Sonntag, 29. August 2021

# 305 - Sein durch Sprache?

2020 erschien Kübra Gümüşays erstes Buch Sprache und Sein, das für etliche Diskussionen sorgte. Wer ein Essay über Sprache erwartet, wird jedoch zumindest teilweise enttäuscht.

Gümüşay beginnt ihr Buch mit einer Szene, die sich vor etlichen Jahren zwischen ihr und ihrer Tante abgespielt hat. Es drehte sich um ein türkisches Wort ("yakamoz"), das für die Reflexion des Mondlichts auf dem Wasser steht. Erst seitdem sie diesen Begriff kennengelernt hat, erkennt Gümüşay dieses Phänomen: Die Wahrnehmung wird durch die Sprache beeinflusst. Das belegt sie anhand weiterer Wörter aus anderen Sprachen. 

Diese Erkenntnis ist keine Überraschung: Wer ein Buch von einer Sprache in eine andere übersetzt, kommt ohne kulturelle Kenntnisse und Hintergründe beider Sprachen nicht aus, wenn die Botschaft des Textes im Sinne des Autors in der Zielsprache ankommen soll. Und so folgert auch Gümüşay: "So leben manche Gefühle nur in bestimmten Sprachen. Sprache öffnet uns die Welt und grenzt sie ein - im gleichen Moment." Wer sich in mehreren Sprachen ausdrücken kann, wird wahrscheinlich feststellen, sich in jeder als eine etwas andere Person zu fühlen.
In diesem Zusammenhang führt 
Gümüşay das viel diskutierte generische Maskulinum an: Während Befürworter sagen, dass trotz der männlichen Form (die Lehrer, die Autofahrer, alle Studenten etc.) doch automatisch auch die Frauen mitgemeint seien, weisen immer mehr der "Mitgemeinten" das zurück - und Studien geben ihnen in ihrer Befürchtung recht, dass sie tatsächlich weniger mitgedacht werden.

Gümüşay unterscheidet zwischen den Benannten und den Unbenannten. Die Benannten sind diejenigen, die als von der Norm abweichend empfunden werden, weil sie ein Merkmal haben, das sie als "anders" ausweist: die Kopftuchträgerin, die Muslimin, der schwarze Mann oder die Frau mit Behinderung. Sie werden von den Unbenannten, die die allgemein akzeptierte Norm erfüllen, kategorisiert und auf die eine - aus deren Sicht wesentliche - Eigenschaft reduziert, beurteilt und mit allen anderen, die über dasselbe Merkmal verfügen, in einen Topf geworfen.

Im Kern geht es Gümüşay darum herauszufinden, wie wir miteinander empathisch und vorurteilsfrei kommunizieren können. Aus eigener Anschauung weiß sie, wo das nicht zu gehen scheint: In Talkshows - mit ihr oder ohne sie - wurden eher auf krawallige Art neue Gräben ausgehoben, als dass versucht worden wäre, sich über das Gemeinsame und Verbindende sowie das Zusammenleben Gedanken zu machen.

Gümüşay hat mit ihrer Kritik am hiesigen Umgang mit den sog. Benannten recht. Sie räumt ein, dass es in der menschlichen Natur liegt, sein Gegenüber in die eine oder andere Schublade einzusortieren. Dieses archaische Verhalten hat auch in unserer modernen Welt nicht nur Nachteile: Es schützt uns davor, unter Reizüberflutung zu leiden und hilft uns, durch das Erkennen von Mustern in gefährlichen Situationen angemessen zu reagieren. Das kann jedoch kein Grund sein, dieses Verhalten unreflektiert gegenüber seinen Mitmenschen anzuwenden.

Die Autorin wirft auch einen Blick auf die Einflüsse, die die strukturelle Ausgrenzung weiter befördern: Da sind nicht nur die oben erwähnten Talkshows, sondern auch die schwerpunktmäßige Themenauswahl in politischen Fernsehsendungen, der Einfluss der Social-Media-Plattformen oder die Aktivitäten rechter Spin-Doctors, die ein verzerrtes Bild von der Realität zeichnen.

