katjas Leben Schatten gibt, von denen niemand etwas weiß und die irgendwie mit Valentins Verschwinden zusammenhängen. Sie wittert ein #Katergate und stellt eigene Nachforschungen an. Ihr Traum ist ein Praktikumsplatz bei der kleinen Lokalzeitung, den sie mit einer spannenden Story ergattern will. 

Die Handlung schlägt immer wieder Haken, und einige der Protagonisten lernen auf unfreiwillige und zum Teil gefährliche Weise, dass man seinen Mitmenschen immer nur bis vor die Stirn, aber nie dahinter schauen kann. Einer von ihnen wird nicht erfahren, wie die Geschichte ausgeht.

Lesen?

Wo ist Valentin? ist ein unterhaltsamer Cosy-Krimi der mit dem Umstand spielt, dass einige der Protagonisten sinnbildlich Leichen im Keller haben und Ziele verfolgen, die auf den ersten Blick nichts mit dem verschollenen Kater zu tun haben. 

Kai Hensel beschreibt seine Figuren und die Verhältnisse, in denen sie leben, sehr genau, sodass man sich gut in sie hineinversetzen kann. Das eine oder andere Mal rutscht ein Klischee zwischen die Zeilen, das schmälert aber nicht den guten Eindruck des Romans.

Wo ist Valentin? ist 2023 im Kanon Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 22 Euro und als E-Book 16,99 Euro.