Samstag, 31. Oktober 2020

# 263 - Eine öffentliche Familie

Anna-Louisa ist mit ihrer Jugendliebe Arthur verheiratet
und hat mit ihm eine zweieinhalbjährige Tochter. Gerade hat sie ihren Job als Lektorin in einem Berliner Buchverlag gekündigt, um als Influencerin mit ihrem Mama-Blog voll durchzustarten. Ständig postet sie Fotos von sich und ihrer Familie bei Instagram. Die Zukunft liegt rosarot vor ihr. Was in Martin Krists Psychothriller Niemand wird vergeben so harmlos und harmonisch beginnt, wird schnell zu einer existenzbedrohenden Situation eskalieren.

Auf dem Weg zu einer wichtigen Party läuft ihr Ziggy, ein alter Kumpel, den sie seit 15 Jahren nicht gesehen hat, über den Weg. Er ist kaum wiederzuerkennen: Früher machte er sich über Leute lustig, die ihren Wohlstand zeigten, jetzt steht er vor Anna-Louisa wie aus dem Ei gepellt. Über seinen aktuellen Beruf gibt er allerdings nur zögernd Auskunft. 

Kurz nach diesem Zusammentreffen schickt jemand der jungen Frau eine Botschaft auf ihr Smartphone: Diese Nachricht ist dein Tod. Wenig später wird Ziggy nur ein paar Meter weiter ermordet. In der Hand hält er eine von Annas Visitenkarten. Sein Tod ist der Wendepunkt für Annas kleine Familie, ihr gutes Leben scheint in seine Einzelteile zu zerfallen. Anna weiß immer weniger, wem sie noch trauen kann. Sie wird durch die Presse in den Mord hineingezogen, verliert einen lukrativen Blogger-Vertrag und wird Opfer eines Internet-Shitstorms. Jetzt rächt sich, dass sie ihr Leben öffentlich gemacht hat. Was Anna nicht ahnt: Der Schlüssel zu Ziggys Ermordung und allem, was ihr noch widerfahren soll, liegt in ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Und sie wird lernen, dass die, die sie glaubte gut zu kennen, gefährliche Geheimnisse hatten.

Lesen?

Wer spannende Thriller mag, ist bei Martin Krist auf jeden Fall gut aufgehoben. Er hat einen mitreißenden Schreibstil und erzeugt in diesem Thriller auch dadurch eine authentische Stimmung, indem er einzelne bekannte Songtexte einflicht oder ganz in Social-Media-Manier mit Hashtags arbeitet. 

Niemand wird vergeben ist 2020 über neopubli erschienen und kostet als Taschenbuch 9,99 Euro sowie als E-Book 3,99 Euro.

Mittwoch, 21. Oktober 2020

# 262 - Das Haus, das immer leerer wird

Mit Das Haus hat Olivia Monti einen Krimi veröffentlicht, der in seiner Grundstruktur an Agatha Christies Titel And Then There Were None erinnert, in dem nach und nach Menschen ermordet werden. Die Handlung wird von einer Bewohnerin eines Mietshauses, einer Parapsychologin, die gerade an einem Buch über das Gedächtnis von Orten und Gegenständen arbeitet, erzählt.

In dem Haus leben sehr unterschiedliche Personen, die sich zum Teil nur vom Sehen kennen und in der Mehrheit Singles sind. Man kommt nicht besser oder schlechter miteinander aus als in jedem anderen x-beliebigen Mehrparteienhaus. Das, was die Gemeinschaft lose zusammenhält, sind die monatlichen Zusammenkünfte auf der Dachterrasse von Leonardo Zimmermannn, der zu diesen Anlässen Champagner und Häppchen spendiert. Es kommen immer alle bis auf den syrischen Medizinstudenten, der erst vor Kurzem in die Wohnung gegenüber von Zimmermann eingezogen ist. Dessen Zurückhaltung stachelt die übrigen Bewohner zu wilden Spekulationen über seinen wahren Hintergrund an und die Spekulationen reichen von "Der lebt auf unsere Kosten" bis zu "Er wird bestimmt vom IS bezahlt".

