Freitag, 28. Juni 2024

Happy birthday to Inas Bücherkiste

Heute Vormittag fiel mir ein, dass ich die Bücherkiste
irgendwann im Juni 2015 gestartet habe. Mit einem Buch, das ich immer noch gut finde: Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war von Joachim MeyerhoffUnd wann war das genau? Am 15. Juni 2015. Vor fast zwei Wochen ist mein Blog also neun Jahre alt geworden, und ich habe das verpasst. Das ist mir leider nicht zum ersten Mal passiert.

Aber sollte meine Dösigkeit ein Grund sein, diesen Geburtstag jetzt komplett abzuhaken? Ich finde: nein.

Ich will jetzt aber nicht schreiben, welche von den bislang über 440 vorgestellten Büchern ich am allerbesten fand und welche eher ein Fall für den Schredder sind. Das machen schon andere Leute im Fernsehen, und ich kann nicht sagen, dass ich das besonders gelungen finde. Beim Lesen soll es um die Lust an der Sache gehen; ich glaube nicht, dass diese Lust steigt, wenn in der Buchszene präsente Menschen das  Lieblingsbuch einiger Leserinnen und Leser mit dem Etikett "Schund" versehen. 

bloggdeinbuch.de und die Plagiate

Rund um die Bücherkiste gab es ein paar Begebenheiten, die es wert sind, erzählt zu werden. Manchmal war das Buchbloggen nämlich ein Kommen und Gehen.
Im Frühling 2012 wurde die Bloggerplattform bloggdeinbuch.de ins Leben gerufen. Dahinter stand der kaum ältere Verlag EPIDU, der sich selbst als Web 2.0-Verlag bezeichnete: Leserinnen und Leser konnten mitbestimmen, welche Bücher veröffentlicht werden. Über bloggdeinbuch.de konnten Verlage gegen eine Gebühr ihre Neuerscheinungen für Rezensionen anbieten. Drei Jahre später berichtete der Gründer, dass schon 160 Verlage an diesem Modell teilnehmen. 
Viele Publikationen, die sich mit Themen aus der Buchbranche beschäftigen, haben über das Start-up berichtet. Die Grundstimmung war durchweg positiv. Ein paar Jahre später war bloggdeinbuch.de Geschichte. Mein letzter Kontakt war im Sommer 2017, das letzte Lebenszeichen gab das Portal auf Twitter im Januar 2019 von sich. Mir ist das erst später aufgefallen, obwohl ich immerhin sieben Bücher, die ich über bloggdeinbuch.de bekommen hatte, in der Bücherkiste vorgestellt habe.

Mit der Rezension eines Buches, das ich von bloggdeinbuch.de erhalten hatte, habe ich dann zum ersten Mal erlebt, dass meine Texte plagiiert wurden. Die Bücherkiste war erst ein Dreivierteljahr alt, als mir auffiel, dass eine andere Bloggerin zwei Drittel meiner Rezension unverändert in ihre eigene eingefügt hatte. Nach meinem Hinweis wurde sie von der Plattform aufgefordert, ihren Text zu ändern, was sie auch getan hat.
Fast zeitgleich hatte eine andere Bloggerin ein Buch rezensiert, das ich direkt vom Autor bekommen hatte. Sie hatte sich zwar die Mühe gemacht, den einen oder anderen meiner Sätze ein bisschen umzubauen, aber die "Abschreiberitis" war klar zu erkennen. Auf meine freundlich formulierte Bitte, ihre Rezension in ihren eigenen Worten zu verfassen, reagierte sie schnippisch und forderte mich auf, meine Anschuldigung zurückzunehmen. Hat es Sinn, da noch länger zu diskutieren? Nein, hat es nicht. Ich habe den Fall einem Fachanwalt geschildert, der die Bloggerin aufgefordert hat, ihren Text zu ändern oder zu löschen. Sie hat sich fürs Löschen entschieden. Da ich vom Anwalt nie eine Rechnung bekommen habe, gehe ich davon aus, dass die Bloggerin diese bezahlt hat. Ihren Blog gibt es immer noch, es werden aber nur unregelmäßig Artikel veröffentlicht.
Auf den ersten Blick könnte man mein Verhalten zickig finden. Aber zu diesem Zeitpunkt habe ich auch bezahlt geschrieben, indem ich Websites betextet habe. Meine Blogs waren damals ein Teil meiner Selbstpräsentation. Außerdem bestraft Google sogenannten Duplicate Content mit der Herabstufung der primär rankenden Seite - also in diesem Fall meiner.

