Montag, 29. April 2024

# 434 - Die Erinnerungen von Deutschlands dienstältestem Parlametarier

Wolfgang Schäuble gehörte 51 Jahre dem Deutschen
Bundestag an. Er war 19 Jahre Bundesminister in den Regierungen Kohl und Merkel in verschiedenen Ministerien, verhandelte die deutsche Wiedervereinigung, ist vier Jahre Bundestagspräsident gewesen und hatte in seiner Partei, der CDU, unterschiedliche Ämter inne. Als Schäuble 1972 im Alter von 30 Jahren zum ersten Mal als Abgeordneter im Bundestag Platz nahm, saß ganz in seiner Nähe der "Vater des Wirtschaftswunders" Ludwig Erhard.


Wer so einen Werdegang hat, hat eine Menge zu erzählen. Und das tut Wolfgang Schäuble in seinem letzten Buch Erinnerungen - Mein Leben in der Politik. Auf rd. 620 Seiten (zuzügl. einer editorischen Notiz und eines mehrteiligen Anhangs) nimmt er kein Blatt vor den Mund und nutzt diese Gelegenheit, seine Sicht auf die deutsche Geschichte von den 1970-er Jahren bis heute deutlich zu machen. Seit 2006 litt er an einer Krebserkrankung, die ihn im Laufe der Zeit in die Knie zwang. Das Schreiben seiner Erinnerungen mithilfe der Historiker Hilmar Sack und Jens Hacke war ein Wettrennen mit der Zeit, das er knapp gewann: Die drei Männer trafen sich am 14. Dezember 2023 zum letzten Mal im Schäubles Abgeordnetenbüro, um einige Feinheiten des Buches zu besprechen. Nur zwölf Tage später ist Wolfgang Schäuble verstorben.

Freundschaften und Abneigungen im Politikbetrieb

Schäuble beschreibt sein Verhältnis zu Helmut Kohl und die Art ihres Umgangs miteinander. Dabei gab er sich keinen Illusionen hin: Er bewundert die humanistische Bildung des Kanzlers und dessen schnelle Auffassungsgabe. Kohls wiederholten öffentlichen Äußerungen, Wolfgang Schäuble werde sein Nachfolger als Bundeskanzler sein, maß er keine größere Bedeutung bei. Die Rolle des ewigen Kronprinzen, ähnlich der des heutigen britischen Königs Charles III., lag ihm nicht.
Die Parteispendenaffäre hat das Verhältnis der beiden Politiker im Jahr 2000 allerdings derart erschüttert, dass es nicht mehr zu kitten war. Kohl war nicht zu bewegen, die Namen der Spender zu nennen. Dass er damit seine Partei durch einen Rechtsbruch in eine problematische Situation brachte, spielte für den Parteipatriarchen keine Rolle. Schäuble wollte sich nicht an diesem Gebaren beteiligen und trat von seinen Ämtern als Partei- und Fraktionsvorsitzender der CDU zurück. Die beiden einstmals Vertrauten haben nie mehr miteinander gesprochen.

Natürlich geht es auch um das Verhältnis zwischen Wolfgang Schäuble und Angela Merkel. Er bezeichnet sie als "Glücksfall". Schäuble hat die unter seiner Zeit als CDU-Parteichef zur Generalsekretärin gewählte spätere Bundeskanzlerin immer menschlich gemocht, aber "Merkels Führungsstil hat meine Loyalität strapaziert, auch wenn ich jedes Ansinnen, ihr in den Rücken zu fallen, kategorisch abgelehnt habe."
Loyalität: Diese Eigenschaft prägte neben Ehrgeiz, Leistungsbereitschaft, Erfolgswillen und Bodenständigkeit das Handeln des Politikers Wolfgang Schäuble. Als Schäuble 2015, in der Hochzeit der Flüchtlingskrise, vom ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber aufgefordert wurde, sich an einem Putsch gegen Merkel zu beteiligen, lehnte er das Ansinnen ab. 
Sowohl Helmut Kohl als auch Angela Merkel waren 16 Jahre Bundeskanzler bzw. -kanzlerin. Schäuble deutet an, dass die langen Amtszeiten in ihren letzten Phasen bei beiden gewisse Abnutzungserscheinungen mit sich gebracht haben. Ob diese Einschätzung die Empfehlung einer Amtszeitbegrenzung beinhaltet, bleibt offen. Man wird jedoch den Eindruck nicht los, dass Schäuble einen großen Anteil an diesen langen Amtszeiten hatte.

