Freitag, 30. August 2019

# 210 - Pupsen in Norwegen

Jo Nesbø ist in Deutschland als Krimi-Autor bekannt: Mit Koma oder Leopard hat er sich hier viele Fans
gemacht.


Kaum jemand weiß jedoch, dass Nesbø auch Kinderbücher geschrieben hat: Zwischen 2007 und 2013 sind vier Bände der "Doktor Proktor"-Serie entstanden, in deren Mittelpunkt der alte, sehr kreative Professor aus Oslo steht.

Diese Rezension ist gleichzeitig der Start in eine Beitragsreihe, in der sich alles um Bücher aus Norwegen dreht. Warum Norwegen? Das Land ist in diesem Jahr der Ehrengast auf der Frankfurter Buchmesse. Ein Grund, mal näher hinzusehen. Das mache ich heute mit dem ersten Band der "Doktor Proktor"-Reihe: Doktor Proktors Pupspulver.

Die beschaulichste Ecke Oslos: die Kanonenstraße

Wenn man vom kindlichen Terror der Zwillinge Truls und Trym Thrane mal absieht, stimmt das auch. Bis zu dem Tag, an dem der kleine Junge Bulle zusammen mit seiner Mutter und seiner grässlichen fünfzehnjährigen Schwester in das gelbe Haus gegenüber von Lise einzieht. Lises beste Freundin ist kürzlich weggezogen, und dieser Junge da mit den kurzen feuerroten Haaren ist total interessant: Sein Wortschwall, der manches Wahre und eine Menge Ausgedachtes enthält, scheint nie zu versiegen. Außerdem ist er der winzigste Zehnjährige, den die Welt je gesehen hat. Und er kann 1A Trompete spielen. Sagt er.

Schon als die Möbelpacker das Haus, in dem Bulle mit seiner Familie künftig wohnen wird, einräumen, lernt der Junge Doktor Proktor kennen, der nebenan wohnt. Ein klapperdürrer Mann mit wirren, langen Haaren, der in einem blauen Kittel und mit einer Motorradbrille auf den Augen am Gartenzaun steht.

Doktor Proktor entpuppt sich schnell als einigermaßen genial, aber chronisch erfolglos. Aber ihn zeichnet aus, dass er niemals aufgibt. Das gilt auch für seine allerneueste Erfindung, die eigentlich ein Pulver gegen Heuschnupfen werden sollte, sich aber dann als Anti-Pupspulver herausstellt. Das ist Musik in Bulles Ohren, der fast sofort zum Forschungsassistenten ernannt wird und unerschrocken ein bisschen von dem Pulver löffelt. Das trockene Zeug rasch mit etwas von Doktor Proktors selbst kreierter Birnenbrause heruntergespült... Mit einem lauten Knall entfährt Bulle ein derart heftiger Pups, dass die Labortür auffliegt. Mit so einer Erfindung lässt sich doch bestimmt etwas anfangen, oder?

Wie war's?

Dieses Buch ist auf keinen Fall nur etwas für Kinder. Auch Erwachsene, deren Persönlichkeit sich ein paar infantile Züge bewahrt hat, haben ihre Freude daran. Jo Nesbø erzählt die Geschichte um den Professor, Bulle und Lise sehr anschaulich und witzig, aber nur "große Kinder" dürften bemerken, dass er gern auch mit einem Augenzwinkern auf sein Heimatland schaut. Eine Kostprobe, die gleich zu Beginn für den ersten Lacher sorgt:

"Es war Mai und die Sonne schien schon eine Weile auf Japan, dann Russland und Schweden. Jetzt ging sie auch über Oslo auf. Oslo ist die nicht besonders große Hauptstadt eines nicht besonders großen Landes namens Norwegen. Die Sonne schien sogleich auf das gelbe, eher kleine Schloss in Oslo. Hier lebt ein König, der so wenig zu bestimmen hat, dass es kaum auffällt."

Im weiteren Verlauf der Handlung wird es ein bisschen kriminell, die Polizei steckt die Falschen ins Gefängnis und ein Widerling erfährt nach über 30 Jahren eine verspätete Rache. Und das alles vor dem Hintergrund des 17. Mai, dem norwegischen Nationalfeiertag, der beinahe ohne Salutschüsse für den König geendet hätte.