Indipendent-Publishing - interessante Jahre und die Insolvenz 

Im Juni 2015 kündigte der Harenberg Verlag an, in seine Branchenzeitschrift "buchreport-magazin" erstmals einen Schwerpunkt zum Thema 'Indipendent Publishing' aufzunehmen. Der sog. "Indie-Katalog" wurde von der Website indie-publishing.de flankiert. Die Redaktion nahm Kontakt zu Bloggern auf, die nicht nur die Titel der großen Publikumsverlage rezensierten, sondern eben auch die von unabhängigen Verlagen, die es deutlich schwerer haben als ihre großen Mitbewerber, auf dem Buchmarkt sichtbar zu werden. Der "Indie-Katalog" beschränkte sich jedoch nicht auf diese Zielgruppe, sondern bot auch Selfpublishern die Möglichkeit, ihre Bücher zu präsentieren. Etliche meiner Rezensionen wurden dort abgedruckt, wie zum Beispiel hier

Das Rezensieren von Büchern, die nicht in der Mainstream-Welle mitschwammen, hat mir viel Spaß gemacht. Die angebotenen Rezensionsexemplare waren ein guter Querschnitt durch alle Genres. Doch Anfang 2019 wurde es plötzlich still. Auf meine Nachfrage teilte mir ein Mitarbeiter des Indie-Katalogs mit, dass man an einem tollen neuen Konzept arbeite und man die Zusammenarbeit mit Bloggern "vorerst" einstelle. Aus dem "vorerst" wurde der Tod des Indie-Katalogs. Was Jahre zuvor so positiv und euphorisch angekündigt worden war, verschwand sang- und klanglos von der Bildfläche. 

Vielleicht war das der Anfang vom Ende des Harenberg-Verlags. Ich weiß es nicht. Der Verlag meldete im Dezember 2023 Insolvenz an. Seit 1971 hatte er für den SPIEGEL die Bestsellerliste erstellt. Nach über 50 Jahren war es damit plötzlich vorbei. Nun werden die Bestsellerlisten von der Buchhandels-Genossenschaft eBuch erstellt und in der Zeitschrift "BuchMarkt" veröffentlicht.

Blogsterben?

Etwa zu dem Zeitpunkt, in dem ich hier meiner Bücherkiste Leben eingehaucht habe, sind auch sehr viele andere Buchblogs entstanden. Ich habe keine Ahnung, was diese "Gründungswelle" ausgelöst hat, aber der Trend war nicht zu übersehen. Ich bin damals einigen Blogs, die mich interessierten, über die Blogroll gefolgt. Nach ein oder zwei Jahren habe ich aber festgestellt, dass ich diese verlinkte Leseliste überarbeiten muss: Die meisten Blogs existierten gar nicht mehr, der anfängliche Schwung der lesebegeisterten Bloggerinnen und Blogger ist nach relativ kurzer Zeit auf der Strecke geblieben. Jetzt, während ich diesen Text schreibe, fällt mir auf, dass ich mir meine Blogroll mal wieder ansehen muss. Die Liste ist bereits auf nur sechs unterschiedliche Blogs geschrumpft. Vier davon sind passiv, ein Foto-Blogger postet nur noch alle paar Monate einen Beitrag, nur eine Buchbloggerin lädt regelmäßig ihre Rezensionen hoch.

Mir fallen Buchblogs ein, die vor Jahren in den sozialen Netzwerken eine Nische besetzt haben und nach meinem Eindruck damit erfolgreich waren. Auch sie existieren nicht mehr.