Auffallend ist, dass Schäuble seine Kolleginnen und Kollegen in der Politik nicht nach ihrer Parteizugehörigkeit beurteilte. Über Abgeordnete der SPD oder den Grünen urteilte er oft positiv und wertschätzend. 

International

Wolfgang Schäuble bezeichnete sich selbst als Atlantiker. Die politische Nähe zu den USA war ihm immer wichtig.
Als mindestens ebenso wichtig hat er die Europäische Union sowohl für Deutschland als auch Europa eingeschätzt. In seine Amtszeit als Bundesfinanzminister fiel der Beginn der Eurokrise, in der mehrere EU-Staaten vor der Pleite gerettet werden mussten. Den sich damals abspielenden Finanz- und Wirtschaftskrimi erläutert Schäuble so ausführlich wie nötig und gut nachvollziehbar. Sein Urteil über die Banken fällt dabei wenig schmeichelhaft aus: In einer Passage heißt es "man dürfe nicht zu lange Bundesfinanzminister sein, wenn man nicht als grundsätzlicher Kapitalismuskritiker enden wolle". Wenn es um seine Beobachtung geht, wie sich das Verantwortungsbewusstsein führender Manager im Laufe der Zeit verändert hat, wird Schäuble deutlich: "Das früher ehrbare Wort 'Bankier' war längst durch 'Banker' ersetzt worden. Und das entspricht in etwa dem Weg zwischen Alfred Herrhausen und Josef Ackermann." Im selben Kontext erwähnt er, dass die Bankenrettung 30 Milliarden Euro gekostet hat, davon entfielen 18 Milliarden Euro auf die Commerzbank. Schäuble ärgert sich deutlich darüber, "wie hochbezahlte Manager [...] in einer mir zunehmend widerlich erscheinenden Weise am eigenen finanziellen Vorteil interessiert waren. Ich erinnere mich daran, wie der Vorstandsvorsitzende eines Instituts [...] sehr bald die politisch durchgesetzte Deckelung der Managergehälter zu ändern versuchte. Eine halbe Million war nicht genug - der Vorstand bewilligte sich selbst bereits 2012 wieder über 1,3 Millionen. [...] Anstand ist offenbar auch in diesen Kreisen zu einer knappen Ressource geworden." Wolfgang Schäuble hat den Namen des Managers, der ihn mit seiner Gier derart in Rage gebracht hatte, in seinem Buch nicht genannt. Wer sich jedoch an die Nachrichten aus dieser Zeit erinnert, weiß, dass es sich um den damaligen Vorstandsvorsitzenden der Commerzbank Martin Blessing gehandelt hat.

Das Attentat

Am 12. Oktober 1990, als in Deutschland wegen der Wiedervereinigung eine euphorische Stimmung herrschte, wurde Wolfgang Schäuble durch die Schüsse eines psychisch kranken Attentäters so schwer verletzt, dass er eine Querschnittslähmung erlitt. Überlebt zu haben verdankte er seinem Personenschützer, der mit seinem Körper die dritte Kugel abfing. Schäubles Leben teilte sich fortan in ein "Vorher" und "Nachher": Die Verletzungen führten zu einer Querschnittslähmung und einem Leben im Rollstuhl. Das ganze Land nahm an Schäubles Schicksal Anteil. 