Kurz nach seinem Einzug liegt der junge Mann tot vor der Haustür. Seine Verletzungen weisen auf einen Sturz aus großer Höhe hin. Ist er von seiner Dachterrasse gesprungen oder hat ihn jemand heruntergestoßen? Im Haus mischt sich die Erschütterung einiger Bewohner mit der Gleichgültigkeit der anderen. Wer jedoch glaubt, dass mit dem Abtransport der Leiche und dem Ausräumen der Wohnung durch die Eltern des Studenten wieder die gewohnte Ruhe einkehren würde, irrt: In kurzen Abständen werden weitere Nachbarn tot aufgefunden, die meisten von ihnen starben, nachdem jemand nachgeholfen hatte. Sogar ein kleiner Hund muss dran glauben. Die Hausbewohner diskutieren untereinander, wer von ihnen die Nachbarn auf dem Gewissen haben könnte: Jeder verdächtigt jeden, und bei genauem Hinsehen haben alle merkwürdige Eigenschaften oder Gewohnheiten, die vielleicht ein Hinweis auf das Böse sein können.

Dann wird Zimmermann in einen Unfall verwickelt, der tödlich hätte ausgehen können: Jemand hatte sich an den Bremsleitungen seines Autos zu schaffen gemacht. Muss er weiterhin um sein Leben fürchten? Und schließlich wird tatsächlich eine Nachbarin verhaftet, die im Haus bislang anderer Taten verdächtigt wurde, aber hinsichtlich der Mordfälle nicht unbedingt zu den Top-Favoriten gehörte. Doch letztlich führt ein Stromausfall zum Täter.

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Olivia Monti hat in ihr Buch sehr gut Themen eingeflochten, die uns alle immer wieder beschäftigen: Vorurteile, Rassismus, Altersarmut und die Erkenntnis, dass man sich mehr umeinander kümmern sollte. Im Unterschied zu klassischen Krimis nimmt die Polizei jedoch nur eine Nebenrolle ein: Die Beamten kommen nur dann, wenn sie von den Bewohnern gerufen werden. Von ihrer eigentlichen Ermittlungsarbeit erfährt man nichts; die Ursachen, die zum Tod der Nachbarn geführt haben, werden nur auf Nachfrage mitgeteilt. Erst als die Lage eskaliert, zieht ein Polizist in eine der Wohnungen ein, um die Situation besser im Blick zu haben. 

Die Lösung des Falls ist überraschend, greift aber ein anderes gesellschaftliches Thema auf, das immer wieder diskutiert wird. Welches, sei an dieser Stelle nicht verraten. Was allerdings stört, sind die parapsychologischen Exkurse der Erzählfigur, die immer wieder eingestreut werden, jedoch nichts mit der Aufklärung der Todesfälle zu tun haben. Es hilft, ein persönliches Interesse daran zu haben; wer es nicht hat, kann diese Passagen einfach überspringen, ohne etwas von der Handlung zu verpassen.

Das Haus wurde 2020 über neobooks veröffentlicht und kostet als gebundene Ausgabe 19,99 Euro sowie als Taschenbuch 7,99 Euro.

Montag, 19. Oktober 2020

# 261 - Ein Leben im Paradies...?

Zoë Beck wirft mit ihrem neuesten Buch Paradise City einen Blick in eine Zukunft, in der der optimierte Mensch das höchste Ziel der Regierung ist. 

Im Mittelpunkt steht die freie Journalistin Liina, die für eine Nachrichtenagentur arbeitet, die sich der Wahrheit verpflichtet fühlt. Presse- und Meinungsfreiheit sind in dieser Zukunft keine Selbstverständlichkeit mehr, sodass die Mitarbeiter immer vorsichtig sein müssen.

Für Liina gilt das umso mehr, weil sie als Trägerin eines transplantierten Herzens ständig durch eine Gesundheits-App überwacht wird, die ihr sagt, wann es Zeit ist zu schlafen, zu essen, bestimmte Medikamente zu nehmen oder ins Krankenhaus zu kommen. Ihre journalistischen Recherchen führt sie undercover durch und versucht dabei, keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Liina kennt nichts anderes als dieses Leben in der modernen Gesellschaft: Die Hauptstadt Deutschlands ist jetzt Frankfurt, das mit den umliegenden Städten zu einer Metropole mit zehn Millionen Einwohnern angeschwollen ist. Berlin ist nur noch ein Ausflugsziel für historisch Interessierte, und der Klimawandel hat dazu geführt, dass die Meeresspiegel angestiegen sind und die Küsten an Nord- und Ostsee überschwemmt wurden. Im sogenannten Hinterland wurde die Natur sich selbst überlassen. Das gilt ebenso für die dort lebenden Menschen, die so etwas wie die Outlaws der durchorganisierten und überwachten Gesellschaft und der Regierung ein Dorn im Auge sind.

