Sonntag, 29. Mai 2022

# 349 - Gier - Wo ist die Grenze?

Vor einigen Wochen hatte ich hier bereits ein Buch
vorgestellt, das in einer neuen Reihe des Hirzel Verlags erschienen ist, die sich mit den Todsünden beschäftigt. Die Journalistin und Autorin Barbara Streidl hat sich in ihrem Essay mit der Gier auseinandergesetzt und verrät im Untertitel, worum es ihr geht: Wenn genug nicht genug ist zielt auf die Probleme, die dann entstehen, wenn Menschen - salopp gesagt - den Hals nicht voll kriegen können.

Ist die Gier eine Sünde, die für einen bestimmten Menschenschlag typisch ist oder kennen wir das maßlose Verhalten in allen Bevölkerungsgruppen? Wer sich und sein Verhalten kritisch hinterfragt, wird feststellen, dass er selbst ebenfalls hier und da zur Gier neigt. Sei es das Super-Sonderangebot an der Fleischtheke oder die Billigkleidung aus Fernost: Menschen, die solche Güter kaufen, nehmen hin, dass Tiere unter unwürdigsten Bedingungen leben und getötet werden und Arbeiterinnen und Arbeiter unter Verhältnissen Geld verdienen, die man seinem ärgsten Feind nicht zumuten würde. Aber viele Menschen verhalten sich dabei wie dreijährige Kinder: Was ich nicht sehe, existiert nicht. Und greifen zu.

Auch durch die Berichterstattung der Medien kann man den Eindruck gewinnen, dass das Heil in immer mehr Wachstum liegt: Steigen Bruttosozialprodukt und Bruttoinlandsprodukt, freuen sich Unternehmen und Wirtschaftsforschungsinstitute; zeigt der Trend abwärts, senken sie unheilvoll den Daumen. Das alles geschieht vor dem Hintergrund einer Warnung, die schon vor 50 Jahren von renommierten Wissenschatlern ausgesprochen wurde, jedoch in der Kakophonie der vielen anderen Nachrichten unterzugehen scheint: In seinem Bericht "Die Grenzen des Wachstums" zeigt der Club of Rome sehr deutlich auf, dass das Mantra des immerwährenden Wirtschaftswachstums aus verschiedenen Gründen nicht nur Unfug ist, sondern unser Leben schlechter macht.

Streidl bewertet auch die auf der Gier beruhenden Skandale der letzten Jahrzehnte: Da sind beispielsweise die österreichischen Winzer, die ihren Wein mit Glykol gestreckt hatten, die fortschreitende Gentrifizierung in den Städten oder die Hedgefonds, die Firmen nur aufkaufen, um sie auszuschlachten. Hinter allem steckt die grundsätzliche Haltung, dass es ein 'Genug' nicht gibt. Das 'Mehr' ist das, was zählt; der Verzicht ist nicht populär.

Nachdenklich macht ein Kapitel, das mit "Wie viele Sklaven halten Sie?" betitelt ist. Es geht um das System, das die Menschen in Gewinner und Verlierer des globalen Kapitalismus' einteilt: Auf der einen Seite sind die, die sich am (günstigen) Konsum von Technikartikeln, Flugreisen oder Billigkleidung erfreuen - auf der anderen diejenigen, die keine andere Wahl haben, als dieses System zu mickrigen Löhnen am Laufen zu halten. Doch was steckt hinter diesem ständigen Konsum? Streidl zitiert hier die Philosophin Caroline Krüger, die in unserem Konsumverhalten eine Eskalation von Wünschen und Erwartungen sieht: Es mangelt am Innehalten, um sich zu fragen: Habe ich nicht längst genug?

Lesen?

Gier zeigt deutlich auf, wo die menschliche Maßlosigkeit anzutreffen ist und was sie anrichtet. Wer das Buch gelesen hat, kommt nicht mehr an der Frage vorbei, ob das eigene Konsumverhalten von Notwendigkeit oder doch eher von Überfluss geprägt ist. Kaufen wir etwas, weil wir es tatsächlich brauchen, oder weil es z. B. in unserem Freundeskreis "angesagt" ist oder wir mit dem Kauf eine innere Leere füllen? Mit etwas Selbstkritik lässt sich das wahrscheinlich beantworten.