So emotional diese existierenden (sprachlichen) Missstände von Kübra Gümüşay geschildert werden, so wenig gewährt sie Einblick in ihre eigenen religiösen An- und Einsichten. Als Leser erfährt man kaum, was den Menschen Kübra Gümüşay ausmacht - wäre das nicht nötig, um ein Zeichen gegen die ständigen Kategorisierungen zu setzen? Auch der kritische Blick auf ihre eigene Religion und ihre weltlichen Vertreter fällt sehr knapp aus.

Lesen?

Sprache und Sein ist grundsätzlich ein lesenswertes Buch. Wenn Gümüşay schreibt: "Jedes Wort hat Wirkung. Menschen verändern sich durch die Worte, mit denen wir sie beschreiben. Sie werden zu dem, was ihnen zugeschrieben wird", kann man ihr nur zustimmen. Wie sich so eine selbsterfüllende Prophezeiung im Alltag auswirkt, lässt sich z. B. in dem 1983 erschienenen Buch Anleitung zum Unglücklichsein des österreichischen Psychologen Paul Watzlawick sehr anschaulich nachvollziehen. Das Phänomen und dass darüber geschrieben wird ist also keineswegs neu, es ist aber gut, dass es wieder mehr ins Bewusstsein der Menschen gerückt wird.

Irritierend wirkt teilweise allerdings die Auswahl der Zitate, die das Buch durchziehen. Warum eine Feministin wie Gümüşay z. B. ausgerechnet auf ein Zitat von Friedrich Nietzsche zurückgreift, der mit zahlreichen frauenfeindlichen Äußerungen "geglänzt" hat, erschließt sich mir nicht. 

Was mich aber deutlich mehr gestört hat, ist die Festlegung auf die gesprochene und geschriebene Sprache. Sprache ist schließlich nicht nur verbal, sondern besteht auch aus einem breiten nonverbalen Spektrum von Symbolen bis zur Gestik und Mimik. Ausgrenzung kann auch durch einen verächtlichen Blick oder eine Beschilderung erzeugt werden.

Und was letztlich auch nicht durchdacht ist, ist die Einteilung der Menschen in die Benannten und Unbenannten. Nicht nur, dass es sich dabei um sehr große Schubladen handelt, gegen die Gümüşay doch eigentlich anschreibt; diese Art der Kategorisierung verkennt, dass mit den Frauen eine Hälfte der Bevölkerung immer wieder mit Misogynie und damit Ausgrenzung konfrontiert wird und das, obwohl es sich bei ihnen nicht um eine andersartige Randgruppe handelt. Doch nach Gümüşays Definition gehören sie zu den Unbenannten, die über Privilegien verfügen.

Durchaus mit gemischten Gefühlen kann man auch eine Szene betrachten, über die Gümüşay schreibt: Kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wird sie als 13-Jährige in der U-Bahn von einer Frau auf ihr Kopftuch angesprochen und gefragt, ob sie es freiwillig trage - trotz der politischen Situationen in Saudi-Arabien, im Iran und Irak. Damals antwortete sie: "Damit habe ich nichts zu tun. Das ist nicht mein Islam." Fünfzehn Jahre später hielt sie allerdings im vom Hamburger Verfassungsschutz beobachteten Islamischen Zentrum Hamburg (IZH) einen Vortrag. Das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz bewertete das IZH schon 2004 als verlängerten Arm der Teheraner Revolutionsführung mit dem Ziel, "islamistisches Gedankengut nach heimatlichem Vorbild in Deutschland zu verbreiten". Wie schlecht es um die Gleichberechtigung der Frauen im Iran bestellt ist, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben.
 
Auch Gümüşays Nähe zur islamischen Bewegung 
Millî Görüş mit ihrem Antisemitismus und ihrer Integrationsfeindlichkeit sowie einer Ideologie, die durch Minderheiten- und Frauenfeindlichkeit sowie Homophobie geprägt ist, ist irritierend und mit der Kübra Gümüşay, wie sie sich selbst ihrem Buch beschreibt, nur schwer in Einklang zu bringen.