Der Politiker schildert seine damaligen Selbstzweifel, die in die Frage mündeten, ob er gelähmt leben will. Die Behinderung brachte viele Probleme mit sich, doch Wolfgang Schäuble kommt zu dem Schluss, dass er nach dem Attentat "nicht weniger glücklich als vorher" ist. So optimistisch und positiv diese Aussage ist, so irritierend ist eine andere: "Meine Popularität über die vielen Jahre gründet auch in der sichtbaren Behinderung. Ich hätte gern darauf verzichtet, zumal ich bevorzuge, an meinen politischen Leistungen gemessen zu werden." 'Woran denn sonst?', würde man ihn hier gern fragen.

Lesen?

Erinnerungen - Mein Leben in der Politik ist so etwas wie ein subjektives Geschichtsbuch. Durch die Schnelllebigkeit unserer Zeit und die Fülle an Informationen, denen wir täglich ausgesetzt werden, geraten die Details vieler zurückliegender Ereignisse etwas in Vergessenheit. Beim Lesen des Buches gibt es einige Aha-Momente.

Mit Wolfgang Schäuble ist einer der erfahrensten Politiker Deutschlands gestorben - wenn nicht sogar der erfahrenste. Er hat viele Politikerinnen und Politiker kommen und gehen gesehen. Zum Schluss schloss sich sein persönlicher politischer Kreis dort, wo er begonnen hatte: auf den Hinterbänken des Bundestages. Er nahm den großen Altersunterschied zwischen sich und vielen heutigen Abgeordneten wahr ("Sie könnten nicht mehr nur meine Kinder, sondern längst meine Enkel sein."), monierte die immer noch zu wenigen weiblichen Abgeordneten, bedankte sich mehrfach bei seiner Frau für die Unterstützung seiner Karriere, die sie nie gewollt hatte, und riet den jungen Abgeordneten zu mehr Zuhören und weniger Selbstdarstellung.

Egal, ob man den Menschen Wolfgang Schäuble und/oder seine Politik und die der CDU gutheißt: Dieses Buch ist schon wegen seiner vielen Einblicke lesenswert. Schäubles Schreibstil ist klar und beinahe so, als würde er einem Besucher aus seinem Leben erzählen. Trotz seines großen Einflusses auf die deutsche Politik findet sich nirgends eine Stelle, an der sich der Politiker selbst überhöhen würde.

Ich wurde in den 1960-er Jahren geboren. Mir sind Personen und politische Ereignisse aus den 1970-er Jahren mindestens in groben Zusammenhängen geläufig. Für jüngere Leserinnen und Leser könnte es jedoch schwierig werden: Es fallen viele Namen und werden zahlreiche Begebenheiten genannt, die entweder nicht oder lediglich andeutungsweise erklärt werden. Einen erläuternden Anhang hält das Buch allerdings nicht bereit. Niemand sollte sich hiervon jedoch entmutigen lassen.

Erinnerungen - Mein Leben in der Politik ist im April 2024 im Verlag Klett-Cotta erschienen und kostet 38 Euro.



Dienstag, 23. April 2024

Gedanken zum Welttag des Buches

Quelle Logo: s. u.
Heute ist der 23. April und damit der Welttag des
Buches. 1995 wurde er von der UNESCO eingeführt und wird seitdem jedes Jahr durch Feierlichkeiten und Leseaktionen begangen.

Was im allgemeinen Rascheln der Buchseiten seit geraumer Zeit etwas untergeht ist der Umstand, dass es sich bei diesem Welttag nicht nur um einen Termin handelt, an dem man das Kulturgut Buch hochleben lässt. Es wird viele erstaunen, dass die vollständige Bezeichnung dieses Tages "World Book and Copyright Day" heißt, also Welttag des Buches und des Urheberrechts. Mich hat das ebenfalls erstaunt.

Interessanterweise ist in der Proklamation der Generalkonferenz zwar von Copyright die Rede, nicht aber davon, wie der Welttag gestaltet werden könnte, um dem Anliegen gerecht zu werden. Um das Bücherlesen voran zu bringen, werden in der Proklamation immerhin Buchmessen und -ausstellungen vorgeschlagen. Doch hinsichtlich der Ausgestaltung des Urheberrechts ist hier Stille.