Eine Stelle gab es allerdings, die mich irritiert hat: Streidl sieht im Lebenswandel vieler Rockstars eine ausgeprägte Gier nach Aufmerksamkeit, Erfolg und Drogen und bezieht sich auf den sog. "Club 27". Damit sind bekannte Musikerinnen und Musiker gemeint, die schon mit 27 Jahren an den Folgen ihres ausschweifenden Lebensstils gestorben sind. Dazu gehören u. a. Amy Winehouse, Jimi Hendrix und Janis Joplin. Alle waren drogensüchtig, sodass mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass sie auch psychisch krank waren. Unter diesen Vorzeichen fällt es mir schwer, das Verhalten von kranken Menschen als Gier zu bezeichnen.

Gier ist 2022 im Hirzel Verlag erschienen und kostet als Klappenbroschur 15 Euro sowie als E-Book 13,90 Euro.


Freitag, 20. Mai 2022

# 348 - Finnland ist der Nabel der Welt!

Der Bestsellerautor Tuomas Kyrö gilt in seiner Heimat
als Garant für humorvolle und etwas abgedrehte Bücher. Sein Roman Kunkku ist da keine Ausnahme.

"Kunkku" bedeutet auf Deutsch "Der König", und genau der steht im Mittelpunkt des Romans: Kalle XIV. Penttinen von Finnland. Das Land im hohen Norden Europas gilt in der ganzen Welt als vorbildlich und einflussreich, in vielen Bereichen hat es die Nase vorn.

Das Problem ist nur: Der Vater des 1947 geborenen Kalle ist früh verstorben, sodass der lebenslustige Prinz viel eher als ihm lieb ist zum König gekrönt wird. Und das bedeutet: Alles, was ihm im Leben am besten gefällt - Frauen mit großen Brüsten, Autos und das Tennisspiel - findet ab sofort am besten gar nicht mehr statt. Oder so, dass der Hofmarschall die schlimmsten Ausschweifungen vertuschen kann.

Der König will im Grunde nur die schönen Seiten des Königslebens auskosten - eben die oben genannten. Ein großes Problem ist sein Charakter: Er ist zwar ein erwachsener Mann, hat aber das Gemüt eines pubertierenden 15-Jährigen. In seinem Gehirn geht es manchmal drunter und drüber, zu oft trifft er die falschen Entscheidungen.

Als er die estnische Schauspielerin Sofi kennenlernt, wendet sich zunächst alles zum Guten. Die Beziehung lässt sich gut an, doch dann merkt Sofi, dass ihr Kalles Gesellschaft zu eintönig ist. Noch bevor sie sich von ihm trennt, wird sie schwanger. Kalles starker Samen hat alle Hindernisse - aka Verhütung - überwunden. Und da das ungeborene Kind ja nicht irgendein Kind, sondern die spätere Thronfolgerin oder der Thronfolger wird, kommt nur eine Hochzeit der beiden jungen Leute infrage.

Der Roman erzählt abwechselnd das chaotische Leben des finnischen Königs und das von Pena, einem älteren finnischen Sozialhilfeempfänger, dem die Frau davongelaufen ist. Schnell wird deutlich, dass es um zwei Lebensabschnitte von ein und derselben Person geht: Die Regentschaft von Kalle XIV. Penttinen von Finnland hat ein abruptes Ende genommen. Die Naivität des Königs, sein Hang zum Fremdgehen und seine Sprunghaftigkeit haben das einst großartige finnische Königshaus zum Einsturz gebracht.

Lesen?

Kunkku ist eine humorvolle Gesellschaftssatire um einen König, dessen Leben "zufällig" Ähnlichkeit mit dem eines tatsächlich existierenden nordeuropäischen Monarchen hat, der ein Jahr früher als Kyrös fiktive Figur in einem Land westlich von Finnland zur Welt kam. Mit leichter Hand wird nebenbei die Geschichte des 20. Jahrhunderts neu geschrieben: Die Rote Armee Fraktion wird Ende der 1970-er Jahre zur stärksten Fraktion des schwedischen Parlaments und läutet den Niedergang des Landes bis zur völligen Bedeutungslosigkeit ein. 
Finnland entwickelt sich seit den 1950-er Jahren zu einem multikulturellen Staat, der mit Gegenden wie Chinatown in Kuopio oder Klein-Ghana in Vantaa Touristenströme anzieht. In der Film- und Musikbranche ist das Land international führend.
Pünktlich zur Jahrtausendwende rücken Europa und Asien näher zusammen und gründen die Euro-Asiatische Union. Die Gründungsmitglieder sind Frankreich, Deutschland, Japan, China und das vereinigte (!) Korea. Durch die enge kulturelle und wirtschaftliche Verflechtung sollen Kriege und Handelsstreitigkeiten verhindert werden. 