Sprache und Sein ist 2020 im Hanser Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 18 Euro.


Freitag, 20. August 2021

# 304 - Wie legt man einen Neuanfang hin?

Der fernste Ort, das ist für den Protagonisten Julian
nicht etwa ein weit entfernter Planet, sondern der Ort, an dem er ein neues Leben anfangen will.

Der österreichische Autor Daniel Kehlmann hat in seinem 2001 erschienen Buch das Porträt eines jungen Mannes gezeichnet, der sein Leben als Sackgasse wahrnimmt. Julian arbeitet bei einer Versicherung, aber er ist dort eher hineingestolpert, als dass er sich aus Überzeugung um die Anstellung gekümmert hätte. Er mag seinen Kollegen nicht, und auch sein Chef ist ihm unsympathisch. Ausgerechnet dieser nimmt ihn zu einem Kongress nach Italien mit. Julian soll dort einen wichtigen Vortrag halten.

Zwei Stunden, bevor Julians Rede geplant ist, hat sein Entwurf genau null Wörter. Ein Desaster. Da es jetzt auch nicht mehr darauf ankommt, beschließt er, im See neben dem Hotel schwimmen zu gehen. Der Portier ermahnt ihn, vorsichtig zu sein, erst kürzlich sei hier ein Mann ertrunken. Julian nimmt seine Brille zum Schwimmen ab und sieht seine Umgebung nur noch schemenhaft. Nach wenigen Minuten hat er die Orientierung verloren und spürt, dass aus der Tiefe etwas nach ihm greift und ihn nach unten zieht. Er kämpft um sein Leben und kommt am Ufer wieder zu sich. Wie er dorthin gekommen ist, weiß er nicht. Doch er sieht seine Chance, seinem Leben eine entscheidende Wendung zum Besseren zu geben: Julian will seinen Tod vortäuschen. Sein Ziel: "Ultima Thule", der "fernste Ort" in Norwegen, von dem einst seine Deutschlehrerin gesprochen hatte.

Kehlmann skizziert seine Hauptfigur als einen Menschen, dem Emotionen fremd sind und der alle Ereignisse nur sachlich wahrnimmt. Als Kind steht er im Schatten seines hochbegabten Bruders Paul, der ihn seine Überlegenheit immer wieder spüren lässt. Die Trennung seiner Eltern ruft bei Julian keine Erschütterung hervor, ebenso wenig der Suizid seiner Mutter oder die Totgeburt, die seine Freundin erleidet. Das Abitur besteht er nur mit Pauls Unterstützung, die Uni besucht er antriebs- und interesselos. Seine Doktorarbeit über einen (fiktiven) niederländischen Mathematiker und Philosophen des Barock wird von der Fachpresse verrissen. Seine Umwelt nimmt ihn - wenn überhaupt - als einen Niemand wahr, und das entspricht auch dem Bild, das Julian über sich selbst hat.

Lesen?

Der fernste Ort verfolgt eine Idee, die wahrscheinlich viele Menschen (gehabt) haben: Einfach alles hinter sich zu lassen und irgendwo anders komplett neu anzufangen. Kehlmanns Hauptperson Julian scheint die Gelegenheit beim Schopf zu packen, aber so ganz genau weiß man es nicht. Die Welt um Julian wird mit seinem Erlebnis im See immer surrealer und scheint zu verschwimmen. Da sind plötzlich sein Bruder, der ihm Geld zusteckt, ein Nachtclub-Besitzer, der ihn ohne Bezahlung mit einem Reisepass aus seiner Schreibtischschublade versorgt oder zwei schwarzgekleidete Räuber, die ihm beides wieder abnehmen. Alle diese Personen wirken äußerlich wie Doppelgänger von Menschen, die vor dem Badeunfall Teil seines Lebens waren: Der Nachtclub-Chef hat frappierende Ähnlichkeit mit Julians Chef in der Versicherung, die Räuber sind seinen Kollegen wie aus dem Gesicht geschnitten.