In Deutschland wurde in den vergangenen Jahren immer wieder über die Notwendigkeit und Grenzen des Urheberrechts gestritten. Es geht dabei um die Frage, ob und inwieweit ein Werk vervielfältigt, verbreitet oder öffentlich wiedergegeben werden darf. Die Materie ist kompliziert und wohl nur von Fachleuten komplett zu durchschauen. Vor etwas mehr als zehn Jahren begann sogar eine Diskussion, in der es um die vollständige Abschaffung des Urheberrechts ging. Sie ist in der Zwischenzeit im Sande verlaufen.

Doch das Thema "Bücher und Urheberrecht" ist damit keinesfalls tot. Im Gegenteil: Durch die Verbreitung von Künstlicher Intelligenz nimmt es gerade richtig Fahrt auf. Im Sommer 2023 verklagten zwei US-Autoren vor einem Bundesgericht in San Francisco OpenAI, die Firma hinter ChatGPT, weil sie davon ausgehen mussten, dass die KI mit ihren Büchern trainiert wird - ohne ihr Einverständnis. Der Vorwurf ist nicht unberechtigt, denn bereits 2018 gab OpenAI bekannt, dass für das Training von GPT-1 7.000 Romane benutzt wurden, die ein KI-Forscherteam ausgewählt hatte. Es ist keine Überraschung, dass auch damals niemand die Autoren um Erlaubnis gefragt hat.
Im September 2023 strengte die Autorengewerkschaft Authors Guild eine Sammelklage vor einem Bundesgericht in New York an, der sich u. a. bekannte Schriftsteller wie George R.R. Martin, Jonathan Franzen oder John Grisham anschlossen.
Aber da war noch nicht Schluss: Drei Monate später verklagte die New York Times OpenAI und Microsoft, da ungefragt Millionen von Zeitungsartikeln zum Trainieren der Software benutzt und so zum Aufbau einer geschäftlichen Tätigkeit verwendet worden waren.

Da der Wind OpenAI nach der Klageeinreichung im September 2023 ins Gesicht blies, hat man dort Gespräche mit Verlagen und der Authors Guild begonnen. Hierbei geht es um Lizenzvereinbarungen, die vereinzelt bereits abgeschlossen werden konnten. Vor der Klage ist man leider nicht auf diese Idee gekommen.  

In Deutschland hat es meines Wissens bislang keine Klagen gegen ChatGPT gegeben, obwohl davon ausgegangen werden kann, dass hier nach demselben Prinzip verfahren wird. In Frankreich wurde hingegen im März 2024 gegen Google ein Bußgeld in Höhe von 250 Millionen Euro verhängt, weil sich der Konzern nicht an verpflichtende urheberrechtliche Absprachen mit französischen Agenturen und Verlagen gehalten hat. 
Anfang April 2024 wurde der Klage von Austro Mechana, gewissermaßen die GEZ Österreichs, gegen einen Cloud-Anbieter stattgegeben. 

Was das gerade verabschiedete KI-Gesetz der Europäischen Union tatsächlich bringt, bleibt abzuwarten. Vielleicht gucke ich mir das am nächsten Welttag des Buches und des Urheberrechts an. Oder ich lasse mir einen Text von ChatGPT schreiben. 😉



Quelle Logo: Homepage "Welttag des Buches"


Montag, 22. April 2024

# 433 - Mit diesem Roman ging's zum Nobelpreis

Der norwegische Autor Jon Fosse hat 2023 den Nobelpreis für Literatur bekommen. Bis zu diesem Zeitpunkt - das muss ich zu meiner Schande gestehen - hatte ich noch nichts von ihm gehört. Mit welchem Buch fängt man an, wenn man sich einem Schriftsteller nähern will? Denis Scheck empfahl in einem Interview mit SWR Kultur die kurze Novelle Das ist Alise. Diesen Rat habe ich beherzigt.