Woran liegt das? Ich kann da nur spekulieren. Vor einigen Jahren wurde unter Buchbloggern diskutiert, ob es anrüchig ist, mit dem Veröffentlichen von Rezensionen Geld zu verdienen. Auf den Social-Media-Plattformen wurde diese Frage rauf und runter besprochen. Viele bezogen sich auf Kosmetik-, Mode-, Koch- oder Reiseblogger, die bei ausreichend hoher Reichweite mit guten Einnahmen rechnen konnten - und es noch immer können. Da stand dann die kulturell-ethische Fraktion der ökonomischen gegenüber, eine Einigung konnte es nicht geben. Ich selbst habe für mich keine klare Antwort gefunden, ob es in Ordnung ist, mit einem Buchblog Einnahmen zu erzielen. Das Buch wie ein sakrosanktes Kulturgut zu behandeln, finde ich allerdings übertrieben. Möglicherweise gab es Buchblogger, die auf Einkünfte gehofft haben, dann jedoch nur Kosten hatten. 

Das wird aber nur einige Buchbloggerinnen und -blogger zum Aufgeben gebracht haben. Was für Blogleser nicht zu erkennen ist, ist der Aufwand, der hinter jedem Beitrag steckt.
Zuerst muss das Buch natürlich gelesen werden. Bei schmalen Bänden reichen ein paar Stunden, bei dicken und/oder anspruchsvollen Büchern vergehen Tage von der ersten bis zur letzten Seite. Dann wird am Blogtext gefeilt. Das kann dauern und hängt auch von der Tagesform ab. Was nicht vergessen werden darf: Das Bloggen ist für mich wie wahrscheinlich die Mehrheit der Buchbloggerinnen und -blogger ein Hobby. Ich bin im Gegensatz zu manchen anderen Buchbloggern wirtschaftlich nicht mit der Literaturbranche verbunden. Das heißt aber auch, dass ich niemandem nach dem Mund reden muss und in der Auswahl der vorgestellten Titel frei bin. Das ist sicher ein großes Plus. Aufgrund dieser Freiheit entscheide ich auch über die Art, wie ich die Bücher präsentiere. Ich möchte, dass sie im Mittelpunkt stehen und der Blick aufs Buch nicht von Dekoartikeln abgelenkt wird. Meine Bücherkiste ist keine Unterabteilung von "Schöner Wohnen", da muss kein Vorhang oder Blumenstrauß auf die Farben des Covers abgestimmt sein.

Die Zahl der kunstvoll arrangierten Buchfotos dürfte in den letzten Jahren aber zugenommen haben. Viele Buchblogger betreiben entweder parallel zu ihrem klassischen Weblog Accounts auf Social-Media-Kanälen oder sind komplett zu ihnen abgewandert. Während 2015 Facebook weit vorn lag, findet man heute viele Buchblogger bei Instagram, Pinterest und TikTok. Diese Portale haben gemeinsam, dass sie visuell ausgerichtet sind. Der Rezensionstext spielt, wenn es überhaupt einen gibt, nur eine Nebenrolle. Häufig reichen dann drei Sätze und fünf Hashtags, um einen Post zu erstellen. Wenn ich dann Kommentare wie "geiles Cover" lese, weiß ich, dass ich falsch bin. Ich erkenne dann weder in den Buch-Posts noch in den Kommentaren eine Liebe zum Buch.

Ich habe auch Social-Media-Accounts bei InstagramX (Ex Twitter) und Threads. Sie dienen dazu, den eigentlichen Buchblog zu bewerben. Was ich vor neun Jahren für überflüssig gehalten habe, scheint heute der einzige Weg zu sein, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Die Folge: Die Social-Media-Aktivitäten kosten weitere Zeit. Zeit, die ich im Grunde lieber mit dem Lesen oder anderen Dingen verbringen möchte.

Messen und Kontakte

Buchbloggen kann man natürlich im stillen Kämmerlein im Schein einer Kerze betreiben, das Glas Rotwein immer in Reichweite. Aber wer will das schon?

Zum Bloggerleben gehörte für mich auch der Besuch der Buchmessen in Frankfurt und Leipzig. Es war schön, sich mit anderen Bloggerinnen (ja, die große Mehrheit der Buchblogger ist weiblich) auszutauschen und Kontakte mit Verlagen zu knüpfen. Mein Schwerpunkt lag dabei auf unabhängigen Verlagen; die großen Publikumsverlage haben ohnehin viel Aufmerksamkeit. Doch mein letzter Messebesuch war im April 2023 auf der Leipziger Buchmesse. Danach habe ich beschlossen, nicht mehr zu großen Messen zu gehen. Als Mensch mit Mobilitätseinschränkung habe ich die Besuche in den überfüllten Hallen als extrem anstrengend empfunden, auch mit einem Elektro-Scooter. Es war der nackte Stress, trotz der Unterstützung meiner jeweiligen Begleitung. In Leipzig kam 2023 noch die nicht vorhandene Steuerung auf den Parkplätzen hinzu, was mich trotz meines Presseausweises stundenlang von der Veranstaltung ausschloss. 

