Samstag, 30. Oktober 2021

# 314 - Alle drei Tage

Um dieses Buch habe ich mich etwas herumgedrückt,
weil ich mir nicht sicher war, ob ich das, was darin steht, aushalten würde. Aber dann hat das Interesse am Thema überwogen. Einem Thema, das in anderen Ländern längst in der Öffentlichkeit angekommen ist, nur nicht in Deutschland.

Worum geht's? Laura Backes und Margherita Bettoni sehen sich an, was da Alle drei Tage passiert: In diesem statistischen Abstand wurde 2019 in Deutschland eine Frau von ihrem ehemaligen oder aktuellen Partner getötet. Zu diesen Verbrechen kommen die Tötungen von Frauen durch Männer hinzu, die ihnen unbekannt waren. Etwa täglich versucht ein Mann, seine jetzige oder ehemalige Partnerin zu töten. Die Zahlen beruhen auf der jährlichen Statistik "Partnerschaftsgewalt" des Bundeskriminalamtes. Müsste das nicht einen gesellschaftlichen Aufschrei auslösen? Nicht nur von den Frauen, sondern auch den Männern, denen die Frauen in ihrem Umfeld wichtig sind? Immerhin waren diese Frauen auch Töchter, Schwestern, Freundinnen, Kolleginnen...

In den Medien ist dieses Thema praktisch nicht präsent. Warum interessiert sich fast niemand dafür? Backes und Bettoni kritisieren, dass solche Taten begrifflich mit Worten wie "Beziehungstat" oder "Familientragödie" verbrämt werden, als habe es sich um Schicksalsschläge gehandelt und nicht um das, was sie letztendlich sind: Taten, mit denen der Täter seine Macht demonstrieren oder wiederherstellen will. Die Frau wird hier als etwas gesehen, das man besitzen kann. Wendet sie sich ab, wird mit dem oft tödlichen Angriff "sichergestellt", dass sie keinem anderen Mann als dem Täter gehören soll. Dahinter steckt ein zutiefst patriarchalisches Rollenbild.

Die Autorinnen sprechen in ihrem Buch von Femiziden. Einerseits, weil dieser Begriff mittlerweile in zahlreichen Ländern verwendet wird; andererseits wollen sie deutlich machen, dass Frauen wegen ihres Geschlechts oder fester Vorstellungen, was Weiblichkeit ausmacht, getötet werden.

Jeder versuchte oder vollendete Femizid ist für sich genommen zwar ein Einzelfall, aber dass diese Fälle einem bestimmten Muster folgen, ist nicht zu übersehen. Der Ablauf erfolgt stufenförmig, wobei jede Stufe einen kurzen Moment oder auch Jahre dauern kann. Mit diesem Wissen könnte man meinen, dass es bereits ein Mindestmaß an staatlicher Prävention geben müsste. Das ist jedoch nicht so: Weder in der Politik noch in Behörden ist das Interesse an der Situation, in der sich Frauen befinden, besonders ausgeprägt. 

Backes und Bettoni haben sich mit Opfern unterhalten oder Gerichtsprozessen beigewohnt. Sie wollten außerdem wissen, ob es einen bestimmten Tätertyp gibt, der mit größerer Wahrscheinlichkeit einen Femizid begehen könnte. Die Autorinnen wollten auch herausfinden, wie es den überlebenden Opfern geht und inwieweit sie in ein normales Leben zurückgefunden haben. Auch die Angehörigen von getöteten Frauen kommen zu Wort. Und es wird mit einem Vorurteil aufgeräumt, das sich hartnäckig hält: Es lässt sich empirisch nachweisen, dass nicht vor allem Frauen nichtdeutscher Herkunft häusliche Gewalt erleben. Vielmehr haben Frauen in bestimmten Lebenssituationen (z. B. Obdachlosigkeit oder mit einer Behinderung) ein erhöhtes Risiko, von einem gewalttätigen Partner angegriffen zu werden.

Alle drei Tage behandelt auch die Frage, wie die Rechtsprechung mit Femizid-Opfern und -Tätern umgeht. Gibt es da eine etwa einheitliche Beurteilung oder werden bestimmte Fälle von den Gerichten in einem anderen Licht gesehen? Hier spielen Urteile des Bundesgerichtshofs eine große Rolle. In einigen anderen Ländern ist man hier zwar schon weiter, allerdings macht eine ignorante Umsetzung der bestehenden Gesetze die Situation nicht besser.