Normalerweise stelle ich hier in der Bücherkiste nur "richtige" Bücher vor. Mit Hörbüchern habe ich so meine Probleme. Aber wenn das gebundene Buch nur 120 Seiten hat, wie lange wird dann das Hörbuch dauern? Zweieinhalb Stunden, das weiß ich jetzt, denn ich habe beides gemacht: zuerst das Hörbuch begonnen (sehr gut gelesen von Max von Pufendorf) und etwa ab der Hälfte mit dem E-Book weitergemacht. Hätte ich mit dem E-Book begonnen, hätte ich es nicht bis zur letzten Seite geschafft. Aber der Reihe nach.

Das Haus von Asle und Signe steht einsam an einem Fjord. Zwanzig Jahre hat das Paar darin gemeinsam gelebt, doch dann, an einem sehr kalten und dunklen Tag Ende November 1979, verschwand Asle. Wie fast jeden Tag war er nach draußen gegangen, um mit seinem kleinen Ruderboot in den Fjord zu fahren. Doch diesmal kehrte er nicht zurück. Sein beschädigtes Boot wurde angespült.
Dreiundzwanzig Jahre ist das her. Dreiundzwanzig Jahre, in denen sich Signe nicht mit Asles Tod abfinden konnte und noch immer auf seine Rückkehr hofft.

Das Haus hat Asles Eltern, Großeltern und sogar schon den Urgroßeltern gehört. Hundert Jahre ist es alt und atmet förmlich die Familiengeschichte. 
An dem unwirtlichen Tag seines Verschwindens sieht Asle auf dem Weg zu seinem Boot seine längst verstorbene Ururgroßmutter Alise mit ihrem einjährigen Sohn Kristoffer. Die beiden wirken für Asle so real, als würden sie noch leben und wären wirklich da vor ihm. Er denkt an seine anderen Verwandten, die nicht mehr am Leben sind: Kristoffers Söhne Asle und Olav. Asle ertrank an seinem siebten Geburtstag.

Signa, die ewig Wartende, sieht ebenfalls in ihrer Vorstellung Asles Angehörige. Sie erlebt als passive Zuschauerin den Tod des kleinen Asle, der von seiner Mutter Brita aus dem Wasser gezogen und nach Hause getragen wird. Es ist der 17. November 1897. Alise, die gerade ihren Enkel verloren hat, gibt sich pragmatisch und beherrscht. Seid nicht traurig, sagt sie, Gott ist barmherzig.

Lesen?

Das Lesen von Das ist Alise habe ich als Herausforderung empfunden. Jon Fosse verzichtet konsequent auf Gänsefüßchen für die wörtliche Rede und den Punkt am Satzende. Wortwiederholungen, sonst eher verpönt, sind eines seiner Stilmerkmale. Sätze ziehen sich über viele Zeilen hin. Absätze oder Kapitel, die den Text übersichtlicher gestalten würden, fehlen. Zusammen mit der reduzierten Sprache wird eine dichte und gleichzeitig beklemmende Atmosphäre erzeugt. Diese Atmosphäre ist es, die mich beim Lesen bei der Stange gehalten hat.

Um noch einmal auf meine oben gemachte Aussage über das Hörbuch zurückzukommen: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das Buch zur Seite gelegt hätte, wenn ich mit ihm begonnen hätte.
Ansicht Hörbuch

Kann ich Das ist Alise nun empfehlen? Ich will ehrlich sein: Ich weiß es nicht. Ich weiß allerdings, dass es mir insgesamt zu viel Reduktion war.

Das ist Alise ist vor mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal im mare Verlag erschienen. Anlässlich der Auszeichnung Fosses mit dem Nobelpreis für Literatur hat der Verlag 2023 eine Neuauflage auf den Markt gebracht, die als gebundenes Buch (übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel) 20 Euro kostet. Das Hörbuch ist für 14,99 Euro,  das E-Book 11,99 Euro erhältlich.


