Montag, 26. August 2024

# 449 - Eine Revolution: Frauen fahren Fahrrad

Die britische Autorin Hannah Ross lebt für das 
Radfahren. Ihr Großvater nahm an Radrennen teil, sie selbst lässt es aus gesundheitlichen Gründen langsamer angehen. Ross bringt geflüchteten Frauen ehrenamtlich das Fahrradfahren bei und ist Mitglied in einem Fahrradclub. Ihre Urlaube verbringt sie immer auf dem Rad.

Kein Wunder, dass sich die Fahrrad-Enthusiastin Ross Gedanken über die Bedeutung des Radfahrens für Frauen gemacht hat. Der Titel ihres Sachbuchs Revolutions lässt erahnen, was seine Leserinnen und Leser erwartet.

Dass Frauen Fahrrad fahren, war tatsächlich lange Zeit revolutionär. Doch als sich die ersten von ihnen im 19. Jahrhundert auf Fahrräder wagten, wurde nicht nur über diese Ungeheuerlichkeit an sich diskutiert, sondern auch über die hierfür richtige Bekleidung. Praktische Überlegungen spielten da überhaupt keine Rolle, es wurde Wert darauf gelegt, dass Frauen "anständig" gekleidet waren.

Ist es überraschend, dass es vor allem Männer waren, die dem wachsenden Wunsch der Frauen nach Freiheit und Mobilität im Weg standen? Hannah Ross berichtet vom Widerstand der University of Cambridge, den bei ihr eingeschriebenen Frauen einen vollwertigen Abschluss zu ermöglichen. Ein entsprechender Antrag wurde 1897 abgelehnt. Die auf die Entscheidung der Universitätsleitung wartenden Studenten ließen ihre Wut darüber, dass die Gleichbehandlung von männlichen und weiblichen Studierenden überhaupt in Betracht gezogen wurde, an einem gegenüber der Universität aufgehängten Symbol aus: einer Puppe, die eine Frau auf einem Fahrrad darstellte und nur eine Bluse und eine Unterhose trug. Die Studenten zerstörten die Puppe und warfen die Einzelteile vor den Eingang eines nur von Frauen besuchten Colleges.

Dieser Vorgang macht deutlich, wogegen die Studenten rebellierten: Es ging ihnen darum, die eigenen Pfründe zu verteidigen. Die Frauen sollten dort bleiben, wo sie bislang gewesen waren: zu Hause.
Doch die waren dazu nicht mehr bereit. Gegen alle Widerstände stiegen immer mehr Frauen aufs Fahrrad. Zunächst nur die aus wohlhabenden Kreisen, später auch Frauen, die über geringe finanzielle Mittel verfügten. Sie kauften die abgelegten gebrauchten Fahrräder der gutsituierten Damen oder traten Frauen-Fahrradclubs bei, die für kleines Geld Fahrräder verkauften oder verliehen.

Aber aus Sicht der Herren und der Konservativen wurde es noch schlimmer: Immer mehr Frauen entschieden sich für praktische Fahrradbekleidung. Sie legten die bauschigen Röcke und Korsetts ab und trugen Blusen und sogenannte Bloomer, die Pumphosen ähnelten. Diese "Reformkleidung" weckte im viktorianischen England den Verdacht, die Frauen könnten sich durch diesen  maskulinen Bekleidungsstil in Männer verwandeln. Es wurde auch die Vermutung geäußert, dass das Sitzen auf Fahrradsätteln zu Unfruchtbarkeit führen könnte. Der Fantasie, welche üblen Folgen das Fahrradfahren für Frauen haben könnte, waren fast keine Grenzen gesetzt.

Wie groß der Freiheitsdrang mancher Frauen war, zeigte sich am Beispiel von Annie Kopchovsky, die unter dem Namen Annie Londonderry bekannt wurde. Sie startete 1894 von Boston aus zu einer Weltreise - selbstverständlich auf dem Fahrrad. Sie finanzierte ihre Tour, indem sie ihr Fahrrad gegen Entgelt mit Werbetafeln belud. Auch, wenn sie für einzelne Etappen auf andere Verkehrsmittel auswich, gilt sie als die erste Frau, der eine Weltumfahrung mit dem Fahrrad gelungen ist.