Und dann ist da auch noch John F. Kennedy, der für Tuomas Kyrö noch lange nicht tot ist, sondern Kalle XIV. immer wieder beratend zur Seite steht. Gute Aussichten, oder?

Kunkku ist ein Lesetipp für alle, die etwas für schrägen Humor und absurde Geschichten übrig haben. Das Buch ist 2014 bei Hoffmann & Campe erschienen und kostet 25 Euro. Mir lag die Paperback-Ausgabe aus dem Verlag Bastei Lübbe vor, die 2016 erschienen und nur noch antiquarisch zu bekommen ist.


Samstag, 14. Mai 2022

# 347 - Wie geht's weiter? 50 Jahre nach dem Bericht "Die Grenzen des Wachstums" des Club of Rome

Der Journalist Franz Alt und der Wissenschaftler Ernst
Ulrich von Weizsäcker engagieren sich seit vielen Jahren für den Umwelt- und Klimaschutz. Mit Der Planet ist geplündert melden sie sich erneut zu Wort.

Es ist allerdings keineswegs so, dass die beiden Experten das Buch gemeinsam geschrieben hätten. Ernst Ulrich von Weizsäcker hat zu den 200 Seiten lediglich 14 beigesteuert, in denen er erklärt, worum es sich beim Club of Rome, dessen Co-Präsident er einige Jahre war, handelt und inwieweit die Prognosen dieses Expertengremiums eingetroffen sind. Sie wurden in einer Studie zusammengefasst, die 1972 unter dem Titel "Die Grenzen des Wachstums, Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit" veröffentlicht wurden. Es handelte sich dabei um einen Ausblick, wie sich die Weltwirtschaft unter Berücksichtigung verschiedener Szenarien entwickeln wird. "Die Grenzen des Wachstums" erregte weltweite Aufmerksamkeit und wurde ein Jahr nach der Veröffentlichung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.

Franz Alts Schwerpunkt liegt ganz klar auf der Nutzung der Sonnenenergie als unerschöpfliche Ressource. Genau wie den Wind gibt es das Sonnenlicht im Überfluss. Alt erteilt sowohl der Kernkraft als auch der Kernfusion eine Absage und ist ein großer Fan von nachhaltigen Energieprojekten, an denen die Bürgerinnen und Bürger beteiligt sind.
Er beklagt die sich verschärfende weltweite Knappheit von Wasser und dessen Kommerzialisierung, kritisiert das Wachsen der Müllberge, begründet die Notwendigkeit einer Verkehrswende und dringt auf einen wirksameren Tierschutz. Die benannten Probleme und Missstände sind nicht neu und werden seit Langem diskutiert, sie aber so komprimiert präsentiert zu bekommen, sorgt für eine besondere Eindringlichkeit. 

Allerdings geht es Alt nicht nur darum, anklagend den Finger zu heben: Er zeigt Wege auf, die wir beschreiten müssen, um unseren Planeten zu retten. Ein Beispiel ist die Kreislaufwirtschaft (Cradle-to-Cradle-Prinzip), die das Ziel hat, dass keine Materialien verloren gehen und nach dem Nutzungsende eines Produkts weiter- oder wiederverwendet werden können.

Franz Alt streift auch das Thema Aufrüstung und Krieg. Er spricht sich klar gegen ein Wettrüsten aus und baut auf eine Verständigung unter den Staaten, die auf gegenseitigem Vertrauen beruht. Allerdings wurden die letzten Arbeiten an Der Planet ist geplündert bereits im Januar 2022, also vor dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine, fertiggestellt. In einem Interview, das Alt am 1. März 2022 mit dem WDR geführt hat, räumt er jedoch ein, dass sich seine Haltung hierzu angesichts dieser Ereignisse verändert hat.

Das Buch ist geprägt von Alts Nähe zum christlichen Glauben und seiner Affinität zur Spiritualität. Vielleicht ist dies seine Kraftquelle, die ihn dazu befähigt hat, über Jahrzehnte hinweg sein Ziel nicht aus den Augen zu verlieren und immer wieder an verantwortliche Personen in Politik und Wirtschaft zu appellieren, sich für die Rettung der Erde und damit der Menschheit einzusetzen. Die Botschaft des Club of Rome ist 50 Jahre alt. Weitere 50 Jahre haben wir nicht mehr, um die Zukunft unserer Kinder und Enkel zu retten.

Lesen?