Man ahnt, dass Julian in einer Art Zwischenwelt steckt, in der sich Erinnerungen mit Phantasien zu etwas Neuem vermengen, und auch, dass er Norwegen nicht auf die Art erreichen wird, die er sich vorgestellt hat.

Leseempfehlung? Ich bin unentschlossen.

Der fernste Ort ist 2001 im Suhrkamp Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 17,80 Euro, als Taschenbuch 8 Euro sowie als E-Book 7,99 Euro.

Montag, 16. August 2021

# 303 - Die Düsternis lauert in jeder Ecke: ein Krimi aus dem isländischen Hochland

Fast sechs Jahre ist es her, dass ich hier in der Bücherkiste ein Buch eines isländischen Autors vorgestellt habe. Damals war es der auch außerhalb seiner Heimat sehr bekannte Arnaldur Indriðason, heute ist es Ævar Örn Jósepsson, dessen Krimi Blutberg 2009 auf Deutsch veröffentlicht wurde. Auf ihn bin ich zufällig gestoßen.

Das Buch ist der zweite von vier (deutschen) Bänden um Kommissar Árni Eysteinsson, der bei der Mordkommission in Reykjavík arbeitet. Er und seine Kollegen werden nach Ostisland geschickt. Beim Bau des Kárahnjúkar-Kraftwerks kam es zu einem Unfall, bei dem sechs Männer in den Tod gerissen wurden: Ein Felsvorsprung hatte sich plötzlich gelöst und die Menschen unter sich begraben. Bei dem siebten Toten geht man zuerst von einem Selbstmord aus, aber die Kriminaltechniker kommen zu einem anderen Ergebnis. Dass auch der isländische Geheimdienst in betont brachialer Manier auf der Mega-Baustelle auftaucht und ohne Rechtsgrundlage Arbeiter verhaftet, macht die Ermittlungen der Polizei nicht einfacher.

Das Wasserkraftwerk wurde gebaut, um ein Aluminiumwerk mit Strom zu beliefern. Es gehört zu den größten Wasserkraftwerken Europas und hatte vor und während seines Baus in der isländischen Bevölkerung für hitzige Diskussionen gesorgt, da mit dem Bauwerk große Naturflächen zerstört wurden. 
Der Konflikt Ökonomie vs. Ökologie zieht sich durch den ganzen Krimi. Und so verwundert es nicht, dass schon bald erste Zweifel aufkommen, ob dieser Unfall auch tatsächlich einer war: Der einzige Überlebende, ein portugiesischer Arbeiter, sagt seinem besten Freund im Krankenbett, er habe vor dem Felssturz eine Explosion gehört. Da bei der Polizei Droh-Mails von einer Gruppierung namens Grüne Armee eingehen, könnte an dem Verdacht, dass es sich um einen terroristischen Anschlag gehandelt hat, tatsächlich etwas dran sein.

Die knapp 500 Seiten des E-Books waren ziemlich zäh zu lesen. In die Handlung, die sich über zehn Tage erstreckt, reihten sich Klischees und Vorurteile aneinander wie bei einer Perlenschnur: Bei etwa eintausend Männern, die auf der Baustelle beschäftigt sind, sind der Drogenhandel und die illegale Prostitution nicht weit.  Bei Letzterem wird obendrein noch die Tochter eines zu Árnis Team gehörenden Ermittlers aufgegriffen; es ist ausgerechnet der Kollege, der bis zu diesem Zeitpunkt mit Rassismus und Misogynie "geglänzt" und sich um seine fünf Kinder bislang einen Dreck geschert hat. 
Alle saufen wie die Löcher, obwohl Alkohol verboten ist. Die Sicherheitsingenieure verschließen vor sämtlichen Missständen die Augen. Über der Szenerie liegt das lebensfeindliche Wetter des isländischen Winters und die Abgeschiedenheit der Baustelle.

Auch mit Stereotypen, die den verschiedenen Nationalitäten zugeschrieben werden, wird nicht gespart: Die Italiener denken und handeln in mafiösen Strukturen und halten sich in ihrem Feierabend an der Rotweinflasche fest, die Chinesen sind Arbeitsbienen mit einem nonstop im Gesicht festgefrorenen Lächeln, die Portugiesen sind von der Sonne verwöhnte Weicheier... Voller Verwunderung wird zwischendurch registriert, dass auch Isländer kriminell sein können.