Es geht Hannah Ross jedoch nicht nur darum, sich einigen Pionierinnen zu widmen, die Herausragendes bei Radtouren oder -rennen geleistet haben. Sie zeigt auch, dass diese "New Women", die als die Wegbereiterinnen des Frauen-Radfahrens angesehen werden können, nicht so frei waren, wie sie es sich gewünscht haben. Die Konventionen, unter deren Einfluss sie aufgewachsen waren, wirkten nach. So lobte zwar die Zeitschrift The Lady Cyclist den praktischen Nutzen der Reformkleidung, kritisierte aber die "Angeberei einzelner Trägerinnen und ihre Tendenz zu jungenhaften Gesten und Reden, die sie für schockierend unanständig hielt". Dieselbe - von einem Mann herausgegebene - Zeitschrift empfahl die richtige Kleidung, die aber so geschnitten sein musste, dass vorbeifahrende Männer nicht abgeschreckt werden.

Lesen?

Hannah Ross' Buch besticht durch seinen Detailreichtum und die Begeisterung der Autorin für das Radfahren, die in jedem Kapitel deutlich wird. Man ahnt natürlich vor dem Aufschlagen der ersten Seite, dass es um die Benachteiligung der Frauen beim Radfahren gehen muss; welche Dimensionen diese Diskriminierung hat, die bis in unsere Zeit hineinreicht, ist jedoch erschreckend. Vor allem Frauen, die professionell Radrennen fahren, werden bis heute stark benachteiligt. Die Rennen, an denen sie teilnehmen (dürfen), finden nur wenig Publikum, weil sie meistens im Schatten großer Rennveranstaltungen für Männer stattfinden. 

Während erfolgreiche Rennfahrer ein Millionengehalt bekommen, reicht es auch bei den erfolgreichsten Fahrerinnen kaum zum Überleben. Sponsorenverträge für Männer, die zum Beispiel eine Zahlung der Prämien auch im Krankheitsfall vorsehen, findet man bei den Frauen sehr selten. Oft bedeuten Schwangerschaften das Aus ihrer Rennkarriere. An lukrativen Rennen wie der Tour de France dürfen sie nicht teilnehmen. Eine häufige Begründung der Verbände für diese Ungleichbehandlung: Frauen sind solchen Strapazen körperlich nicht gewachsen. Dass etliche Frauen das Gegenteil bewiesen haben, wird systematisch nicht zur Kenntnis genommen.

Wenn man an Revolutions etwas kritisieren möchte, dann das fehlende Quellenverzeichnis. Es ist darum nicht möglich, sich besondere Themenbereiche selbst zu erschließen.

Revolutions mit dem treffenden Untertitel Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt verändern ist 2021 unter dem Originaltitel Revolutions - How Women Changed the World on Two Wheels erschienen. Die deutsche Übersetzung wurde 2022 im mairisch Verlag veröffentlicht und kostet als Hardcover 24 Euro, als Taschenbuch 16 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro.

Freitag, 16. August 2024

# 448 - Roman über eine Gesellschaftsordnung im freien Fall

Republik Irland, zu einem nicht näher bezeichneten
Zeitpunkt der heutigen Welt. Die Bevölkerung spürt ein politisches Grummeln, aber noch sind die Verhältnisse wie gewohnt: geordnet und verlässlich. Doch schon auf den ersten Seiten des Romans Das Lied des Propheten des irischen Schriftstellers Paul Lynch ist zu spüren, dass sich da etwas verschiebt. Die Menschen nehmen diese schleichenden Veränderungen jedoch nicht ernst: Die Kinder fahren zur Schule, man geht seinen Berufen nach und hält Haus und Garten in Ordnung.