Lesen?

Alle drei Tage zeigt überdeutlich, wie nötig es ist, dieses Thema in die Gesellschaft hineinzutragen. Dazu müssen nicht nur die Medien, sondern auch Politik und Rechtsprechung an einem Strang ziehen. Dieses Buch berührt und macht wütend - eben weil in unserem Land so wenig passiert, um (versuchten) Femiziden entgegenzutreten. Es fehlt nicht nur an Plätzen in Frauenhäusern, sondern auch an Angeboten für ein Anti-Gewalt-Training sowie einer klareren Gesetzgebung und Rechtsprechung. 

Es ist gut, dass sich der Titel auf der Longlist des NDR Sachbuchpreises befindet und so mehr Aufmerksamkeit bekommt.

Alle drei Tage ist 2021 bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen und kostet 20 Euro.

Freitag, 22. Oktober 2021

# 313 - Wer ermordet irische Landfahrer? Ein chaotischer Ex-Polizist ermittelt

 Jack Taylor liegt falsch ist 2010 in der deutschsprachigen Ausgabe erschienen und der zweite Teil der Jack Taylor-Reihe des irischen Krimi-Autors Ken Bruen. Bruen ist in der Bücherkiste kein Unbekannter: Vor vier Jahren habe ich hier über sein Buch Brant geschrieben, in dessen Mittelpunkt ebenfalls ein ziemlich gewöhnungsbedürftiger Polizist steht.

Jack Taylor ist eine gescheiterte Persönlichkeit: Nachdem er als Polizist geschasst wurde, hat er sein Glück als Privatermittler versucht. Aber auch hier hat er den Karren mit Schwung in den Dreck gefahren. Danach hat Jack versucht, in London Fuß zu fassen, aber alkoholkranke Chaoten haben es in praktisch jedem Job schwer.

Nun ist Jack wieder in seiner irischen Heimatstadt Galway. Zum Alkohol hat sich jetzt auch noch Kokain gesellt, er ist ganz unten angekommen. Trotzdem gibt es noch Leute, die ihn für einen guten Ermittler halten. Durch eine Empfehlung wird Sweeper auf Jack aufmerksam und bittet ihn um Hilfe: In den letzten sechs Monaten sind vier Landfahrer ermordet worden. Doch die Polizei lehnt ab, zu ermitteln: Sie ist der Meinung, dass sich die "Landstreicher" gegenseitig umbringen. Der befreundete Ex-Polizist Brendan Flood gibt Jack einen Tipp: Alle getöteten Männer waren Ende zwanzig und wurden nackt und verstümmelt gefunden. Der Mörder scheint systematisch vorzugehen.

Flood hat einen weiteren Hinweis: Er rät Jack, mit dem englischen Sozialarbeiter Ronald Bryson zu sprechen. Der arbeitet in der Simonsgemeinde, die eine Unterkunft für Obdachlose unterhält. Alle Opfer wurden in der unmittelbaren Umgebung gefunden. Führt der Tipp Jack auf die richtige Spur?

Lesen?

Jack Taylor liegt falsch wird das einzige Buch sein, das ich aus dieser Reihe lesen werde. Nach etwa der Hälfte habe ich abgebrochen. Für meinen Geschmack ist Jacks Kaputtheit so ausufernd beschrieben worden, dass sie den eigentlichen Fall überlagert. Das Genre Crime Noir ist spannend, aber wenn ich Persönlichkeitsstudien lesen will, greife ich zu anderen Titeln.

Jack Taylor liegt falsch ist in der mir vorliegenden Ausgabe im Atrium Verlag erschienen. Zwei Jahre später wurde der Titel als Taschenbuch bei dtv herausgebracht und kostet nun 11,90 Euro. 

Sonntag, 17. Oktober 2021

# 312 - Ein Roadtrip mit der Mutter durch die Familiengeschichte

1995 gelang Christian Kracht mit seinem Debütroman Faserland ein großer Erfolg: Ein junger Mann in seinen Zwanzigern, aufgewachsen in einer reichen Familie, reist von Sylt in mehreren Etappen Richtung Süden, erlebt teils verstörende Situationen und fühlt sich erst in Zürich, dem Endpunkt seiner Reise, wohl. 