Zu reisen gilt als nicht erstrebenswert: Es ist zu teuer und wegen der Visabeschaffung zu aufwendig. Wer fremde Länder kennenlernen will, sieht sich deshalb zu Hause eine Computersimulation an.

Einige Dinge, die Zoë Beck in ihrem Zukunftsentwurf nennt, wirken gar nicht mehr so weit entfernt. Da ist beispielsweise das Smartcase, ohne das der moderne Bürger nicht mehr auskommt: Mit ihm weist man sich aus, bezahlt, verwaltet seine Zugangsberechtigungen und gibt Ärzten und Kliniken den Zugriff auf seine Gesundheitsdaten. Auch Nachrichten werden über das Gerät ausgetauscht. Schon bald soll es Modelle geben, die unter die Haut implantiert werden können.

Liina wird von ihrem Chef Yassin mit einem belanglos erscheinenden Auftrag in die Uckermark, eine Gegend fern der gewohnten Zivilisation, geschickt. Sie soll über einen Todesfall recherchieren: Eine Frau wurde von Schakalen angegriffen und tödlich verletzt. Es ist nicht der erste mysteriöse Todesfall in dieser Gegend.

Während sie dort ist, stürzt Yassin vor einen in den Bahnhof einfahrenden Zug und fällt ins Koma. War es ein Unfall oder hat ihn jemand auf die Gleise gestoßen? Fast zeitgleich wird die hin und wieder für die Agentur arbeitende Kaya tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Hat sie sich tatsächlich umgebracht oder wurde sie ermordet, weil sie zu unbequem gewesen ist? Haben sie und Yassin an einem Projekt gearbeitet, über das sie mit niemandem gesprochen haben?

Je mehr Liina herausfindet, umso deutlicher wird, wie sehr die Gesundheits-App, die Todesfälle in der Uckermark, die Tode von Yassin und Kaya und nicht zuletzt Liinas Erkrankung zusammenhängen. Und dann ist da auch noch Liinas frühere Freundin Simona, die für die Entstehung der Gesundheits-App verantwortlich ist und offenbar mit einem Programmierungsfehler hadert: Die App funktioniert auf der Annahme, dass die Nutzer gesund und produktiv sind und hat mit der Zeit gelernt, dass weniger gesunde Menschen entsorgt werden müssen. Liina weiß immer weniger, wem sie noch trauen kann und befindet sich am Ende in einer lebensgefährlichen Situation.

Lesen?

Zoë Beck hat mit Paradise City einen spannenden Thriller geschrieben, der nur auf den ersten Blick in einer entfernten Zukunft spielt. Tatsächlich ist die Technik weit genug entwickelt, dass die - überwiegend freiwillig hergegebenen - Daten der Menschen sich zur Überwachung der Bevölkerung eignen. Der Schritt zu einem Überwachungsstaat ist dann nicht mehr so weit.
Das Buch zeigt auch, wie groß die Bereitschaft der Menschen ist, sich in Krisenzeiten von einem "starken Staat" leiten zu lassen und dafür viel von der eigenen Privatsphäre aufzugeben. Leseempfehlung!

Paradise City ist 2020 erschienen und kostet als Taschenbuch 16 Euro sowie als E-Book 13,99 Euro.



Samstag, 10. Oktober 2020

# 260 - Darüber spricht der Bundestag

Dieses Buch ist aus einem Projekt mehrerer Redakteure von ZEIT ONLINE hervorgegangen, mit dem herausgefunden werden sollte, zu welchem Zeitpunkt und wie oft die Abgeordneten bestimmte Begriffe verwendet haben und wie sich die Wortwahl im Laufe der Zeit verändert hat. Maßgeblich ist hier nicht die absolute, sondern die relative Wortzahl pro 100.000 Wörter. 