Die rechtsgerichtete National Alliance Party (NAP) ist dabei, das Land nach ihren Vorstellungen zu verändern. Das Ziel: Totalitarismus. Dagegen formiert sich allmählich Protest, wenngleich die meisten Bürgerinnen und Bürger den Mund halten. Der Alltag der Menschen wird durch immer neue Notverordnungen geregelt, die nach und nach die Bürgerrechte aushebeln. Die Anzeichen für einen gewaltsamen Aufstand der Rebellen werden immer deutlicher. Es ist beim Lesen zu spüren, dass nur noch ein kleiner Funke fehlt, damit es zu einer Eskalation kommt, bei der Waffen das Sagen haben.

Auch die in Dublin lebende sechsköpfige Familie Stack beobachtet die Situation, vertraut aber darauf, dass der Staat nicht gegen seine eigenen Bürger vorgehen wird. Vater Larry Stack ist Lehrer und hoher Gewerkschaftsfunktionär. Als solcher tritt er für eine bessere Bezahlung für seine Kolleginnen und Kollegen ein. An einem regnerischen Abend tauchen zwei Mitglieder der neu gegründeten Geheimpolizei bei den Stacks auf, um Larry zu verhören. Den Protest der Lehrerschaft nimmt die NAP zum Anlass, die Maske fallen zu lassen: Obwohl es sich bei den Demonstrationen um legale Aktionen handelt, werden alle Gewerkschaftsführer festgenommen. Zu den Inhaftierten gehört auch Larry, der seitdem wie vom Erdboden verschluckt ist. Der Kontakt zu einem Anwalt wird ihm widerrechtlich verwehrt. Eilish macht ihrer Verzweiflung Luft, indem sie auf den Punkt bringt, warum es so weit kommen konnte:

"Ich habe selbst im Gesetz nachgeschaut, in den Verträgen, das ist ein eklatanter Bruch internationalen Rechts, [...] warum dürfen die machen, was sie wollen, warum hat niemand Stopp geschrien?"

Binnen kurzer Zeit verändert sich das Leben der Stacks um 180 Grad. Mutter Eilish, eine Wissenschaftlerin, versucht nicht nur, ihren Mann zu finden, sondern ihren vier Kindern so lange es geht ein normales Leben zu ermöglichen. Aber die Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und den Rebellen nehmen das Ausmaß eines Krieges an, in dem die toten und verletzten Bürgerinnen und Bürger nur Kollateralschäden sind. Das gesamte System erodiert, es gilt das Recht des Stärkeren. Lebensmittel werden knapp, Wucherer bereichern sich an der Krise und verlangen horrende Preise. Krankenhäuser arbeiten nur noch eingeschränkt. Das Land versinkt im Chaos.

Eilishs in Kanada lebende Schwester bietet ihr Unterstützung an, Irland zu verlassen und mit ihrer Familie zu ihr zu kommen. Aber die Mutter hofft auf Larrys Rückkehr und schafft es nicht, ihren in der Nähe lebenden dementen Vater im Stich zu lassen. In seinen klaren Momenten rät dieser seiner Tochter ebenfalls eindringlich, sich so schnell wie möglich auf den Weg zu machen, bevor es zu spät ist. 

Als sich ihr ältester Sohn den Rebellen anschließt und ihr Haus von einer Granate getroffen wird, ändert Eilish ihre Meinung. Doch dann wird ihr zweiter Sohn durch einen Granatsplitter verwundet und muss im Krankenhaus behandelt werden. Die ohnehin schon dramatische Situation verschärft sich auf eine unerwartete Weise, die Eilish nicht für möglich gehalten hätte.

Lesen?

Mit Das Lied des Propheten ist Paul Lynch ein eindringlicher Roman gelungen. Er zeigt, wie fragil eine stabil wirkende demokratische Gesellschaftsordnung tatsächlich ist, wenn dem Treiben faschistischer Kräfte zu lange tatenlos zugesehen wird. Die Handlung bekommt in dem Maß, in dem sich die Krise für das Land und die Familie Stack zuspitzt, eine immer stärkere Eindringlichkeit. Lynch zeigt deutlich, dass eine Selbstbeschwichtigung à la "So etwas kann hier nicht passieren" der falsche Umgang mit Parteien und Personen ist, die ein Land umkrempeln und in eine Autokratie verwandeln wollen. 