Das Buch eignet sich für Kinder ab acht oder neun Jahren, denen klar ist, dass das Leben in der Natur aus Fressen und Gefressenwerden besteht.

Doktor Proktors Pupspulver ist 2008 in deutscher Übersetzung bei Arena erschienen und kostet als gebundenes Buch 13,99 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro.

Die Buchverfilmung lief 2015 in den deutschen Kinos. In einer Nebenrolle ist Anke Engelke zu sehen. Hier ist der Trailer:

Samstag, 24. August 2019

# 209 - Wer kennt Kurt Wallander?

Kurt wer? Der Name Kurt Wallander gehört zu denen, über die man denkt: "Den habe ich doch schon mal irgendwo gehört...".

Das haben viele von uns tatsächlich. Zumindest die,
die gern schwedische Krimis lesen und hin und wieder auch einen von Henning Mankell. Elfmal wird der Kommissar aus Ystad von seinem Schöpfer aktiviert, um dem kriminellen Treiben in der südschwedischen Stadt an der Ostsee ein Ende zu bereiten.

2014 hat Mankell seinen Wallander porträtiert und alles in Wallanders Welt aufgeschrieben, was sich über ihn zu wissen lohnt. Dabei ist so etwas wie ein Wallander-Mikrokosmos herausgekommen, der dem Leser nicht nur den Polizisten, sondern auch den Privatmann zeigt: den Vater, (gescheiterten) Ehemann, Sohn, Bruder, Freund und den Musikliebhaber. Aus jedem Kapitel wird deutlich, wie stimmig Mankell diese Figur aufgebaut hat, die ihre Fälle zwischen 1991 und 2009 löste.

Mankell erzählt in diesem Buch auch, wie es zu der Entstehung von Kurt Wallander kam. 1990 war das: Der Autor war nach monatelanger Abwesenheit nach Schweden zurückgekehrt und stellte fest, dass sich der Rassismus in seinem Heimatland deutlich verstärkt hatte. Deshalb beschloss er, über dieses Thema zu schreiben. Da rassistische Handlungen nach Mankells Ansicht immer etwas Kriminelles sind, entschied er sich, sein Anliegen in Form von Kriminalromanen zu verarbeiten.

Die "Taufe" des Kommissars war denkbar unspektakulär: Der Inspiration wurde durch einen Blick ins Telefonbuch auf die Sprünge geholfen. Da es praktisch war, bekam Wallander dasselbe Geburtsjahr wie Henning Mankell: 1948.

Mankell berichtet, vor welchen politischen Hintergründen die einzelnen Bücher entstanden sind und stimmt den Lesern zu, die der Meinung sind, dass er in deren Handlungen oft Ereignissen vorgegriffen habe. Wenn man genau hinsieht, bemerkt man, dass da etwas dran ist.

Mit der Figur des Kurt Wallander erlebte Mankell immer wieder irritierende Begebenheiten, die mit ihr verknüpft waren: Menschen sprachen ihn auf der Straße an und fragten ihn, wie denn wohl Kurt Wallander diese oder jene Begebenheit beurteilen würde. Wäre Kurt Wallander dafür, dass Schweden Mitglied der EU wird? Der Kommissar wurde von manchem Leser wie eine real existierende Person behandelt. Er trägt sehr menschliche Züge und ist ein Spiegel seiner Zeit.

Wallanders Welt ist im Carl Hanser Verlag als E-Book erschienen und kostet 3,99 Euro.
Ich habe es über die Onleihe gelesen.
 

Sonntag, 18. August 2019

# 208 - Fifty Shades of...?


Was fällt fast jedem ein, wenn "Fifty Shades" gesagt wird? Sicher nicht das Buch, das ich heute vorstellen werde: Fifty Shades of Merkel ist das zweite Buch der Politikwissenschaftlerin Julia Schramm und bereits 2016 erschienen. Wer nun vermutet, dass die Kanzlerin hier von einem ihrer Fans porträtiert wurde, liegt falsch: Schramm ist als ehemaliges Mitglied der Piratenpartei und jetziges Mitglied der Partei Die Linke unverdächtig, Angela Merkel in den Himmel zu heben.

