Freitag, 26. März 2021

# 283 - Fritz und Emma - Wie ein Satz alles verändert

1947: Der 20-jährige Fritz Draudt kommt aus der Kriegsgefangenschaft in sein Heimatdorf Oberkirchbach in der Pfalz zurück. Doch von dem, was einmal sein Zuhause war, ist nichts mehr übrig: Bei einem Bombentreffer kamen seine Eltern und sein jüngerer Bruder ums Leben, das Elternhaus fiel zu einem Schutthaufen zusammen. Doch da ist die gleichaltrige Emma Hillese: Sie und Fritz wurden 1927 fast gleichzeitig geboren und sind sich so nahe, dass sie für den Rest ihres Lebens zusammenbleiben wollen. Dieser Einstieg könnte der Beginn eines kitschigen Liebesromans mit jeder Menge Schmalz und Herzeleid sein, aber Barbara Leciejewski lässt es in ihrem Roman Fritz und Emma glücklicherweise nicht soweit kommen.

Emma ist Fritz eine große Stütze. Die Liebe zueinander motiviert ihn, an die Zukunft zu glauben und nährt seine Hoffnung, das Furchtbare, das er im Krieg getan und gesehen hat, irgendwann zu vergessen. Er beginnt, das zerstörte Haus für sie beide wieder aufzubauen und das Paar legt einen Hochzeitstermin fest. Aber dann passiert etwas zwischen ihnen, das ihre intensive Verbindung zerstört. Es scheint keine Möglichkeit zu geben, den tiefen Riss, der sich zwischen ihnen aufgetan hat, zu kitten. Emma verbietet Fritz, jemals wieder Kontakt zu ihr zu haben. Beide gehen getrennte Wege, heiraten und werden Eltern, weichen einander aber in den nächsten Jahrzehnten konsequent aus, obwohl sie weiterhin im selben Dorf leben. 

Zu Ostern 2019 übernimmt der junge Pfarrer Jakob Eichendorf die Oberkirchbacher Gemeinde, seine Frau Marie ist für die Dorfbewohner ab sofort die "Frau Pfarrer". Marie hat nur ihrem Mann zuliebe dem Wechsel in das 820-Seelen-Dorf zugestimmt, sie fühlt sich dort schnell einsam und vom normalen Leben abgehängt. Das wird zunächst auch nicht besser, als sie sich lustlos an den Planungen für die 750-Jahr-Feier des Dorfes beteiligt: Was soll man denn schon planen, wenn das Geld an allen Ecken und Enden fehlt und die Dorfbewohner so lebenslustig und kontaktfreudig sind wie ein Schwarm toter Fische? Doch ihr Interesse ist geweckt, als sie von der Feindschaft zwischen Emma und Fritz hört, die nun schon seit 70 Jahren nicht mehr miteinander gesprochen haben. Was damals vorgefallen ist, weiß allerdings niemand so genau. Ist es möglich, dass man die beiden alten Leute nach so langer Zeit wieder zusammenbringen kann?

Lesen?

Barbara Leciejewski lenkt den Blick auf die Sprachlosigkeit der Generation von Emma und Fritz, die die Menschen oft bis zu ihrem Lebensende beibehalten haben. Die Kriegserlebnisse der Soldaten und auch der Zivilisten haben, wie man heute weiß, auch für die nächsten Generationen Folgen.

Die Entwicklung von Oberkirchbach von einem Ort des Zusammenhalts zu einer fast nicht mehr existierenden Gemeinschaft steht stellvertretend für viele andere Dörfer, die heute von vielen neu zugezogenen Menschen nur deshalb bewohnt werden, weil das Bauland dort bezahlbar ist. Der Roman stellt die Frage, ob sich daran etwas ändern und sich eine Dorfgemeinschaft wieder herstellen lässt, und gibt darauf eine Antwort.

Fritz und Emma ist ein sehr berührendes Buch, das für mich vor allem eine Botschaft hat: Hört auf euer Herz und erstickt eure Gefühle nicht in einem sturen Schweigen. Das Sprichwort "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold" mag hier und da ganz passend sein, aber sicher nicht allgemeingültig.

Fritz und Emma ist im Ullstein Verlag erschienen und kostet als Klappenbroschur-Ausgabe 14,99 Euro sowie als E-Book 7,99 Euro.