Das Lied des Propheten erschien 2023 unter dem Originaltitel Prophet Song. Paul Lynch erhielt im selben Jahr für seinen Roman den renommierten britischen Booker Prize. 2024 erschien das Buch in der Übersetzung von Eike Schönfeld im Verlag Klett-Cotta. Es kostet in der gebundenen Ausgabe 26 Euro sowie als E-Book 20,99 Euro.

Sonntag, 11. August 2024

# 447 - Jeder erzeugt ihn, aber keiner will etwas mit ihm zu tun haben: Müll

Wir haben alle diese Bilder vor Augen: indische Kinder,
die auf riesigen Müllhalden nach etwas Verwertbarem suchen oder Müllteppiche aus Plastik, die auf den Weltmeeren treiben. Mit dem Beginn der diesjährigen Urlaubssaison machten Meldungen von Touristen die Runde, die in der Hoffnung auf einen gelungenen Strandurlaub nach Bali reisten und anstelle einer Postkartenidylle Müllteppiche entlang von Flüssen und Stränden vorfanden. Ist die Entstehung und Entsorgung von Müll also ein Problem unserer modernen Gesellschaft?

Wer Roman Kösters Monographie Müll - Eine schmutzige Geschichte der Menschheit liest lernt, dass die Entstehung sowie die Entsorgung oder Verwertung von Abfall ein fester Bestandteil der Menschheitsgeschichte sind. Der Historiker geht das Thema chronologisch an, beschränkt sich jedoch nicht auf Europa, sondern betrachtet den Umgang mit Müll auch global. In seiner Einleitung weist Köster auf die immense Bedeutung des Müllproblems hin und nennt Zahlen: Nach Schätzungen der Weltbank fielen 2016 weltweit 2,01 Milliarden Tonnen Hausmüll an - industrieller Müll ist hier also noch gar nicht enthalten. Wird hier nicht konsequent eingegriffen, wird Prognosen zufolge die Hausmüllmenge im Jahr 2050 bereits bei 3,4 Milliarden Tonnen liegen. Seit 50 Jahren versuchen Umweltpolitiker, diese gewaltige Müllmenge zu reduzieren. Der Erfolg ihrer Bemühungen ist nicht wahrnehmbar.

Doch wann wird eine Sache zu Müll? Schon in dem Moment, in dem wir sie wegwerfen, oder erst dann, wenn ihr tatsächlich kein Wert mehr beigemessen wird? Hier kommt man am Recycling nicht vorbei. Schon vormoderne Gesellschaften haben Wiederverwertung von Dingen betrieben, die andere nicht mehr gebrauchen konnten: tierische und menschliche Fäkalien wurden als Dünger verwendet, getragene Kleidung wurde je nach Güte weiterverkauft oder für die Papierherstellung gebraucht, defekte metallene Gebrauchsgegenstände wurden repariert oder zu einem anderen Gegenstand umgearbeitet. Allerdings waren die Motive für diese Art des Recyclings andere als heute: Damals lebten auch in Europa viele Menschen in einer sie täglich existenziell bedrohenden Armut, die sie zum sparsamen Umgang mit Ressourcen zwang. Außerdem sorgte die Sammlung von Müll dafür, dass sich Menschen ein bescheidenes Auskommen sichern konnten. 

Köster erläutert, dass die Problematik der Müllentsorgung mit dem Beginn der Sesshaftigkeit der Menschheit vorwiegend Städte betraf. Schon die Maya kannten Mülldeponien, und in Troja hat es bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. eine Straßenreinigung und eine Mülldeponie gegeben. Je mehr sich eine Stadt ausdehnte, umso schwieriger wurde es, für ein Mindestmaß an Stadthygiene zu sorgen: Müllhalden, die zuvor noch am Stadtrand lagen, befanden sich nun im bebauten Gebiet und beeinträchtigten die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger. Das galt ebenso für schmutzige Gewerbe wie Gerbereien oder Schlachtereien.