Der Kontakt mit den Verlagen hat unter meiner Messe-Abwesenheit allerdings gelitten, was ich sehr schade finde. Physisch präsent zu sein ist dort offenbar wichtiger als ich dachte. Hier nutze ich die Gelegenheit, mich insbesondere beim Verlag Donata Kinzelbach, dem Polar Verlag sowie dem Anthea Verlag für die gute Zusammenarbeit zu bedanken.
Zu einzelnen Buchbloggerinnen gibt es noch eine Verbindung. Aber wahrscheinlich haben alle Dinge ihre Zeit.

Mir macht das Buchbloggen immer noch Spaß und ich bin gespannt, was ich bis zum zehnten Geburtstag der Bücherkiste noch erleben werde. Wenn ich ihn nicht wieder vergesse...



Montag, 24. Juni 2024

# 441 - Eine wahre Geschichte über den Jazz als Propagandamittel des Dritten Reichs

Jazz galt für die Nationalsozialisten als entartete Kunst. Das hielt sie jedoch nicht davon ab, ihn im 2. Weltkrieg für ihre Propaganda zu benutzen. Genauer: eine Propaganda gegen Großbritannien, in der vor allem Premierminister Winston Churchill und dessen Kriegspolitik aufs Korn genommen wurden. Der Radiointendant Adolf Raskin schlug dem Propagandaministerium deshalb 1940 ein Paket von drei Maßnahmen vor, die einander jeweils unterstützen sollten: eine Radiosendung mit dem Namen Germany Calling, eine in dieser Sendung auftretende Jazzband und eine wohlwollende Publikation, für die ein bislang unbekannter Schweizer Schriftsteller ausgewählt wurde. Dieser propagandistische Dreiklang war an dem ausgerichtet, was man im Ministerium für angelsächsischen Geschmack hielt.

Was seltsam klingt, hat so tatsächlich stattgefunden. Der Schweizer Autor und Archäologe Demian Lienhard hat die Begebenheit in seinem Roman Mr. Goebbels Jazzband aufgegriffen und sich dabei eng an die historischen Fakten gehalten. Zu diesen Fakten gehört auch, dass man es bei der Auswahl der Bandmitglieder mit deren Herkunft nicht so genau nahm und auch jüdische oder homosexuelle Musiker einstellte. Die Motive, bei Charlie and His Orchestra - wie die Band damals hieß - dabei zu sein, reichten von der Verbesserung des Einkommens bis zur Hoffnung, möglichst lange vom Kriegsdienst verschont zu bleiben.

Für die Moderation der Radiosendung setzte man auf größtmögliche Authentizität und wählte den faschistischen irisch-britischen Kommentator William Joyce aus. Er ging seinem Auftrag mit einem so großen Eifer nach, dass es in Großbritannien eine Fangemeinde gab.
Das kann über den Schriftsteller Fritz Mahler nicht gesagt werden. Er verstand seine Abreise aus der Schweiz nach Berlin und seinen ungewöhnlichen Auftrag sowohl als eine Flucht vor seinem Vater, von dem er sich bevormundet fühlte, als auch die Chance auf den schriftstellerischen Erfolg, den er sich so sehr wünschte.

Die dem Buch seinen Titel gebende Jazzband spielt hier jedoch nicht die Hauptrolle. Lienhard legt den Schwerpunkt auf den Kollaborateur Joyce sowie den Möchtegern-Autor Mahler. Ersterer ist mit seinem unsteten Lebenswandel und einem auf ihn wartenden Henker, noch bevor er 40 Jahre alt wird, eine historisch ziemlich traurige Figur
Mahler wird als Person beschrieben, die sich einredet, sich über den Inhalt des beauftragten Buches ständig Gedanken zu machen, aber in Wahrheit die personifizierte Unstrukturiertheit und der wandelnde Selbstzweifel ist. Es vergehen drei Jahre, in denen Mahler komplett unproduktiv ist und sich auf Kosten des Propagandaministeriums in Bars, Kneipen und Restaurants aufhält - zu Recherchezwecken, versteht sich.