Freitag, 19. März 2021

# 282 - Grüner wird's heute nicht mehr

Warum widmet man sich ausgerechnet der Farbe Grün?
Darauf gibt der Autor des Buches Grün, Prof. em. Hermann J. Roth, zwar keine Antwort, aber wenn man sich auf seiner Homepage umsieht, erkennt man schnell, dass ihm neben seinem Fachgebiet, der Pharmazie, auch die Kunst wichtig ist. Roth sieht in der Wissenschaft auch immer die Ästhetik.

Sein Buch trägt den Untertitel Das Buch zur Farbe. Dieses Konzept wird sowohl inhaltlich verfolgt als auch ästhetisch konsequent durchgehalten. Nicht nur der Einband ist in Grün gehalten, sondern ebenso der Schnitt, die Seitenränder sowie Überschriften, Seitenzahlen und Verweise.

Roth durchstreift praktisch alle Bereiche des menschlichen Lebens, in denen die Farbe, mit der gemeinhin Leben und Hoffnung assoziiert wird, vorkommt: In sechzehn Kapiteln erläutert er nicht nur die Herkunft des Wortes, sondern sieht sich in den Naturwissenschaften, der Medizin und Pharmazie, der Politik oder der Literatur um. Es ist tatsächlich erstaunlich, wie oft und wofür der Begriff 'Grün' verwendet wird. Da geht es um den Grünen Strahl (ein Phänomen, das beim Sonnenuntergang entsteht), das Grünkreuz (das nichts Positives an sich hat), die Grünen Drogen (Drogen, die das Wort 'Grün' in ihrer Bezeichnung führen, wie z. B. Grünes Pflaster) oder die Grüne Hochzeit. Im letzten Kapitel 'Grüner Omnibus' finden sich Begriffe, die sich thematisch nicht einem der vorangegangenen Kapitel zuordnen lassen. Dazu gehören beispielsweise das 'feindliche Grün' aus dem Straßenverkehr oder die Grüne Fee als poetische Bezeichnung für Absinth.

Jedes Kapitel ist mit Fotos oder Zeichnungen von (überwiegend) grünen Tieren, Menschen, Gebäuden oder Gegenständen illustriert. Nach der letzten Seite fragt man sich, ob sich Roth wohl noch weiteren Farben widmen wird. Grün ist ein sehr interessantes und unterhaltsames Buch. Leseempfehlung!

Grün ist 2021 im Dudenverlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 22 Euro.

Freitag, 12. März 2021

# 281 - Auftakt einer Krimireihe in Deutschlands Norden

Mit ihrem Krimi Nordwesttod startet Svea Jensen eine neue Krimireihe um den Leiter der Polizeidienststelle St. Peter-Ording Hendrik Norberg und die bayerische LKA-Beamtin Anna Wagner. 

Anna Wagner hat sich beim LKA in München mit Vermisstenfällen beschäftigt. Als jemand gesucht wird, der in Kiel eine ähnliche Stelle aufbauen soll, nimmt sie die Gelegenheit wahr: Der Scheidungskrieg mit ihrem Ex-Mann lässt die Aussicht auf räumlichen Abstand verlockend erscheinen. Doch sie ist kaum in Kiel angekommen, als sie wegen eines Vermisstenfalls in St. Peter-Ording sofort dorthin geschickt wird. Einige Tage zuvor ist die 32-jährige Tochter einer wohlhabenden Hotelbetreiberin vermisst gemeldet worden.

Vor Ort trifft Anna auf den Polizeibeamten Hendrik Norberg. Der verwitwete Vater von zwei Söhnen hat wegen seiner Kinder auf eine Beförderung zum Leiter einer Mordkommission verzichtet, um nach dem Tod ihrer Mutter für sie da sein zu können. Norberg befindet sich bei Annas Ankunft in einem psychisch angeschlagenen Zustand: Zu der Trauer um seine Frau kommt die Sorge um die beiden Söhne sowie die Frustration um die verpasste berufliche Chance. Seine Eingewöhnung als Dienststellenleiter in dem Urlaubsort verläuft entsprechend holprig, die Zusammenarbeit mit Anna beginnt in einer distanzierten Atmosphäre.

Die Ermittlungen um den Vermisstenfall ergeben, dass die Frau zu ihrer Mutter und ihrer Schwester kein gutes Verhältnis hatte. Das lag vor allem an den Plänen der Mutter, im Ort weitere Hotelneubauten zu errichten. Die Vermisste war seit Jahren in der Seehundstation in Friedrichskoog beschäftigt und betrachtete die Expansionspläne als aggressiven Eingriff in die Natur. Um weitere Hotelneubauten an der Nordseeküste zu verhindern, hatte sich die junge Frau einer Gruppe von Umweltschützern angeschlossen. Liegt darin der Grund für ihr Verschwinden? Oder hatte sie vielleicht sogar Feinde?