Jósepsson nutzt sein Buch auch dazu, um einige für Island relevante Konfliktthemen unterzubringen: Neben der bereits erwähnten Zerstörung der Natur kritisiert der Autor auch den Umgang mit den ausländischen Arbeitern, die für Billiglöhne unter unsagbaren Bedingungen schuften. Die Baufirma hat da schon mal vorgesorgt: Für den schlimmsten Fall hat man in einer Halle ein paar Dutzend Aluminiumsärge gestapelt. 

Die isländische Tageszeitung Morgunblaðið lobte Jósepsson nach dem Erscheinen von Blutberg für dessen "prägnante Dialoge". Tatsache ist: Informationen über den Fortgang der Handlung erfahren die Leser in erster Linie über die Monologe der ermittelnden Beamten. Vor allem Árnis Vorgesetzter Stefán ist in dieser Disziplin ein Experte. 

Lesen?

Blutberg hat so etwas wie ein halboffenes Ende: Der Verantwortliche für den Absturz des Felsens wurde gefunden, aber die Bedrohung des Bauwerks durch dessen Gegner geht weiter. An diesem Punkt hätte Jósepsson auch ankommen können, wenn er seinen Krimi um etwa ein Drittel kürzer gehalten hätte.

Blutberg ist 2009 beim btb Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 8,90 Euro sowie als E-Book 8,99 Euro.


Freitag, 6. August 2021

# 302 - Wie ein Leben zerstört wird - Die Geschichte einer Vergewaltigung

In ihrem ersten Roman Scham kennt Inès Bayard keine
Zurückhaltung und keine Tabus. Sie schildert gleich zu Beginn, wie eine kleine Pariser Familie ausgelöscht wird - von der Mutter Marie, die während einer gemeinsamen Mahlzeit zuerst ihren Mann Laurent, dann ihren kleinen Sohn Thomas und zum Schluss sich selbst vergiftet. Für sie und den kleinen Jungen kommt der Tod schnell, Laurent hingegen kann ihm knapp entkommen.

Was muss passieren, damit eine Frau solche eine Tat begeht? Inès Bayard beschreibt das Leben, das Marie und Laurent gelebt haben: Er ist erfolgreicher Anwalt, sie ist eine ebenfalls erfolgreiche Vermögensberaterin in einer Bank. Sie sind seit einigen Jahren verheiratet, und um ihr privates Glück komplett zu machen, fehlt ihnen nur noch ein Kind. Bis dahin ist alles fast schon klischeehaft normal.

Doch dann bekommt die Zweigstelle, in der Marie immer gern gearbeitet hat, einen neuen Generaldirektor, den sie während einer internen Konferenz kennenlernt. Er ist der Typ Mensch, der an das Führen von Mitarbeitern gewöhnt ist. Noch am selben Tag findet sie ihr Fahrrad, mit dem sie nach dem Feierabend nach Hause fahren wollte, zerstört vor. Doch da scheint Hilfe aus einer ungewohnten Richtung zu kommen: Ihr neuer Chef bietet ihr an, sie nach Hause zu fahren. Marie schafft es nicht, sein Angebot abzulehnen und mit der Metro zu fahren, und steigt in sein Auto.

Bei der Schilderung dessen, was nun passiert, fällt es schwer, das Buch nicht aus der Hand zu legen. Nicht, weil es schlecht geschrieben wäre; Bayard beschreibt so detailliert, wie Marie von ihrem Vorgesetzten in dessen Auto vergewaltigt wird, dass man beim Lesen gegen die Übelkeit ankämpfen muss. Die Drohung ihres Chefs, ihre und die Karriere ihres Mannes zu vernichten, sollte sie jemandem erzählen, was passiert ist, lässt sie verstummen. Die Polizei wird nie von dieser Tat erfahren.