Lesen?

Demian Lienhard hat sich einem Thema gewidmet, das mir bislang unbekannt war. Dass man es mit den selbst aufgestellten Kriterien, wie ein für die "deutsche Rasse" wertvoller Mensch auszusehen habe, in der eigenen Führungsriege nicht so genau nahm, ist bekannt: Joseph Goebbels haftete wegen seiner geringen Körpergröße und seines Klumpfußes der Spitzname "Schrumpfgermane" an, der 1934 auf Befehl von Adolf Hitler ermordete SA-Führer Ernst Röhm war homosexuell.
Wenn es der eigenen Sache diente, waren auch Menschen gut genug, die man unter anderen Umständen als "unwert" eingestuft hätte.

Das hätte jedoch in Mr. Goebbels Jazzband jedoch auch etwas gestraffter dargestellt werden können. Auch der Schreibstil ist mit seinen oft sehr langen Sätzen und geschraubten Formulierungen gewöhnungsbedürftig. Erst zum Schluss, im Nachwort des Berner Staatsarchivars Dr. phil. Samuel Tribolet, in dem dieser süffisant über Lienhards dortige Nachforschungen berichtet, heißt es zu meiner Überraschung: "Unter diesen Materialien befand sich auch das uns damals nicht näher bekannte, unvollendete Typoskript eines Romans mit dem Titel 'Mr. Goebbels Jazzband', den Lienhard nun auf den vorangehenden Seiten erstmals der Öffentlichkeit zugänglich macht." Damit soll vermutlich der teilweise antiquiert wirkende Stil erklärt und die Handlung zu einem Ende gebracht werden.
Aber stammt dieses Nachwort tatsächlich von Staatsarchivar Tribolet oder hat sich Lienhard die Freiheit genommen, ihn als fiktive Person und Stilmittel einzusetzen? Das bleibt unklar; auf der Website des Berner Staatsarchivs findet sich zumindest kein Mitarbeiter mit diesem Namen.

Mr. Goebbels Jazzband ist 2023 bei der Frankfurter Verlagsanstalt (FVA) erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro, als E-Book 18,99 Euro sowie als Hörbuch 9,95 Euro.

Der Roman wurde 2023 für den Schweizer Buchpreis nominiert.

Sonntag, 16. Juni 2024

# 440 - China, wer bist du?

Mehr als 7.000 Kilometer Luftlinie liegen zwischen der
deutschen Hauptstadt Berlin und der chinesischen Hauptstadt Peking. Was wir von hier aus über das "Reich der Mitte" wahrnehmen: große Wirtschaftsmacht, viele Einwohner, einen seine Macht stetig ausbauenden
 Präsidenten Xi Jinping, starke Überwachung der Bevölkerung, chinesisches Porzellan, Buddhismus. Wir glauben, durch die vielen chinesischen Restaurants in Deutschland die chinesische Küche zu kennen, und erinnern uns, wenn wir alt genug sind, an das Foto von Mao Tse-Tung, der mit seiner diktatorischen Politik das Land von 1949 bis 1973 beherrschte, was - je nach Schätzung - 40 bis 80 Millionen Menschen den Tod brachte.

Was wir nicht wissen: Wie geht es der chinesischen Bevölkerung heute? Was ist den Menschen wichtig, worauf legen sie Wert - oder worauf nicht?
Diese Fragen und insbesondere die, was Chinesinnen und Chinesen unter Glück verstehen, hat sich auch die Schriftstellerin und Glücksforscherin Simone Harre gestellt. Innerhalb von fünf Jahren hat sie in mehreren Interviewreisen zahlreiche Gespräche mit Frauen und Männern zwischen Peking im Norden und Yangshuo im Süden der Volksrepublik geführt. 50 dieser Interviews hat sie in ihrem Buch China, wer bist du? versammelt. Ganz überwiegend kommen hier Männer zu Wort; nur zehn Frauen haben mit Simone Harre über ihre Vorstellung vom Glücklichsein gesprochen. Die Gründe für dieses Ungleichgewicht bleiben unerwähnt.