Und dann ist da noch ein weiterer Fall, den zwei Norberg unterstellte Beamte wieder aufgreifen wollen: Etwa zeitgleich zum Vermisstenfall hat sich auf einer wenig befahrenen Straße am Ortsrand ein Unfall ereignet, bei dem ein junger Mann und ein Kind getötet wurden. Die beiden waren auf einem Mofa unterwegs gewesen und offenbar von einem Autofahrer überfahren worden, der sich anschließend nicht um sie gekümmert hatte. Die Nachforschungen der zwei Polizisten bringen auch für die Suche nach der verschwundenen Frau eine erstaunliche Wende.

Lesen?

Nordwesttod ist ein Cosy-Krimi, der gute Unterhaltung bietet. Wie es einem ersten Teil einer Reihe oft anhaftet, werden die wichtigsten Personen sehr ausführlich vorgestellt und beschrieben, was etwas zulasten der eigentlichen Falllösung geht. Auch der Lokalkolorit kommt nicht zu kurz, sodass man merkt, wie sehr der Autorin Norddeutschland am Herzen liegt.

Nordwesttod ist 2021 im Verlag Harper Collins erschienen und kostet als Taschenbuch 12 Euro sowie als E-Book 8,99 Euro.

Nachtrag: Svea Jensen ist das Pseudonym von Angelika Waitschies. Sie schreibt auch unter ihrem zweiten Pseudonym Angelika Svensson. Wer mehr über sie wissen will, wird auf ihrer Homepage fündig.

Freitag, 5. März 2021

# 280 - Es ist alles so optimal hier

Theresa Hannig hat mit ihrem Debütroman Die Optimierer einen Blick in unsere Zukunft geworfen. 

Wir sind im Jahr 2052 und Deutschland ist kaum noch wiederzuerkennen: Die Europäische Union gibt es seit 2031 nicht mehr, Deutschland ist nun Mitglied der BEU, der 'Bundesrepublik Europa'. Zur BEU gehören außerdem Norwegen, Polen, Dänemark, Östereich, Frankreich, die Benelux-Länder sowie die Schweiz. Um die BEU wurde ein Grenzzaun gezogen, um die Flüchtlingsströme - insbesondere aus dem armen Italien - draußen zu halten. Das neu eingeführte Gesellschaftssystem wird als 'Optimalwohlökonomie' bezeichnet, und mit technischen Neuerungen, die angeblich zum Wohl und der Bequemlichkeit der Menschen eingeführt wurden, werden die Bürger nicht nur überwacht, sondern bis in den Schlaf hinein manipuliert. Dagegen ist 1984 von Aldous Huxley Kinderkram.

Im Mittelpunkt steht Samson Freitag. Er ist Anfang dreißig, lebt mit seiner Freundin in München und ist erfolgreicher Lebensberater. Seine Arbeit besteht darin, Bürger aufzusuchen und anhand eines standardisierten Kriterienkatalogs herauszufinden, für welche Tätigkeit an welchem Arbeitsplatz sie sich am besten eignen. Wer sich von ihm beraten lässt, muss seiner Empfehlung für mindestens zehn Jahre Folge leisten, bevor ein erneuter Termin bei der Lebensberatung möglich ist. Die übliche Grußformel "Jeder an seinem Platz!" passt da genau zum System.

Freitag ist ein Vorzeigebürger, der alles richtig machen will und die neue Gesellschaftsordnung voll und ganz unterstützt. Auf seine Eltern, die der Optimalwohlökonomie sehr skeptisch gegenüberstehen und sich immer wieder ihre kleinen Schlupflöcher suchen, blickt er mit einer Mischung aus Unverständnis und Sorge. Warum wollen sie nicht verstehen, dass die Regierung das Beste für alle will?