Die Vergewaltigung zerstört Maries Leben und stellt alles infrage, was ihr bislang wichtig war. Laurent ist für sie nicht mehr der geliebte Ehemann mit seinen sexuellen Bedürfnissen, sondern jemand, der sich heimlich mit Pornos aufgeilt und nicht merkt, dass seine Frau während des Geschlechtsverkehrs Schmerzen hat und alles über sich ergehen lässt. Den Menschen, die ihr immer wichtig waren, fällt zwar Maries Wesensveränderung auf, aber niemand - auch nicht ihre Schwester, ihre Eltern oder enge Freunde - fragt nach. Die Ignoranz derjenigen, von denen Marie immer glaubte, dass sie ihr besonders nahe stünden, ist sehr irritierend und scheint dem Muster "Es kann nicht sein, was nicht sein darf" zu folgen.

Es gibt im Laufe der Handlung für Marie immer wieder Gelegenheiten, sich zu offenbaren, aber sie entschließt sich dann doch, zu schweigen. Warum? Aus Scham und der Angst, dass das Wissen der anderen um das, was ihr zugestoßen ist, ihren Blick auf die junge Frau verändern könnte.

Dann erfährt Marie, dass sie schwanger ist. Ihre Familie und Freunde freuen sich, aber sie ist verzweifelt: Ist es nicht völlig klar, dass das Kind von ihrem Vergewaltiger sein muss? Als der kleine Thomas geboren ist, empfindet Marie nur Abneigung. Sie lässt den Säugling verwahrlosen und denkt darüber nach, wie sie ihn töten könnte. Nichts soll sie mehr an das schrecklichste Ereignis ihres Lebens erinnern.

Ihr ist mittlerweile alles Zwischenmenschliche fremd geworden. An ihrem Arbeitsplatz ist sie isoliert, und am Verhalten einiger Frauen glaubt sie ablesen zu können, dass diese ebenfalls wie sie vergewaltigt wurden. Sollte man da nicht zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen? Die Abwehr der Frauen deutet sie nicht als ihren Irrtum, sondern als eine Verstörung, wie sie selbst empfindet.

Laurent wird misstrauisch und bittet einen befreundeten Arzt heimlich, einen DNA-Test zu machen. Sollte seine Frau fremdgegangen sein? Durch einen Zufall erfährt Marie davon. Nun steht ihr Plan fest.
Der Arzt spricht das Testergebnis auf Laurents Mailbox, als dieser bereits um sein Leben ringt.

Lesen?

Scham ist über weite Strecken harte Kost. Bayards Schreibstil ist unmittelbar, hart und direkt, wodurch man in das Geschehen hineingezogen, aber gleichzeitig auch abgestoßen wird. Die Gewalt, die Marie angetan wird, stellt Bayard plastisch, aber ohne Effekthascherei dar.

Leseempfehlung? Wem die geschilderten Szenen möglicherweise zu nahe gehen, sollte das Buch eher nicht lesen. Das, was Marie widerfahren ist, geht an einem nicht spurlos vorüber. Bayard ist es gelungen, die Zerrissenheit in Marie sichtbar zu machen und zu erklären, warum diese keinen Weg gefunden hat, sich jemandem anzuvertrauen.

Scham ist 2020 im Paul Zsolnay Verlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 22 Euro sowie als E-Book 16,99 Euro.

Sonntag, 1. August 2021

# 301 - Königin Olga, die gute Seele von Württemberg

 Der Text auf dem Schutzumschlag beginnt mit den Worten: "Bis heute ist sie unvergessen." Aber ich will ehrlich sein: Bevor ich das Buch Königin Olga - Die Zarentochter auf dem württembergischen Thron von Antje Windgassen zur Hand genommen habe, hat mir ihr Name nichts gesagt. 

Die württembergische Königin Olga wurde 1822 geboren und war das dritte Kind von Zar Nikolaus I. und seiner Frau, der Zarin Alexandra Fjodorowna. Sie wuchs behütet und sorgenfrei im Kreis ihrer Familie auf, was auch daran lag, dass die Ehe ihrer Eltern nicht arrangiert worden war, sondern aus Liebe geschlossen wurde. Das war für den Adel der damaligen Zeit ungewöhnlich, doch Nikolaus und Alexandra ließen ihren sieben Kindern bei der Wahl ihrer Partner oder Partnerinnen freie Hand.