In 50 Kapiteln ist Schramm der Bundeskanzlerin auf der Spur. Sie sieht sich deren Leben von ihrer Geburt als Tochter eines evangelischen Pastors in Hamburg bis 2015 an und betrachtet jeden Abschnitt aus verschiedenen Winkeln. Der Zweck des Buches ist trotz der entgegengesetzten politischen Ausrichtung der beiden Frauen nicht, Merkel zu verunglimpfen oder der Lächerlichkeit preiszugeben. 

Schramm geht analytisch und einigermaßen chronologisch vor und versucht, Angela Merkel zu verstehen und zu ergründen. Das ist nicht so einfach, denn die Kanzlerin gehört nicht zu den Menschen, die das Herz auf der Zunge tragen.

Schramm entdeckt sogar - man mag es kaum glauben - Parallelen zwischen Angela Merkel und Helmut Schmidt. Beiden schreibt sie eine hanseatische Gelassenheit zu und eine Politikausrichtung, die sich an den Erfordernissen des aktuellen Moments ausrichtet. 

Doch auch die Eltern Kasner sowie Angela Merkels jüngere Geschwister Irene und Marcus Kasner werden in den Blick genommen. Inwieweit haben sie dazu beigetragen, dass Angela Merkel die wurde, die sie heute ist? Es geht auch um ihren ersten Mann, dessen Namen sie auch nach ihrer zweiten Heirat behalten hat, sowie die politischen Weggefährten, mit denen sie zum Teil sehr gut zusammengearbeitet, sie in manchen Fällen aber auch politisch ermordet hat. Helmut Kohl war ihr bekanntestes Opfer; als "Vatermörderin" wurde sie damals bezeichnet, als sie mithilfe eines Artikels in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung im Dezember 1999 wegen der Spendenaffäre den Mann vom Thron stieß, der sie als Ziehvater in ihrer Polit-Karriere unterstützt hatte.

Julia Schramm bindet immer wieder amüsantes aus Merkels Leben ein, ihr Buch ist nicht als trockenes wissenschaftliches Werk zu sehen. Da ist zum Beispiel die Geschichte mit der gelben Bluse. Für die junge Angela Kasner war die BRD im Prinzip das Land, in dem Milch und Honig fließen. Eines Tages wünschte sie sich von ihrer Verwandtschaft in Hamburg, von der immer wieder Pakete geschickt wurden, eine gelbe Bluse. So etwas war in der DDR nicht aufzutreiben. Doch sie konnte kaum glauben, was ihre Tante ihr daraufhin antwortete: Auch in der BRD gab es weit und breit keine gelben Blusen, weil diese gerade nicht in Mode waren.

Die Kasners waren keine "normale" DDR-Familie. Sie wurden zunächst misstrauisch beäugt, und die Stasi hat sich das vom Vater betriebene Weiterbildungszentrum für Theologen in Templin in der Uckermark genau angesehen. Angela Merkel hat selbst eingeräumt, dass ihre Kindheit dazu geführt habe, kommunikativ vorsichtig zu sein.

Wie war's?

 

Fifty Shades of Merkel ist so etwas wie ein Angela-Merkel-Rundumschlag, den Julia Schramm so objektiv wie nötig und mit einem gewissen Abstand verfasst hat. Das Buch gibt viele neue Einblicke in das Leben und die Denkweise der Kanzlerin und bleibt dabei im positiven Sinn unterhaltsam.

Fifty Shades of Merkel ist bei Hoffman und Campe erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 15 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro. 
Ich habe das E-Book über die Onleihe bezogen.

Online (fast) gratis eBooks ausleihen - wie geht das?

Vor ein paar Monaten bin ich auf eine Möglichkeit
gestoßen, so gut wie gratis ständig an neuen Lesestoff zu kommen. Mittlerweile weiß ich, dass es sie schon seit einigen Jahren gibt, aber ihr Angebot immer mehr ausgeweitet wurde. Die Rede ist von der onleihe. Um daran teilnehmen zu können, benötigt man ein internetfähiges Endgerät und einen Leseausweis einer öffentlichen Stadtbibliothek, die an diesem Service teilnimmt.

Die Stadtbibliothek meines Wohnortes stellt dieses Angebot leider nicht zur Verfügung, deshalb bin ich auf die Nachbarkommune ausgewichen. Dort habe ich eine einmalige Gebühr von 2,60 Euro bezahlt und den Hinweis bekommen, dass ich die Gültigkeit meines Leseausweises einmal pro Jahr telefonisch verlängern muss. Dafür fallen keine Kosten an. Das ist nicht überall so: Wie viel für einen Leseausweis und damit für die Teilnahme an der onleihe bezahlt werden muss, ist von Bibliothek zu Bibliothek unterschiedlich.