Harre ahnte, dass es nicht so einfach sein würde, Interviews zum Thema Glück in Gang zu bringen. Darum hat sie als "Türöffner" zu Beginn der Unterhaltungen zwei Fragen gestellt:
Welche Blume möchtest du sein? und Ist das Glas halb voll oder halb leer?

Für viele der Interviewten war das Gespräch mit der Autorin sehr herausfordernd, weil diese ihnen Fragen stellte, die sie sich selbst nie gestellt hatten. 

Harre ist es gelungen, Interviewpartnerinnen und -partner aus allen Gesellschaftsschichten zu finden. Von der Straßenverkäuferin über den Taxifahrer bis zum Chefkoch oder Professor stehen ihr die unterschiedlichsten Menschen Rede und Antwort. Die Mehrzahl der Befragten lebt in einer Großstadt, einige jedoch auf dem Land. Auffällig ist die hohe Zahl der Hochschulabsolventen, die allerdings nach ihrem Uni-Abschluss nicht unbedingt im selben Bereich, den sie studiert haben, arbeiten. Auffällig ist auch, wie viele Menschen auf verschiedenen Gebieten gleichzeitig tätig sind und das Scheitern von Unternehmen nicht mit Versagen und Resignation gleichsetzen. Die übliche Haltung ist eher: Wenn dieses Projekt nicht funktioniert, dann vielleicht ein anderes. Eine Einstellung, die für uns ungewohnt ist.

Zahlreiche Gesprächspartner haben in ihrer Kindheit und Jugend in tiefster Armut gelebt, viele sogar gehungert. Das betrifft vor allem die Generation der um 1970 Geborenen. Diese hat die kollektive Erfahrung gemacht, dass Fleiß und Erfolg sehr wichtig sind. Selbstverwirklichung kommt in ihrem Denken nicht vor.
Neben dem beruflichen Erfolg ist die Familie von großer Bedeutung. Zu heiraten und eine Familie zu gründen wird von den eigenen Eltern und der Gesellschaft zwar weniger strikt erwartet als noch vor etwa zwanzig Jahren, ist aber trotzdem als sehr erwünschter Teil des Lebens verankert. Individualismus, wie wir ihn aus unserem westlichen Selbstverständnis kennen, steckt in China noch in den Kinderschuhen.

Die Familie ist auch ein Ersatz für den praktisch nicht vorhandenen Sozialstaat. Wer in eine Notlage gerät und weder Geld noch helfende Angehörige hat, hat ein Problem. Die Vorstellung von sozialer Verantwortung beschränkt sich folgerichtig auf die eigene Familie.

Lesen?

Simone Harre ist es gelungen, die Menschen zum Nachdenken über sich selbst zu bringen - was eine besondere Leistung ist, da Selbstreflexion in der chinesischen Gesellschaft nicht verankert ist.
Es gelingt ihr, ein authentisches Bild von den Menschen zu zeichnen und uns so einen ungewöhnlichen Einblick in die "Seele" des Riesenreichs zu ermöglichen. 

China, wer bist du? ist allen zu empfehlen, die sich abseits der üblichen Reiseführer ein Bild vom heutigen China machen wollen. Ich bin mir sicher, dass viele überrascht sein werden, inwieweit alte Traditionen im modernen China noch eine Rolle spielen.

Die sehr schöne Aufmachung macht das positive Bild komplett: Der Einband besteht aus starker Pappe, zu jedem Interview gibt es mindestens ein Porträtfoto der befragten Person. Dafür wurde das Buch 2020 beim Wettbewerb der Stiftung Buchkunst "Die schönsten deutschen Bücher" mit der Silbermedaille ausgezeichnet.

China, wer bist du? ist 2020 im Verlag Reisedepeschen Berlin erschienen und kostet 26 Euro.


Samstag, 8. Juni 2024

# 439 - Ich bin Anna Freud

Mit Ich bin Anna hat der Autor und Psychiater Tom Saller einen Roman geschrieben, der sich intensiv mit dem Leben von Anna Freud, der jüngsten Tochter des Psychoanalytikers Sigmund Freud, beschäftigt.