Seit den 1960-er Jahren wird ein großer Teil des Mülls in Verbrennungsanlagen vernichtet. Obwohl diese Anlagen mit immer besseren Filtern ausgestattet werden, ist bis heute unklar, welche bisher unbekannten Schadstoffpartikel die Schornsteine verlassen und Umwelt und Menschen schädigen. 

Den Beginn des Massenkonsums und damit drastischen Anstiegs der Müllmengen verortet Roman Köster nach dem Zweiten Weltkrieg: Der Trend zum Einkauf in Supermärkten und im Versandhandel machte neue Verpackungsformen und -mengen in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß nötig.

Sogar der Beginn der Vermüllung der Meere mit Plastikabfällen lässt sich relativ genau bestimmen: Köster erzählt, dass die beiden Schriftsteller Thomas Mann und Aldous Huxley 1938 am Strand von Santa Monica spazieren gingen. Dort entdeckten sie eine große Menge von kleinen weißen Würmern. Bei näherem Hinsehen stellten sie fest, dass es sich um benutzte Kondome handelte, die durch die Abflussrohre von Los Angeles an den Strand gespült worden waren.
Mittlerweile sind fünf Müllteppiche ("Great Pacific Garbage Patches") bekannt, die sich im Atlantischen, Pazifischen und Indischen Ozean befinden. Sie sind durch Meeresströmungen entstanden, der größte ist dreimal so groß wie Frankreich.

Lesen?

Müll - Eine schmutzige Geschichte der Menschheit vermittelt durch seine umfassende Darstellung der Müllgeschichte und -problematik, wie dringend die globale Müllmenge verringert werden muss.

In seinem Epilog geht Roman Köster auf die Frage ein, wie eine erfolgreiche Müllreduzierung aussehen könnte. Spoiler: Die Erziehung der Verbraucher zur Müllvermeidung führt zu einem so geringen Effekt, dass nur mit ihr das Problem nicht gelöst werden kann.

Müll - Eine schmutzige Geschichte der Menschheit wurde für den Deutschen Sachbuchpreis 2024 nominiert und ist ein aufschlussreiches Sachbuch, das nicht nur eindringlich, sondern auch sehr gut verständlich die Müllproblematik erläutert.

Müll - Eine schmutzige Geschichte der Menschheit ist 2023 im Verlag C.H.Beck oHG erschienen und kostet gebunden 29 Euro sowie als E-Book 22,99 Euro.

Sonntag, 4. August 2024

# 446 - Ein guter Rat gefällig?

Eliza Peabody ist 51 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann
Henry in einem Haus in der Rathbone Road am Rand von London. Das Paar ist seit 30 Jahren verheiratet, hat keine Kinder und gehört zur gehobenen Mittelschicht. Henry ist Diplomat im Außenministerium; Eliza ist nicht berufstätig, weil das in ihrem sozialen Umfeld so üblich ist. Elizas Leben hat sich an Henrys Karriere ausgerichtet: Die beiden haben in Bangkok, Damaskus, Kairo und Washington gelebt, bevor sie nach London zurückkehrten.

Eliza betätigt sich ehrenamtlich in einem christlichen Hospiz. Dort steht sie jedoch nicht den Sterbenden bei, sondern spült das Geschirr. Eliza ist der Meinung, dass sie ihre Meinung jederzeit ungefragt äußern sollte. So hält sie es auch in ihrer Nachbarschaft: In den Briefkästen des Viertels finden sich immer wieder Zettel, auf denen Eliza "hilfreiche" Hinweise geschrieben hat. Doch in Jane Gardams Roman Gute Ratschläge wird deutlich, wo das Problem ist: Sie geht ihren Mitmenschen mit ihren Tipps auf die Nerven.

In ihrer Straße wohnt eine Familie mit zwei Kindern und einem Hund. Vater Charles ist wie Henry im Außenministerium beschäftigt. Elizas Fokus liegt auf der Mutter Joan: Deren hinkender Gang erregt ihre Aufmerksamkeit, und sie schreibt der Nachbarin einen Brief. Darin gibt sie ihr Ratschläge, was es mit Joans Bein auf sich haben könnte: "Ich glaube, es ist etwas Psychologisches, Psychosomatisches, und Charles nimmt es furchtbar schwer. Es macht sowohl ihn als auch dich zum Gespött und ihr ruiniert euch euer Leben."