Der Planet ist geplündert ist ein Parcours durch die drängendsten Themen unserer Zeit. Wie groß die Dringlichkeit ist zu handeln, wird überdeutlich. Schon deshalb ist das Buch zu empfehlen. Ich hätte mir jedoch ein Quellenverzeichnis gewünscht, um einzelne Angaben besser nachvollziehen oder mehr darüber erfahren zu können. Das angefügte Literaturverzeichnis ist interessant, aber kein Ersatz.

Der Planet ist geplündert ist im März 2022 im Hirzel Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 22 Euro sowie als Hörbuch 19,99 Euro.

Nachtrag: Das Buch hat einen aufmerksameren Lektor verdient, dem die Doppelung eines Absatzes aufgefallen wäre.

Samstag, 7. Mai 2022

# 346 - Psychothriller, der mit den Ängsten vor der Digitalisierung spielt

Jo Ferguson ist 33, freie Journalistin, geschieden und
pleite. Zum Glück hilft ihr ihre wohlhabende beste Freundin Tabitha aus der Patsche und lässt sie umsonst in ihrer Wohnung im angesagten Londoner Viertel Camden wohnen. Tabitha ist sehr viel beruflich unterwegs, sodass sich die beiden Frauen nicht stören. Wegen ihrer häufigen Abwesenheit hat Tabitha ihr Zuhause mit reichlich digitaler Technik ausgestattet, um ungebetenen Besuchern keine Chance zu geben. Das Smart-Home-System entspricht dem aktuellen Stand der Technik, lässt sich selbstverständlich aus der Ferne steuern und ist so lernfähig, dass der Assistent "Electra" sich schnell auf die Menschen, die regelmäßig mit ihm kommunizieren, einstellen kann. Ein Traum?

In seinem Psychothriller Die Stimme zeigt der britische Bestsellerautor S. K. Tremayne, wie sich die Bestandteile eines digitalen Haushalts praktisch verselbständigen. Jo, die so gut wie immer allein in der Wohnung ist, wird von Electra unvermittelt auf ein Ereignis angesprochen, das etliche Jahre zurückliegt: "Ich weiß, was du getan hast. Ich kenne dein Geheimnis. Ich weiß, was du mit dem Jungen gemacht hast. Wie seine Augen weggerutscht sind. Ich weiß alles." Jos Erinnerung an diesen Tag, den sie mit Tabitha auf einem Festival verbracht hat, sind furchtbar. So furchtbar, dass die beiden Freundinnen sich damals versprachen, niemandem von den Ereignissen zu erzählen. Woher also weiß Electra davon?

Schon bald merkt Jo, dass dies erst der Anfang einer Entwicklung ist, in deren Verlauf sich ihre Existenz in ihre Einzelteile auflöst. Wenn sie bislang dachte, am Tiefpunkt ihres Lebens angekommen zu sein, wird sie nun eines Besseren belehrt. Nicht nur das Smart-Home-System scheint sich gegen sie verschworen zu haben, sondern sogar Jos Social-Media-Account führt ein Eigenleben und beleidigt und erniedrigt ausgerechnet die Menschen, die ihr am wichtigsten sind. Auch von ihrem Mail-Konto werden Nachrichten verschickt, die darauf abzielen, ihren Angehörigen und Freunden zu schaden und Jo als ein Mensch mit einer Persönlichkeitsstörung aussehen zu lassen. Doch sie kann sich nicht erinnern, all diese Posts und Mails geschrieben und abgesendet zu haben.
Um sie herum wird es immer einsamer.

Jo fühlt, dass sie immer öfter nicht weiß, was ihrer Fantasie entspringt und was real ist. Wird sie verrückt wie ihr Vater, der sich am Ende das Leben genommen hat? Wäre der Tod nicht auch für sie der Weg, diesem Wahnsinn zu entkommen? Oder gibt es einen Menschen, der sie so sehr hasst, dass er sie auf diese perfide Weise vernichten will?

Lesen?

Die Stimme ist ein spannend inszenierter Thriller, der Fans der häuslichen Digitalisierung nachdenklich machen kann. Die Möglichkeiten, sein Leben auf diese Weise unterstützen zu lassen, bergen Gefahren, die viele Nutzer gern ausblenden - weil die Vorteile den Alltag so bequem machen. 

Das Buch ist spannend bis zum Schluss, und Jo erfährt Dinge über einen geliebten Menschen, die sie vielleicht lieber nicht gewusst hätte.

Die Stimme ist 2020 bei Droemer Knaur erschienen und kostet als Paperback 16,99 Euro sowie als E-Book 14,99 Euro.