Vorweg ein paar Zahlen, die die Dimension verdeutlichen: Es geht hier um mehr als 200 Millionen Wörter, die im Laufe von 4.216 Budestagssitzungen zwischen 1949 (erste Bundestagssitzung) und 2019 (letzte Sitzung vor der Sommerpause) protokolliert wurden. Es geht auch darum, herauszufinden, ob sich der Eindruck, das Parlament beschäftige sich nur mit wenigen Themen intensiver und mit anderen gar nicht, stimmt. Und letztendlich geht es außerdem darum, inwieweit die Bundestagsdebatten ein Spiegel ihrer Zeit waren und sind. 

Das Buch ist in vier Kapitel unterteilt, die jeweils mit Betrachtungen über häufig in den Parlamentsdebatten verwendeten Wörtern gefüllt sind. Die Benennungen der Kapitel soll(t)en den Leserinnen und Lesern Orientierung bieten, schrammen jedoch knapp an diesem Ziel vorbei, weil es ihnen an Trennschärfe fehlt. So beschäftigt sich das erste Kapitel Politische Herausforderungen beispielsweise mit der Atomkraft, dem Kalten Krieg oder dem Antisemitismus; im zweiten Kapitel Gesellschaftlicher Wandel geht es dann u. a. um die Rolle und Stellung der Frauen in der Gesellschaft oder die Ausgestaltung der Heimarbeit, die im Bundestag später unter dem Schlagwort "Telearbeit" und danach unter dem Begriff "Homeoffice" diskutiert wurde. Es erschließt sich nicht unbedingt, warum Themen dem einen oder anderen Kapitel zugeordnet wurden.

Abseits solcher Überlegungen hält das Buch eine Menge interessante Fakten bereit. Da geht es zum Beispiel um die Häufung des Begriffes "Angst" in Zusammenhang mit dem Begriff "Atomwaffen". Wie bei allen untersuchten Wörtern wurde auch hier ein Kurvendiagramm erstellt, aus dem die Entwicklung der Häufigkeit der Nennungen sowie der Zusammenhang zwischen den beiden Begriffen hervorgeht. Dazu gehört immer auch eine ausführliche Erläuterung des entsprechenden historischen Hintergrunds. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Die Grafik zeigt die mit Abstand meisten Nennungen des Begriffs "Atomwaffen" in den Bundestagsprotokollen im Jahr 1958. Damals wurde bekannt, dass Bundeskanzler Adenauer und Verteidigungsminister Strauß - getreu ihrer Vorstellung, dass Abschreckung den Frieden sichert - die Anschaffung von Atomwaffen planten und dies mit der Begründung, es handele sich um "eine Weiterentwicklung der Artillerie", verharmlosten.

Wie sich die Bedeutung von Szenarien und Problemen in der Wortwahl niederschlägt, ist immer wieder zu beobachten. Ein gutes Beispiel sind die Debatten über das Klima: Mitte der 1980-er Jahre begann die parlamentarische Debatte mit dem Wort "Klimakatastrophe", versiegte in den folgenden Jahren jedoch nach und nach. Die Weltklimakonferenz, die 1999 in Bonn ausgerichtet wurde, gab dem Thema neuen Schub, nun aber war es - in Anlehnung an den weltweit verwendeten Begriff "climate change" - der "Klimawandel", über den im Bundestag gesprochen wurde. 2007 hat dessen Verwendung unter den Parlamentariern ihren Höchststand erreicht, nachdem der Weltklimarat IPCC seinen vierten Sachstandsbericht veröffentlicht hatte, in dem es um den von Menschen gemachten Klimawandel und seine Folgen ging.

Zum Schmunzeln ist das vierte Kapitel Der parlamentarische Sprachgebrauch: Hier geht es darum, wie die Abgeordneten verbal miteinander umgingen oder ob sich in ihren Zitaten, mit denen sie ihre Reden schmücken, ein bestimmtes Bildungsniveau widerspiegelt. Seit 1986 wurde immerhin 32 Mal über "Arschlöcher" und "Ärsche" gesprochen, in den seltensten Fällen war damit jedoch eine Beleidigung verbunden, sondern ein Zitat oder eine gängige Redewendung. Wenn man sein Missfallen über andere Abgeordnete in die passenden Worte fassen will, sind "Trottel" und "Idiot" beliebter, weil Nettigkeiten auf diesem Niveau nach der Geschäftsordnung noch nicht als zu ahndende Beleidigungen gelten, "Arschloch" hingegen schon.