Neben weit verzweigten Überwachungsstrukturen zeichnet sich das Leben durch eine Reihe von Vorgaben aus. Der Verzehr von echtem Fleisch ist streng verboten; der Internetzugang ist zensiert; ein Privatauto ist nur wenigen verdienten Bürgern - darunter auch Freitag - vorbehalten, alle anderen nutzen Bahnen, Segways, Fahrräder oder sog. Kommunalautos, die sich selbst steuern; immer mehr humanoide Roboter, die kaum noch von echten Menschen zu unterscheiden sind, übernehmen im öffentlichen und privaten Bereich Aufgaben; die Partnersuche wird mithilfe der Volksdatenbank abgewickelt; klassische Schreibutensilien wie Notizbücher oder Füllfederhalter sind nostalgische Relikte aus einer fernen Vergangenheit. 

Freitags ausgeprägtes bürokratisches Pflichtgefühl hat dazu geführt, dass er fast 1.000 Sozialpunkte auf seinem persönlichen Bürgerkonto hat. Er hat sie sich durch Wohltaten und das obsessive Schreiben von Korrekturvermerken verdient. Sobald er die 1.000-Punkte-Marke erreicht hat, kann er mit einer Beförderung rechnen und auf weitere Privilegien hoffen. Freitag sieht eine glänzende Zukunft vor sich.

Aber dann kommt der Tag, an dem sich sein Leben von Grund auf ändern soll. Freitag beendet die Lebensberatung einer jungen Frau damit, dass er sie zur Kontemplation vorsieht. Damit bekommt sie bis zum nächsten Beratungstermin ein bedingungsloses Grundeinkommen, darf aber keinem Beruf nachgehen. Freitag hält sich bei seiner Entscheidung strikt an die Vorgaben und ist felsenfest davon überzeugt, auch hier richtig gehandelt zu haben. Doch schon zwei Tage später ist die Frau tot: Aus Verzweiflung über ihr Schicksal hat sie sich das Leben genommen. Für seine Vorgesetzten bei der Lebensberatung ist klar, dass Freitags Beratung fehlerhaft war und er für den Suizid verantwortlich ist. Er wird vom Dienst suspendiert. 

Der Verlust des angesehenen Berufs ist der Beginn einer unheilvollen Entwicklung. Freitags Freundin trennt sich von ihm, bei einem Besuch bei seinen Eltern servieren ihm diese einen echten Braten, um ihm eine Freude zu machen, und als ob das nicht schon reichen würde, schreibt Freitag einen Korrekturvermerk, in dem er einen bekannten Politiker eines Betrugs beschuldigt. Seine Sozialpunkte schmelzen zusammen wie Schnee im Sonnenlicht und binnen drei Tagen nach der Beratung der jungen Frau hat er den Status eines sog. Piretisten - eines Menschen, der in der sozialen Hierarchie auf der untersten Stufe steht und dem einige Bürgerrechte aberkannt wurden.

Lesen?

Die Optimierer zeichnet eine Welt, die von Technik dominiert wird und die Bürger in vorgegebene Handlungs- und Zukunftsschablonen zwängt. Absolut angepasstes Wohlverhalten wird belohnt, Fehler oder mangelnder Einsatz werden sanktioniert - dieses Prinzip gilt bereits heute in China. Das Land kann jedoch hinsichtlich der technischen Überwachungsmöglichkeiten bei Theresa Hannig Nachhilfe nehmen, die beschreibt, was hier tatsächlich denkbar und möglich wäre. 

Warum ein solches System, in dem individuelle Freiheiten nichts mehr gelten, von den meisten Menschen hingenommen wird, erklärt Hannig damit, dass diese mit einer bescheidenen Karriere, einem schönen Urlaub und ein bisschen Wohlstand zufrieden sind, das Wohl des Staates ihnen aber gleichgültig ist.

Hannig greift Themen auf, die seit Jahren diskutiert werden, und spinnt den Faden weiter: Klimawandel, Flüchtlinge, Wohlstand und Wirtschaftswachstum hängen miteinander zusammen. Sind politische Systeme wie die Optimalwohlökonomie Möglichkeiten, diese Probleme zu überwinden? Und führt eine vollständige Video- und Audioüberwachung der Bevölkerung zu mehr Sicherheit?

Samson Freitags Weg als sozialer Aussätziger nimmt einen Verlauf, den er sich wenige Tage zuvor nicht hätte vorstellen könnte. Das Ende des Romans ist konsequent, aber bis kurz vor dem Schluss dennoch überraschend. Die Optimierer ist ein spannend geschriebenes Buch, das uns nachdenklich machen sollte.

Die Optimierer ist 2017 im Bastei Lübbe Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 10 Euro sowie als E-Book 6,99 Euro.