Montag, 15. April 2024

# 432 - Der Platz - ein Buch über die innere Distanz zum Vater

Die Literaturnobelpreis-Trägerin Annie Ernaux hat in
ihrem Buch Der Platz über ihr Verhältnis zu ihrem Vater geschrieben, der 1967 gestorben ist - genau zwei Monate nach ihrer Prüfung für den höheren Schuldienst an Gymnasien. Sein Tod war der Anstoß, sich über sein Leben und das, was zwischen Vater und Tochter stand, Gedanken zu machen.

Ernaux hat sich einmal als "Ethnologin meiner selbst" bezeichnet. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wie in Eine Frau geht es auch hier um den sozialen Aufstieg der Eltern, insbesondere aber um den Aufstieg der Tochter Annie, den die Eltern immer gewollt hatten.
Der Vater hat nur eine geringe Schulbildung und wächst unter einfachsten Verhältnissen auf dem Land auf. Nach der Schule wird er zunächst Knecht. Nach dem Ersten Weltkrieg findet er eine Stelle in einer Seilerei. Dort lernt er Ernaux' Mutter kennen. Sein Leben wird von dem Wunsch bestimmt, es einmal besser zu haben und sich einen bescheidenen Wohlstand zu erarbeiten. Er ist sich mit seiner Frau einig, dass sie nur ein Kind haben würden. Das konnten sie sich finanziell erlauben, mehr nicht.

Nach einigen Rückschlägen schafft es das Paar, in Yvetot einen renovierungsbedürftigen Hof mit einem Lebensmittelladen und einer Kneipe zu übernehmen. Das Leben von Ernaux' Eltern ist um die Selbstständigkeit herum aufgebaut, Laden und Kneipe werden auch sonntags geöffnet. Um den Erhalt des erreichten sozialen Status' kämpft der Vater bis zum Schluss; es geht ihm darum, seinen Platz im Leben zu verteidigen. Emotionale Zuwendung und Kommunikation sind beiden Eltern jedoch fremd. Die Fürsorge für ihre Tochter drückt sich darin aus, dass sie ihr eine gute Schulbildung ermöglichen, mit der es Annie Ernaux auf die Hochschule schafft.

Je älter Ernaux wird, desto fremder werden ihr die Eltern; das gilt sicher auch in die andere Richtung. Dieses auf dem Bildungsaufstieg des Kindes beruhende Phänomen gibt es heute ebenso wie damals und kann zu einem Kontaktabbruch zwischen den Eltern und ihren Kindern führen. Auch zwischen Annie Ernaux und ihren Eltern gab es Phasen, in denen sie sich kaum sahen, weil sie sich nichts zu sagen hatten oder sich nur stritten. Die Eltern sind stolz auf ihre gescheite Tochter, während diese sich ihrer oft schämt - um sich dann für ihre Scham zu schämen. Diese Scham fühlt sich an wie ein Verrat an den Eltern. Gerade dem Vater ist seine unterprivilegierte Herkunft in seiner Sprache und seinem Habitus anzumerken.

Wie ein dunkler Schatten liegt der Tod von Ernaux' Schwester über der kleinen Familie, die zwei Jahre vor Ernaux' Geburt gestorben ist. Annie ist das Ersatzkind. Auch darüber wird nur einmal gesprochen und danach nie wieder.

Lesen?

Annie Ernaux blickt auf ihr Leben und das ihrer Kernfamilie zurück, indem sie es fragmentiert. Jedem Fragment oder jeder Person wird eines ihrer Bücher gewidmet. So bleibt es nicht aus, dass sich deren Inhalte oft überschneiden. Wer also Eine Frau gelesen hat, dem kommt auch vieles in Der Platz bekannt vor.

Ernaux schreibt auch hier sachlich und schnörkellos. Diese Direktheit ermöglicht es, sich in die Familie einzufühlen und ihre Emotionen nachzuvollziehen. Diese strikte Sachlichkeit führt jedoch dazu, dass auch in schicksalhaften Momenten wie dem Tod des Vaters man als Leser oder Leserin mit Befremden auf das Abspulen des üblichen Alltags blickt, der doch gerade erst erschüttert wurde. Nur der Besuch des Pfarrers und die Beisetzung unterbrechen den gewohnten Tagesablauf.