Mit seinem neuesten Buch Eurotrash setzt Kracht die Reise des damals namenlosen Ich-Erzählers fort. Doch diesmal wird klar: Im aktuellen Roman geht es um ihn selbst - aber nicht nur. 

Christian Kracht wird von seiner Mutter angerufen, die ihn bittet, möglichst bald zu ihr nach Zürich zu kommen. Die über 80-jährige demente Mutter wird als gescheiterte Person geschildert: eine alkohol- und tablettenabhängige Frau, die Zeiten in der geschlossenen Psychiatrie hinter sich hat und in den letzten Jahren, in denen sie zu Hause lebte, von ihrer Haushälterin massiv bestohlen wurde, ohne es zu merken. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit mäkelt sie an ihrem Sohn herum. Der Reichtum, in dem sie ihr Leben verbracht hat, hat sie nicht glücklich gemacht. Die Sammlung an Schuhen und Zobelmänteln hat sie nicht aus ihrem psychischen Leid herausgeführt (wie auch?). Die Scheidung von ihrem Mann hat sie offenbar einsam und zynisch gemacht.

Kracht kommt bei seiner Mutter an und es dauert nicht lange, bis der erste Streit zwischen ihnen losbricht. Er erkennt, dass sich ihr Gespräch nach einem seit Jahrzehnten wiederholenden Muster entwickelt hat und beschließt spontan, dieses Muster an Ort und Stelle zu durchbrechen. Den ersten Gedanken, der Kracht in den Sinn kommt, spricht er sofort aus: Er schlägt seiner Mutter vor, gemeinsam zu verreisen. Sofort. Ein paar Sachen sind schnell gepackt, leider realisiert Kracht erst jetzt, das seine Mutter ein Stoma trägt und nun er derjenige sein wird, der es regelmäßig wechseln muss.

Mit 600.000 Franken in der Plastiktüte machen sie sich im Taxi auf den Weg. Mutters Wunsch: endlich die Elefanten in Afrika sehen. Was daraus wird: eine Fahrt durch die Schweiz, in deren Verlauf Mutter und Sohn an Orten Halt machen, die ihre Leben geprägt haben. Die Demenz der Mutter ist so weit fortgeschritten, dass sie sich nicht nur an Ereignisse aus der Vergangenheit kaum erinnern kann, sondern auch nicht erkennt, dass sie von ihrem Sohn permanent belogen wird: Sie glaubt ihm, dass es sich bei einer Herberge einer alternativen Kommune um ein gutes Hotel handelt und auch, dass er tatsächlich vor hat, mit ihr nach Afrika zu fliegen. Der Taxifahrer hat am Ende der Fahrt keine finanziellen Sorgen mehr.

Lesen?

Eurotrash ist mehr als nur die Erzählung eines seltsamen Roadtrips. Kracht schildert, wie sehr seine Familie mit dem Nationalsozialismus verwoben war, wie sein Vater zu seinem großen Vermögen gekommen ist und wie er selbst dessen Zurschaustellung seines Reichtums verachtet. Er beschreibt den Vater, der ebenfalls Christian Kracht hieß, als einen Menschen, der immer nach Anerkennung gierte und sich mit den Symbolen eines reichen Menschen umgab, ohne das entsprechende Auftreten zu haben. 

Wie nebenbei fallen zahlreiche Namen bekannter Personen, mit denen die Familie wie selbstverständlich Umgang hatte: Ein Haus wurde von Margie Jürgens, der Witwe des Schauspielers Curd Jürgens, zum Kauf angeboten; Kracht sen. war die rechte Hand des Verlegers Axel Springer, was ihn zu einem reichen Mann machte; der britische Erfolgsautor William Somerset Maugham war der Nachbar der Familie Kracht; ein anderer Nachbar war Mohamed Al-Fayed, der Freund der britischen Prinzessin Diana, der mit ihr bei einem Autounfall in Paris 1997 ums Leben kam; der Vater hatte in der gepanzerten Villa des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß mit dem Hausherrn Fisch gegessen, während seine Frau draußen im Auto wartete. 