Viele Leute würden nach so viel Übergriffigkeit an Joans Tür Sturm klingeln und ihr den Marsch blasen. Joan tut nichts dergleichen. Sie schweigt. Kurze Zeit später verschwindet sie und lässt Familie und Hund zurück. Eliza erfährt erst einen Monat später davon. In der Zwischenzeit hat sie der Nachbarin drei weitere Briefe geschrieben, in denen sich eine Instinktlosigkeit an die andere reiht. Als Eliza Joans Verschwinden registriert, stachelt sie das zu weiteren Briefen an, in denen sie der Frau, als deren Freundin sie sich jedes Mal bezeichnet, schwere Vorwürfe macht. Die Briefe sendet sie an Adressen auf einer Liste, die Joan für ihren Mann geschrieben hat.

Mit jedem Brief steigert sich Eliza mehr in ihren belehrenden Wahn hinein, und jeder wird länger und ausufernder. Joan antwortet ihr jedoch nicht. Allerdings kommt der verlassene Charles der Einladung nach, Zeit mit den Peabodys zu verbringen. Das führt nach einigen Monaten zu einem unerwarteten Ereignis: Henry informiert seine Frau darüber, dass er ab sofort mit Charles zusammenleben werde. Die beiden Männer verlassen das Viertel. Eliza bleibt allein im Haus zurück und kreist um sich selbst.

Elizas Briefe werden immer persönlicher. Der ehemaligen Nachbarin, die sie in Wahrheit kaum kennt, erzählt sie intime Details aus ihrem Leben bis hin zum Grund für ihre Kinderlosigkeit. Sie nimmt auch kein Blatt vor den Mund, als sie das Leben der Frauen in der Nachbarschaft beurteilt: "Vermutlich habe ich bei dir nur beobachtet, was in weniger dramatischer Form bei vielen Frauen unseres Alters in der Rathbone Road zu sehen war: Langeweils, Überdruss, Erkenntnis."

Aber dann kommt der Zeitpunkt, ab dem Eliza von surrealen Erlebnissen erzählt. Da ist ein Professor, dessen Körper schmilzt und in der Kanalisation verschwindet, ein absurdes Gespräch mit ihrer ehemaligen Tutorin in Oxford und unangemeldete Besucher, die angeblich von Joan geschickt wurden. Am unheimlichsten ist ihr Erlebnis mit dem Hospizbewohner Barry, der Eliza besonders am Herzen lag. Sie wird von einer der Schwestern über seinen Tod informiert, eilt an sein Bett und führt dort mit ihm ein langes Gespräch über ihr Leben.

Lesen?

Erst allmählich schält sich heraus, wie Eliza zu der Person geworden ist, die ihrem Mann und ihren Nachbarn heute den letzten Nerv raubt. Doch genau wie Elizas Leben zerfasert, tut es auch die Handlung. Zum Schluss ist nicht klar, was real ist und was nur in Elizas Kopf existiert.

Gute Ratschläge ist ein Entwicklungsroman über eine erwachsene Frau, die reflektiert, dass sie in einer Gesellschaft voll Doppelmoral lebt, in der Frauen vor allem Ehegattinnen zu sein haben, die ihren Männern den Rücken frei halten und mit denen sich diese schmücken können. Gardam zeigt auch, wie es einem Menschen gehen kann, der ein traumatisches Erlebnis mit niemandem teilen und nicht verarbeiten kann. Der Roman hat heitere, aber auch nachdenklich machende Facetten.

Gute Ratschläge ist unter dem Originaltitel The Queen of the Tambourine 1992 erschienen und wurde 2024 erstmals in der deutschen Übersetzung (Übersetzerin: Monika Baark) im Hanser Verlag veröffentlicht. Der Roman kostet als gebundene Ausgabe 25 Euro und als E-Book 18,99 Euro.