Der Buchtitel ist die gekürzte Fassung einer Beschimpfung, die der Abgeordnete Joschka Fischer 1984 dem Bundestagspräsidenten Richard Stücklen entgegengeschleudert hat: "Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!" Diese Attacke hatte kein formales Nachspiel: Stücklen hatte Fischer kurz zuvor des Saals verwiesen, das Mikrofon war bereits abgeschaltet und die Sitzung unterbrochen. Deshalb findet sich dieser Satz in keinem Parlamentsprotokoll.

Lesen?

Das Buch eignet sich für alle, die sich für Politik und politische Entwicklungen interessieren. Aber auch, wenn man auf diesem Gebiet bislang eher desinteressiert war, bietet Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind..." eine gute Möglichkeit, hinsichtlich politischer Diskussionen einen roten Faden zu finden und so besser zu verstehen, wie und vor welchem Hintergrund Bundestagsentscheidungen zustande gekommen sind. Das Buch ist ein interessanter Blick nicht nur in die Vergangenheit des Bundestags, sondern auch in die deutsche Gesellschaft.
 
Es schließt mit einem Ausspruch des CDU-Abgeordneten Hans Hermann Dichgans vom 25. Oktober 1967: "Nun, ich möchte hier leidenschaftlich für das Recht der Abgeordneten eintreten, Unsinn zu reden. (Heiterkeit und Beifall.) Es ist eines der Grundrechte des Parlaments."  Diesen Eindruck kann man als Bürger immer wieder bekommen.

Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind..." ist im September 2020 im DUDEN-Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 16 Euro sowie als E-Book 13,99 Euro.
 
Nachtrag: Hier hat ZEIT ONLINE den Zugriff auf die Datenbank bereitgestellt. Und hier wurden die Bundestagsprotokolle der 18. Legislaturperiode (2013-2017) durchsuchbar aufbereitet und zur Verfügung gestellt (Projekt der Open Knowledge Foundation Deutschland).

Freitag, 2. Oktober 2020

# 259 - Ein unorthodoxes Leben

Diese beiden Bücher von Deborah Feldman sollten nicht getrennt voneinander beurteilt werden, weil sie inhaltlich zu dicht beieinander sind: Unorthodox (erschienen 2016) und Überbitten (erschienen 2017). In beiden schreibt Feldman über den Menschen, den sie am besten kennt und den sie neu kennenlernen musste: sich selbst. 

Deborah Feldman wächst in der ultraorthodoxen chassidischen Satmarer-Sekte auf. Weil ihr Vater kaum imstande ist, sich selbst zu versorgen, und ihre Mutter mit Sack und Pack verschwunden ist, als die Tochter noch ein kleines Kind war, wird sie von den Großeltern aufgenommen. Die Satmarer leben in Williamsburg, einem Stadtteil des New Yorker Stadtbezirks Brooklyn. Sie sind ganz unter sich und folgen den von ihrem Rabbi gemachten Regeln. Diese Regeln sind äußerst streng und engen vor allem die Frauen ein.

Schon als Achtjähriger fällt Feldman auf, dass den Mädchen und Frauen Wissen vorenthalten wird: Sie beteiligen sich nicht an Gesprächen mit den Männern und gehen auf Mädchenschulen, in denen nur das vermittelt wird, was die künftigen Ehefrauen und Mütter wissen müssen, um ihre Aufgabe zu erledigen. Die Isolation mitten in der Millionenstadt New York wird durch eine Reihe von Verboten zementiert: Die Sprache der Gemeinde ist Jiddisch, Englisch gilt als unrein. Bücher zu lesen ist ebenfalls verboten, wenn es sich nicht um die Tora handelt. Die Ernährung unterliegt der Überwachung des Rabbis, die Milch für Milchprodukte darf nur unter der Aufsicht eines religiös sehr bewanderten Juden gemolken werden. Das Singen ist ab dem zwölften Geburtstag nicht mehr erlaubt. Es reiht sich Verbot an Verbot, Feldman lebt in ihrer Kindheit und Jugend wie in einem Käfig, an dessen Gitterstäbe sie ununterbrochen stößt. Gefühle zu zeigen ist verpönt, stattdessen wird jedes Familienmitglied danach bewertet, wie strikt es die zahllosen Regeln einhält.