Die Schilderung der Fahrt wird immer wieder durch Betrachtungen der Leben von Eltern und Großeltern unterbrochen.
Der Großvater mütterlicherseits war Untersturmführer der SS. In einem verriegelten Schrank fand man nach seinem Tod sadomasochistische Sex-Utensilien.
Krachts Mutter war als Elfjährige mehrmals von einem Fahrradhändler vergewaltigt worden, der einer Strafe dadurch entging, dass er mit dem damaligen örtlichen NSDAP-Bürgermeister verwandt war. Diese Erfahrung teilt sie mit ihrem Sohn, der im ähnlichen Alter im Internat von einem Geistlichen missbraucht wurde.
Der 1921 geborene Vater wollte verhindern, als Soldat an die Ostfront geschickt zu werden. Ein befreundeter Stabsarzt setzte ihn daraufhin in die eiskalte Elbe und injizierte ihm sicherheitshalber Typhuserreger, damit Kracht sen. nicht als Kanonenfutter dienen musste.

Kracht spricht die lückenhafte Entnazifizierung in Deutschland nach dem 2. Weltkrieg, den Erfolg von rassistischen Kinderbüchern in den 1950-er und 1960-er Jahren und das Doppelleben seines häufig fremdgehenden Vaters an.

Aber: Das Buch hat nur etwas mehr als 200 Seiten. Auf diesen Seiten drängen sich Fakten und Erzählungen, denen jedoch jeweils nicht viel Raum gegeben wird, um sich wirklich zu entfalten. Unklar bleibt, ob es diese spontane Kurzreise mit der Mutter wirklich gegeben hat und Kracht sie so wiedergibt, wie sie sich abgespielt hat. In diesem Fall wäre die Themenvielfalt nachvollziehbar. Sollte die Figur des Christian Kracht im Roman nicht mit der Person des Autors übereinstimmen, wäre sie es nicht.

Eurotrash ist 2021 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen und kostet 22 Euro. 
Der Roman ist für den Deutschen Buchpreis 2021 nominiert worden.

Freitag, 8. Oktober 2021

# 311 - Liebe, Tod und Bücher - eine Familiengeschichte

Die österreichische Schriftstellerin Monika Helfer veröffentlicht ihre Werke bereits seit Ende der 1970-er Jahre, einem breiten Publikum wurde sie allerdings erst 2020 mit dem Erscheinen ihres Buches Die Bagage bekannt, in dem sie über ihre Großeltern, deren Kinder und die allgegenwärtige Armut schreibt, in der die Familie in einem Bergdorf lebte.

Nur ein Jahr später ist nun Vati erschienen. Monika Helfer fand, dass ihr Vater in ihrer Familiengeschichte bislang zu kurz gekommen war und widmet ihm nun ein eigenes Buch. Der Vater war Kriegsinvalide und leitete ab 1955 ein Kriegsversehrten-Erholungsheim auf dem Hochplateau Tschengla im Brandnertal (Vorarlberg). Das Leben dort war für Helfer und ihre Geschwister frei und glücklich. Das Glück fand ein Ende, als die Mutter an Krebs erkrankte und verstarb. Der Tod seiner Frau warf den Vater derart aus der Bahn, dass er plötzlich verschwand, ohne sich von seinen Kindern zu verabschieden. Diese wurden unter den Schwestern der verstorbenen Mutter aufgeteilt - die drei Mädchen kamen zu der einen, der kleine Bruder, der noch ein Baby war, zu einer anderen Schwester.

Das Leben insbesondere der drei Schwestern bei ihrer Tante und deren Familie war von Armut, Sprachlosigkeit und Verhaltensweisen der Erwachsenen geprägt, mit denen die Mädchen zunächst nicht umgehen konnten. Ihr Vater blieb für sie verschwunden, und niemand sprach über ihn. Doch eines Tages erfuhren sie, wo er sich seit der Beerdigung der Mutter aufgehalten hatte. Als sie ihn nach langer Zeit zum ersten Mal wiedersahen, war er ihnen fremd geworden.