Einen Hinweis auf den Grund, der Ernaux dazu bewogen hat, über ihren Vater zu schreiben, gibt ein Zitat des französischen Schriftstellers Jean Genet, das der Handlung vorangestellt ist:
"Ich wage eine Erklärung: Schreiben ist der letzte Ausweg, wenn man einen Verrat begangen hat."

Die Originalausgabe erschien 1983 unter dem Titel La Place. Das mir vorliegende E-Book folgt der 3. Auflage der Ausgabe des Suhrkamp Taschenbuchs 5108 und wurde von Sonja Finck übersetzt.
Der Platz kostet als gebundenes Buch 20 Euro, als Broschur 11 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro.


Freitag, 5. April 2024

# 431 - Ein Film

Der Roman Ein Film (3000 Meter) ist aus verschiedenen Gründen etwas Besonderes. Er erschien 1926 in Barcelona in der katalanischen Originalausgabe und auf seinem Cover stand der Name des Autors Víctor Català. Doch hierbei handelte es sich um ein Pseudonym der Schriftstellerin Caterina Albert i Paradís. Man kennt das auch von anderen Autorinnen, denen es nicht möglich war, ihre Werke unter ihrem eigenen Namen zu veröffentlichen, weil sie Frauen waren, und die deshalb den Umweg über ein männliches Pseudonym gehen mussten: George Sand beispielsweise wäre unter ihrem Namen Amandine Aurore Lucile Dupin de Francueil wohl für immer unbekannt geblieben. Das gilt auch für die englische Schriftstellerin Mary Ann Evans, deren Roman Middlemarch 2015 von mehr als 80 Kritikern zum bedeutendsten Roman aller Zeiten gekürt wurde. Sie hat das Buch 1872 unter dem Pseudonym George Eliot veröffentlicht.

Die Handlung des Romans spielt um 1910 herum. In Europa werden Kinos gerade populär, ihre Wirkung wird in literarischen Kreisen diskutiert. 
Auch politisch durchlebte Spanien unruhige Zeiten. Es kam vermehrt zu sozialen Spannungen, und das Land stürzte sich in Nordafrika in den verlustreichen Rif-Krieg, um seinen Status als Kolonialmacht auszubauen. Als das zunächst misslang, kam es in Spanien zu innenpolitischen Problemen, die mit Billigung von König Alfonso XIII. 1923 zur Errichtung einer rechtsgerichteten Diktatur unter General Miguel Primo de Rivera führten.
Im Sommer 1909 gab es in Barcelona einen Arbeiteraufstand, der in mehreren Tausend Verhaftungen und einigen Todesurteilen mündete. In der Folge wurden mehrere Bürgerrechte ausgesetzt.

In dieser Atmosphäre der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Unsicherheit ist Ein Film (3000 Meter) angesiedelt. Im Mittelpunkt steht der 22-jährige Nonat Ventura, der als Säugling in einem Waisenhaus in einer ländlichen Gegend Kataloniens abgegeben wird. Er ist intelligent und entwickelt sich zu einem gutaussehenden jungen Mann. Ein Waisenkind zu sein, empfindet er jedoch als Makel und fühlt sich vom Leben benachteiligt. Er ist sich sicher, wohlhabende Eltern zu haben und fühlt sich um ein schönes Leben betrogen. 

Ein kinderloser Schlossermeister aus Girona nimmt den Jungen bei sich auf und behandelt ihn wie einen eigenen Sohn. Doch Nonat strebt nach Höherem: Er liebt schöne Kleidung und den Lebensstil der wohlhabenden Bürger und weiß, dass er niemals deren Status erreichen kann, wenn er ein Leben als Schlosser lebt. Deshalb verlässt er seinen Ziehvater, der ihm zum Abschied eine Goldunze schenkt, die diesem immer Glück gebracht hat. Die Münze soll nun Nonats Talisman sein.