Anna ist das sechste Kind von Sigmund und Martha
Freud. Ihr Vater ist bei ihrer Geburt 1895 bereits 39 Jahre alt und hat wie seine Frau nicht mehr mit einem weiteren Kind gerechnet. Martha Freud lässt ihre Tochter spüren, dass sie das überzählige Kind ist. Anna ist kränklich und wird dafür von einer ihrer Schwestern gehänselt, die der Liebling der Eltern ist. Doch sie ist stärker, als ihre Familie glaubt: Sie arbeitet gegen das Klischee der Jüngsten an und macht mit 17 Jahren ihr Abitur. Danach wird sie Lehrerin. Anna ist das einzige der Freud-Kinder, das sich für die Arbeit des Vaters interessiert. Da sich Sigmund Freud wünscht, dass sein Werk fortgesetzt wird, schlägt er Anna vor, von ihm in die Psychoanalyse eingeführt zu werden.

Ein schwieriger Patient, Ludwig Stadlober, wird 1917 das Anschauungsobjekt, an dessen Behandlung Sigmund Freud seine Tochter teilhaben lassen will. Der junge Deutsche war als Soldat bei einem Senfgasangriff schwer an den Augen verletzt worden, was seine Kriegsbegeisterung allerdings nicht geschmälert hat. Stadlober hat eine temporäre Blindheit, die bislang von keinem Arzt geheilt werden konnte. Der junge Mann glaubt zwar nicht an die Psychoanalyse, aber Sigmund Freud ist seine letzte Hoffnung. Durch die Arbeit mit dem Deutschen gelangt Sigmund Freud zu der Erkenntnis, dass seine eigene Theorie der Libido als zentrale Triebkraft unvollständig ist, und er stellt dem Liebes- den Todestrieb an die Seite.

Stadlober nimmt ohne es zu ahnen eine Position zwischen Anna Freud und ihrem Vater ein. Anna beginnt, sich von ihrem übermächtig scheinenden Vater abzunabeln, und verabredet sich hinter dessen Rücken mit seinem Patienten. Sie ist 22 Jahre alt und hat noch nie Kontakt zu jungen Männern gehabt, die nicht ihre Brüder waren. Stadlober interpretiert die heimlichen Treffen als Annäherungsversuche und ist gekränkt, als sich Anna nach einer Tuberkulose-Erkrankung zurückzieht und die Bekanntschaft nur noch als Brieffreundschaft fortsetzen will. Sie ist sich nicht darüber im Klaren, ob eine Beziehung zu einem Mann in ihrem Leben Platz hat. Stadlober wird durch Annas Entschluss in eine tiefe Krise gestürzt; sein Selbstmordversuch bleibt glücklicherweise erfolglos. Doch Anna kann mit ihren Empfindungen, die sie während der Treffen mit Stadlober hatte, nicht umgehen, und bittet ihren Vater, sie zu therapieren.

Lesen?

Ich bin Anna beleuchtet das Leben von Anna Freud, soweit es die zur Verfügung stehenden Quellen zugelassen haben. Tom Saller hat die Figur des Ludwig Stadlober erfunden und weiß von der Therapie, der sich Anna bei ihrem Vater unterzogen hat, nur aus Andeutungen. Später sollte allerdings klar werden, warum es ihr nicht gelang, zu einem Mann eine romantische Beziehung aufzubauen.

Saller verfolgt Anna Freuds Leben bis zu Flucht der jüdischen Familie vor den Nationalsozialisten nach London im Jahr 1938. Sie ist ihrem Vater bis zu seinem Tod eine Stütze, obwohl ihr schon lange klar war, dass ihre zwischenzeitlich verstorbene Schwester dessen Lieblingskind gewesen ist.

Tom Sallers Roman ist ungewöhnlich aufgebaut: Anna und Sigmund Freud kommen in identisch nummerierten Kapiteln abwechselnd zu Wort und beschreiben die jeweiligen Situationen aus ihrer eigenen Sicht. So ist es möglich, in die Gedanken der beiden einzutauchen und sich ein umfassendes Bild zu machen.

Ich bin Anna ist ein interessanter Roman, der erklärt, wie aus der unterschätzten jüngsten Freud-Tochter eine angesehene Psychoanalytikerin und die Begründerin der Kinderanalyse wurde.

Ich bin Anna ist 2024 im Kanon Verlag erschienen und kostet gebunden 24 Euro sowie als E-Book 21,99 Euro.