Olga verliebte sich in den Kronprinzen Karl von Württemberg, und die beiden heirateten 1846 in St. Petersburg. Damit war Olga für damalige Verhältnisse ein "spätes Mädchen". Sie wünschte sich immer eine große Familie und war vom ambivalenten Verhalten ihres Mannes sehr irritiert: Tagsüber kümmerte er sich vorbildlich um seine Frau und zeigte ihr seine Verehrung und Liebe - doch am späten Abend brachte er Olga bis zur Tür ihres Schlafgemachs und verabschiedete sich dann von ihr.

Doch der Tag kam, an dem er seiner Frau gestand, dass er zwar starke Gefühle für sie habe, er sexuell sich aber nur zu Männern hingezogen fühlt. Olgas Traum, Mutter vieler Kinder zu werden, zerplatzte. Doch sie bewies Größe: Karl sollte seine Beziehungen zu Männern zwar ausleben, dies sollte aber diskret geschehen, um keinen Skandal heraufzubeschwören.

Olga hat sich als Königin von Württemberg um mehrere karitative Einrichtungen gekümmert, was sie sehr beliebt gemacht hat. Ihr lagen besonders die Bildung von Mädchen sowie die Unterstützung von behinderten oder im Krieg verwundeten Menschen am Herzen. Auf ihr Engagement gehen auch die Einrichtung einer Krankenpflegeschule und die Versorgung der einhundert Ortschaften auf der Schwäbischen Alb mit Wasser zurück.

Ihr Kinderwunsch sollte sich dann doch noch erfüllen - auf eine andere Weise, als sich Olga das vorgestellt hatte. Die Freude darüber wurde später von einer großen Illoyalität ihres Mannes überschattet, der dafür teuer bezahlen musste.

Lesen?

Königin Olga - Die Zarentochter auf dem württembergischen Thron ist ein interessantes Buch, das durch die eingestreuten persönlichen Erinnerungen Olgas sehr authentisch ist. Diese Aufzeichnungen sind zwischen April und Oktober 1892 entstanden, als Königin Olga spürte, das ihr nicht mehr viel Zeit bleiben würde.
Antje Windgassen hat sich fast durchgehend an die zeitliche Abfolge der Ereignisse gehalten, sodass man nicht nur viel über die deutsche, sondern auch die europäische Geschichte erfährt. Sie streift beispielsweise die Hungersnöte, die zur massenhaften Auswanderung von Württembergern führten, ebenso wie das "Jahr ohne Sommer": Durch einen Vulkanausbruch auf einer indonesischen Insel im Jahr 1815 sanken die Temperaturen ein Jahr später in Teilen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz so dramatisch, dass noch im Mai 1816 die Brunnen zufroren und ab Juni so viel Regen fiel, dass das Getreide verfaulte. Viele Menschen starben; wer konnte, floh.

Wenn man Kritik am Buch üben wollte, dann die, dass es nicht den geringsten Makel an Olgas Charakter gegeben zu haben scheint. Auch die Stellung der Adelshäuser wirkt etwas entrückt, das gemeine Volk ist oft nur eine Randerscheinung. Der Verlag beschreibt den Titel jedoch als Romanbiografie, sodass man nicht den Rundumblick eines Sachbuchs erwarten sollte. 

Die teilweise sehr ähnlichen Namen der Angehörigen des Adels und ihre Verwandtschaftsbeziehungen sind verwirrend, aber das am Ende des Buches angefügte Personenverzeichnis hilft bei der Orientierung. Ein Glossar erklärt außerdem Begriffe, die für uns nicht (mehr) alltäglich sind.

Antje Windgassens flüssiger Schreibstil sorgt für etliche Stunden Lesevergnügen, weshalb ich dieses Buch empfehlen kann.

Königin Olga - Die Zarentochter auf dem württembergischen Thron ist 2021 im Südverlag erschienen und kostet als gebundenes Buch 22 Euro.