Nonat findet den Namen seiner Taufpatin heraus. Diese lebt mit ihrem Mann in einem Dorf und spürt schnell, dass der Schönling, der an ihre Tür geklopft hat, Ärger mit sich bringen könnte. Da sie vor 22 Jahren geschworen hat, das Geheimnis von Nonats Herkunft für sich zu behalten, tischt sie diesem eine offensichtliche Lüge auf, um ihn rasch loszuwerden. Der sieht sein Heil nun in Barcelona. Sein Gefühl sagt ihm, dass er dort die Antwort auf seine Herkunft finden wird und die Chance hat, mehr aus sich zu machen. Viel mehr.

Nonat schafft es schnell, dank seiner Cleverness und seines guten Aussehens in Barcelona Fuß zu fassen. Er übernimmt eine Werkstatt, die bald gute Kunden hat, und wird in seinem Umfeld geachtet. Aber das ungelöste Rätsel um seine Herkunft treibt ihn um. Außerdem hat die katalonische Hauptstadt Verlockungen, die Nonat von Girona nicht kannte. Wer es sich leisten kann, fährt mit der Straßenbahn oder sogar Droschke, es gibt viele gute Restaurants und auch kulturell ist Barcelona Girona weit überlegen. Doch diese Möglichkeiten, die Nonat gerne wahrnimmt, übersteigen seine Finanzen. Hat er bislang nur gelegentlich etwas in großen Menschenmengen mitgehen lassen, schart er schon bald einige Kleinkriminelle um sich, die das schnelle und leicht verdiente Geld wittern. Was sie nicht wissen: Alle Menschen, die den jungen Mann für ihren Freund hielten, wurden von ihm massiv enttäuscht. Einige, die ihn früher liebten und bewunderten, hassen ihn nun. Nonat ist das gleichgültig, er sieht nur seinen eigenen Vorteil. Aber wie lange kann er sein Glück, das ihm bisher treu war, strapazieren? 

Dann kommt der Tag, an dem Nonat die Goldunze seines Ziehvaters gestohlen wird...

Lesen?

Ein Film (3000 Meter) wirft ein Licht auf das Leben der Menschen in Katalonien, die vor etwa einhundert Jahren knapp ihr Auskommen hatten oder am Rand der Gesellschaft standen. Nonats brennender Wunsch, ein Mitglied der wohlhabenden Klasse zu sein, zeigt immer wieder, wie groß die Kluft zwischen Arm und Reich war. Doch es war nicht nur das Geld, das ihn von denen "da oben" trennte, sondern auch seine Herkunft, die sich unter anderem in seinem schlechten Spanisch widerspiegelte. 

Catarina Albert i Paradís bettet ihren Roman in ein zeithistorisches Umfeld ein, in dem es in Katalonien und Spanien etliche Erschütterungen gab und man sich neu orientieren musste. Sie gehörte zu den Anhängern des Noucentisme, einer kulturellen und ideologischen Strömung, die mit dem Beginn der Diktatur von Miguel Primo de Rivera ihr abruptes Ende fand. In diese Zeit fiel ihre kreative Krise. Die wenigen Male, in denen sie in ihrem Roman direkt Bezug auf das Kino nimmt, das immer mehr Menschen begeisterte, sind wohl als Annäherung an das neue Medium zu sehen. Catarina Albert i Paradís wird beobachtet haben, welchen Einfluss das Kino auf das Leben und die Gewohnheiten der Menschen nahm. Davon blieb auch die Literatur nicht unberührt.

Einziger Kritikpunkt ist das Fehlen eines Nachworts, das den Kontext für die Romanhandlung liefert. 

Ein Film (3000 Meter) ist 2024 im Kupido Literaturverlag erschienen und wurde sehr lebendig von Petra Zickmann übersetzt.
Der Roman kostet gebunden 29,80 Euro.