Monika Helfer versucht, aus Teilen der eigenen Erinnerung und der ihrer Schwestern sowie der Stiefmutter ein Bild ihres Vaters zusammenzusetzen, aber das gelingt nur unvollständig. Dessen ungewöhnliche Art, Bücher zu lieben, wirkt irritierend: Es ging ihm nicht nur darum, sie zu lesen, sondern auch zu besitzen und immer wieder zu berühren. Die Art und Weise, wie ein Mensch ein Buch aus dem Regal nimmt, war für den Vater entscheidend: War sie falsch, hatte es dieser Mensch bei ihm schwer. 
Als er versuchte, die gespendeten Bücher des Erholungsheims zu retten, weil die Einrichtung umgewandelt und darum die dortige Bibliothek aufgelöst werden sollte, machte er sich strafbar. Die Erkenntnis, dass man ihm bei einer Inventur auf die Schliche kommen und bestrafen würde - was seine Familie in den sozialen Abgrund gestoßen hätte - brachte ihn zu einem Selbstmordversuch. Er hatte Glück und wurde rechtzeitig gefunden, aber die Tat und der anschließende lange Krankenhausaufenthalt entfremdete ihn vor allem von seinen Kindern.

Helfers einfache und direkte Art zu schreiben erzeugt eine unmittelbare Nähe zur Handlung. Es tut förmlich weh zu lesen, wie wenig auf die Bedürfnisse der Kinder, die ihre Mutter verloren hatten, Rücksicht genommen wurde. Der Vater ergab sich seinem eigenen Schmerz und hatte seine Kinder darüber völlig vergessen. Die Tanten taten das, was sie für das Beste hielten; emotionale Zuwendung kam darin nicht vor.

Das Augenmerk der Familie lag nach einiger Zeit vor allem darauf, dass der Vater nicht noch weiter verkommen sollte. Das hieß: Er musste wieder heiraten. Das war für einen Einbeinigen mit vier Kindern nicht so einfach, aber einer von Monika Helfers Onkeln hat die Sache in die Hand genommen und eine geeignete Kandidatin gefunden, die für die Hochzeit alle eigenen Pläne über Bord geworfen hat. Warum sie das tat, blieb unerklärt.

Lesen?

Monika Helfer hat mit Vati keine Abrechnung mit ihrem Vater vorgelegt. Sie macht ihm an keiner Stelle einen Vorwurf für sein oft rätselhaftes Verhalten. Das Buch ist eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und der Geschichte ihrer Familie. Man spürt den Wunsch der Autorin, für Dinge, die sie als Kind nicht verstanden hat, als Erwachsene eine Erklärung zu finden.

Vor einiger Zeit habe ich Die Bagage gelesen. Es ist keine Voraussetzung, das Buch kennen zu müssen, um Vati zu verstehen, es macht das Verständnis jedoch einfacher. Allerdings hatte ich bei etlichen Abschnitten in Vati den Eindruck, sie schon zu kennen. Beide Bücher sind inhaltlich so dicht beieinander wie zwei verschränkte Hände.

Vati ist für den Deutschen Buchpreis 2021 nominiert.
Das Buch ist 2021 im Carl Hanser Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 20 Euro sowie als E-Book 15,99 Euro.


Freitag, 1. Oktober 2021

# 310 - Vision eines Rechtsrutsches in Österreich

Beim Lesen des Blogtext-Titels könnte man natürlich
einwenden: Ist Österreich nicht ohnehin schon ganz schön weit rechts? Ja schon, aber wenn man den Krimi Rechtswalzer des österreichischen Schriftstellers Franzobel liest, dann merkt man: Da geht noch eine ganze Menge.

Freitag, der 6. Dezember 2024 ist für den Wiener Malte Dinger ein rabenschwarzer Tag. Der bislang erfolgsverwöhnte Gastronom lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in gutsituierten Verhältnissen, achtet beim Einkaufen auf die Herkunft der Produkte, trennt seinen Müll und tritt für benachteiligte Menschen ein. Er gibt sich Mühe, ein guter Ehemann und Vater zu sein und blickt zufrieden auf sein Leben. Doch dann wendet sich das Blatt abrupt: Auf dem Weg zur U-Bahn findet Malte ein Smartphone. Bevor er sich entscheiden kann, was er damit als nächstes tun wird, empfängt das Gerät einen Anruf. Eine Stimme bezeichnet ihn als Arschloch und sagt voraus, dass es mit Maltes Glück nun vorbei ist. "Du bist raus, kapiert? Raus. Du hast ausgeschissen in der Welt!"