Deborah Feldman lebt von Beginn an mit einer Schuld, die sie sich nicht selbst aufgeladen hat. Ihre aus Ungarn stammende Großmutter hat als Einzige in ihrer Familie den Holocaust überlebt, in der Gemeinde finden sich viele Menschen mit einem ähnlichen Schicksal. Um sich posthum an Hitler zu rächen, zeugen die Satmarer so viele Kinder wie möglich. Die Großmutter versäumt nicht, ihre Enkelin darauf hinzuweisen, dass diese nur deshalb lebt, weil die alte Frau überlebt hat. Eine perfide Strategie, einem schuldlosen Menschen Schuldgefühle einzupflanzen.

Feldman wird mit 17 Jahren mit dem sechs Jahre älteren Eli verkuppelt, dem sie bis zum Tag ihrer Hochzeit nur drei Mal begegnet ist. Ihre Ehe gerät in jeder Hinsicht zum Desaster: menschlich, sexuell, religiös. Die Hoffnung, dass eine Ehe gleichbedeutend mit mehr Freiheiten sein könnte, zerschlägt sich: Gebärfähige Ehefrauen haben religiöse Pflichten einzuhalten, was insbesondere Elis Familie wichtig ist. Die junge Frau baut psychisch und physisch ab, und der unreife Eli beginnt fremdzugehen. 

Als sie 19 ist, wird Feldman Mutter eines Sohnes. Fast gleichzeitig schreibt sie sich heimlich bei einem College für ein Literaturstudium ein und trägt außerhalb von Williamsburg moderne Kleidung. Der Abnabelungsprozess von ihrem Mann und der Sekte mündet schließlich darin, dass Feldman ihren Mann nach fünf Jahren Ehe verlässt - rechtzeitig genug, um ihrem Sohn die streng religiöse Erziehung, die im Alter von drei Jahren beginnt, zu ersparen. Sie tut dies in dem Wissen, dass sie für den normalen Arbeitsmarkt ohne einen gültigen Schulabschluss und ohne einen Beruf uninteressant ist. Eine weitere Hürde ist die ihr fremde Welt, in der sie nun leben wird: mit unbekannten Verhaltenscodes und Werten. Mit der Hilfe einer Freundin schafft sie es, mit 23 ihren ersten Verlagsvertrag abzuschließen - für Unorthodox, ein Buch, das sich in den USA zu einem Bestseller entwickeln wird.

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Unorthodox vermittelt nicht nur das schwierige Sektenleben, von dem sich Deborah Feldman eingepfercht gefühlt hat. Es geht in ihrer chronologischen Autobiographie auch um weitere Aspekte: Da ist die prüde Erziehung durch die Großeltern, die dazu führte, dass ihre Enkelin nichts über die Sexualität ihres Körpers wusste, aber auch Feldmans Beobachtungen, wie sich das arme Williamsburg nach und nach durch Gentrifizierung veränderte. Sie berichtet auch, wie herzlos und emotional grausam mit Familienangehörigen umgegangen wird, die dem dauernden Druck nicht standhalten und einen Nervenzusammenbruch erleiden.

Deborah Feldman gibt den Leserinnen und Lesern ihres Buches zum Schluss eine Botschaft mit auf den Weg: Wenn irgendwer versuchen sollte, Dir vorzuschreiben, etwas zu sein, was Du nicht bist, dann hoffe ich, dass auch Du den Mut findest, lautstark dagegen anzugehen.
Sie hatte diesen Mut und hat ihn mit dem Ausschluss aus ihrer Familie bezahlt.
 