Und so ist es. Den Auftakt der unvergleichlichen Pechsträhne erlebt Malte in der U-Bahn: Zwei Kontrolleure fordern ihn auf, seinen Fahrschein vorzuzeigen. Doch an der Stelle in seiner Brieftasche, an der sich normalerweise die Monatskarte befindet, ist nichts. Maltes Frau, die die Karte am Tag zuvor benutzt hatte, hatte sie ihm nicht zurückgegeben. Ab diesem Moment beginnt sich für den bislang unbescholtenen Bürger Malte Dinger eine beispiellose Abwärtsspirale zu drehen, die ihn nicht nur ins Gefängnis bringt, sondern sogar zu einer Mordanklage gegen ihn führt - obwohl er unschuldig ist wie ein neugeborenes Kind.

Seine Probleme verschärfen sich, weil Österreich seit einiger Zeit von der Partei LIMES regiert wird, an deren Spitze der "Meister" steht. Die Redewendung "rechts von ihnen ist die Wand" trifft hier nicht zu: LIMES hat die rechte Wand bereits durchbrochen, aber die Bürger und Bürgerinnen Österreichs sind mit der Verhaftung von anders Denkenden und anders Aussehenden entweder einverstanden oder es ist ihnen schlicht gleichgültig, da es sie nicht persönlich betrifft. Diejenigen, die bei dem Fortschreiten der Repressalien gegen alle (vermeintlich) nicht angepassten Menschen ein flaues Gefühl im Magen haben, halten lieber den Mund oder verschließen die Augen vor dem Offensichtlichen.

Parallel zum offenbar unabwendbaren Schicksal von Malte Dinger geschehen noch  andere Vorkommnisse: In der Wiener Strozzigasse wird in einer Wohnung ein ermordeter Mann gefunden, der auf grausame Weise getötet wurde. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Mord und dem plötzlichen Verschwinden des Gemeindesekretärs von Untergrutzenbach? Kommissar Groschen nimmt sich des Falls an und ermittelt in dem Dorf, das von der vermögenden Familie Hauenstein, die mit ihrem Bauunternehmen reich geworden ist, dominiert wird. Alle Hauensteins, so unterschiedlich sie auch sind, haben das Credo "Geld regiert die Welt" verinnerlicht und verzetteln sich in Kleinkriegen untereinander, die von Neid und Missgunst geprägt sind. Inwieweit sind sie in den Mord in der Strozzigasse verwickelt? Und welchen ominösen Deal, der strikt geheim gehalten worden ist, hat der LIMES mit einer ausländischen Regierung abgeschlossen? Franzobel hat in seinem Buch eine Entwicklung vorweggenommen, die sich später zu einem handfesten Skandal entwickelt hat: Die Gedankenspiele des damaligen Vize-Kanzlers Strache, die alle Welt in dem bekannten "Ibiza-Video" nachvollziehen konnte, finden sich bereits in Rechtswalzer.

Die zunächst unabhängig voneinander verlaufenden Handlungsstränge treffen zum Schluss beim Wiener Opernball aufeinander. Verschiedene Personen versuchen aus unterschiedlichen Motiven dort einen Anschlag zu verüben. Es kommt zu einem Chaos. 

Lesen?

Franzobel gelingt es, mit leichter Hand nachzuzeichnen, wie sich schleichend ein totalitärer Staat entwickelt, der den Menschen zunächst vorgaukelt, es nur gut mit ihnen zu meinen, indem er alles, was diesen Staat in seiner "positiven" Entwicklung stört, aus dem Verkehr zieht. Die Handlung ist an etlichen Stellen überzeichnet - so viel Pech, wie Malte Dinger hat, ist kaum vorstellbar -, doch der lange Arm der Partei, die gleichbedeutend mit der Regierung ist, erreicht auch die, die sich bislang für rechtschaffen gehalten haben. Am Ende führt LIMES sogar eine neue Zeitrechnung und ein Glaubensbekenntnis ein! 

Trotz aller Dramatik sorgt Franzobel immer wieder für eine Prise Humor. In seiner Danksagung widmet er sein Buch allen Kindern und insbesondere seinen beiden Söhnen, "auf dass sie allen gesellschaftlichen Entwicklungen, die in Richtung Totalitarismus gehen, mutig trotzen." Leseempfehlung!


Rechtswalzer ist 2019 im Paul Zsolnay Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 19 Euro sowie als E-Book 11,99 Euro.