 
Mit Überbitten hat Deborah Feldman ihr erstes Buch
fortgesetzt. Sie beschließt, sich gemeinsam mit ihrem Sohn auf die Spuren ihrer Großmutter zu begeben, weil diese der einzige Mensch war, der sich ihr positiv zugewandt hatte. Feldman fühlt sich von Europa angezogen und weiß, dass ihr ihre Zukunft einiges abverlangen wird: Sie hört von Menschen, die einen ähnlichen Weg eingeschlagen und sich verzweifelt das Leben genommen haben. 

Bevor sie sich auf ihre Reise begibt, blickt sie auf ihr zurückgelassenes Leben zurück und stellt fest, wie sehr sich die Mitglieder ihrer Sekte abgeschottet haben. So sehr, dass die Häufung von schweren Erkrankungen auf Inzest zurückzuführen sein könnte. Die Gemeinde reagierte darauf mit einem Programm, mit dem die Erbgesundheit ihrer Mitglieder im heiratsfähigen Alter festgestellt wurde.

Als in der Schule allen die Aufgabe gestellt, einen Familienstammbaum zu erstellen, erfährt Feldman bei ihren Recherchen erstmals, welche Rolle Europa in der Familiengeschichte spielt und dass ihre Mutter aus Deutschland stammte. Die gewonnenen Informationen sollen die Grundlage für ihre Reise durch Europa werden, auf der sie vor allem auf der Suche nach ihrer eigenen Identität ist.

Die junge Frau beginnt ihre Selbst-Suche mit einem Roadtrip durch die USA und lernt viele verschiedene Menschen mit sehr unterschiedlichen Lebenskonzepten kennen. Sie reist mit ihrem Sohn immer wieder in europäische Länder und beschäftigt sich intensiv mit europäischer Literatur. Das Gefühl des langsamen Ankommens wird stärker und sie merkt, dass ihre wahren Wurzeln in Europa sind. Feldman setzt ihre Nachforschungen über ihre Vorfahren, die sie als 14-jährige Schülerin begonnen hatte, fort und stößt auf erstaunliche Erkenntnisse. Ihre Reise endet in Berlin, wo sie sich mit ihrem Kind niederlässt und spürt, dass sich für sie ein Kreis geschlossen hat: Das Jiddische hat große Ähnlichkeit mit der deutschen Sprache und ein Teil ihres Stammbaums besteht aus einer deutschen Verwandtschaft.

Aber das Ankommen in Berlin verläuft nicht ohne Rückschläge: Mit den Stolpersteinen kann sie nichts anfangen und auf einem ehemaligen jüdischen Friedhof ist heute ein Kinderspielplatz. Das schockierendste Erlebnis hat Feldman jedoch bei einem Schwimmbadbesuch: Sie sieht einen Neonazi, dessen Körper mit eindeutigen Tattoos einschließlich einer Skizze des KZ Auschwitz und der Aufschrift "Jedem das Seine" bedeckt ist und der sich unbehelligt dort aufhält. Der Mann ist Kreistagsabgeordneter der NPD und wird wegen seines "Auftritts" angeklagt. Doch Feldman empfindet den Prozess als Show, das Urteil fällt mild aus.

In einem Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung erläutert Deborah Feldman den Titel ihres Buches. "Überbitten" geht auf das jüdische Wort "iberbeten" zurück. Damit ist ein Ritual gemeint, mit dem man sich prophylaktisch auch für die Verfehlungen und Verletzungen entschuldigt, von denen man nichts weiß, die man aber begangen haben könnte. Es dient dazu, Gott gnädig zu stimmen und ist eine Versöhnung, bei der nichts besprochen wird. Mit jedem "Iberbeten" wird ein Teil der Schuld gelöscht.
 

Lesen?

Überbitten ist gleichzeitig Fortsetzung und Ergänzung von Unorthodox. Schon das ist eine Empfehlung. Das Buch bietet jedoch einen noch größeren Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt Feldmans, weshalb beide Titel gelesen werden sollten.

Unorthodox ist als gebundenes Buch beim Secession Verlag erschienen, jedoch nur noch antiquarisch erhältlich. Das beim btb Verlag erschienene Taschenbuch kostet 10 Euro.
Die gebundene Ausgabe von Überbitten ist ebenfalls im Secession Verlag erschienen und kostet 28 Euro. Das im btb Verlag veröffentlichte Taschenbuch ist für 12 Euro erhältlich.