Über eine eigens eingerichtete Homepage melde ich mich mit der Nummer meines Leseausweises und einem Passwort an und habe dann Zugang zu E-Books, Videos, E-Papers und E-Magazines. Die Verfügbarkeit sowie die maximale Ausleihdauer werden direkt neben dem Medium angezeigt. Sofern eines davon nicht sofort verfügbar ist, besteht die Möglichkeit, sich per E-Mail informieren zu lassen, sobald es zurückgegeben wurde.

Die Rückgabe erfolgt automatisch nach dem Ablauf der Ausleihfrist. Deshalb fallen keine Säumnisgebühren an. Die Medien können beliebig oft ausgeliehen werden, gleichzeitig kann man zehn Medien nutzen. Im Informationsblatt, das mir mit dem Leihausweis ausgehändigt wurde, wurde darauf hingewiesen, dass die Medien dieser Bibliothek nicht mit Kindle-Geräten kompatibel sind. Ich weiß aber, dass das in den einzelnen Stadtbüchereien unterschiedlich gehandhabt wird. Auch die anfallenden Gebühren variieren und müssen vor Ort nachgefragt werden.

Auf mich hat die onleihe einen sehr guten Eindruck gemacht: Sie hat mich durch ihre unkomplizierte Handhabung, die gute Darstellung der Bücher (andere Medien habe ich noch nicht ausprobiert) und die unschlagbar günstigen Kosten überzeugt.
Aber beim Lesen bleibe ich trotzdem altmodisch: Mir ist ein richtiges Buch mit echten Seiten grundsätzlich lieber. Aber angesichts des geringen Gewichts und der besseren Handhabbarkeit ist ein E-Reader für unterwegs die bessere Wahl.

Sonntag, 11. August 2019

# 207 - Hochverrat, um die Familie zu schützen?

Karen Cleveland hat acht Jahre als Analystin für die
CIA in der Abteilung Russland gearbeitet, bevor sie ihren ersten Roman Wahrheit gegen Wahrheit schrieb. 

Die Hauptfigur Vivian Miller hat starke Ähnlichkeit mit der Autorin: Auch sie arbeitet als Analystin in der Spionageabwehr der CIA, ebenfalls in der Abteilung Russland. Vivian ist seit zehn Jahren mit Matt, einem IT-Experten, verheiratet, hat mit ihm vier Kinder und lebt in der Nähe von Washington D. C. Sie ist dabei, mithilfe eines Algorithmus' ein Netzwerk von russischen Agenten zu enttarnen, als ihr eine Datei mit Fotos von Schläfern in die Hände fällt. Einer davon ist ausgerechnet ihr eigener Mann.

Vivians bislang so heile Welt gerät ins Wanken. Matt gibt ihr gegenüber zu, in Wolgograd geboren worden zu sein, mit richtigem Namen Alexander zu heißen und seit 22 Jahren als russischer Spion tätig zu sein. Er beteuert jedoch, sie und die Kinder aufrichtig zu lieben und alles tun zu wollen, um die Familie vor dem russischen Geheimdienst SWR zu beschützen. Aber der Stachel des Misstrauens sitzt bei Vivian tief. Wie soll sie ihrem Mann je wieder vertrauen können, wenn er ihr bis jetzt seine Identität verheimlicht hat?

Doch im selben Moment stellen sich Vivian ganz existenzielle Fragen: Es wäre zwar ihre Pflicht, ihren Mann dem CIA zu melden, aber wie soll es dann mit der Familie weitergehen? Auch sie würde in die Ermittlungen hineingezogen werden, müsste damit rechnen, ihren Job zu verlieren und damit nicht nur ihr Gehalt, sondern auch ihre Krankenversicherung, die ihre Kinder einschließt. 

Von ihrem Vorgesetzten bekommt Vivian den Hinweis, dass sich unter ihren Kollegen ein Maulwurf befindet. Wird sie selbst verdächtigt? Und wem kann sie noch trauen? Ihre Situation verschärft sich, als der SWR beginnt, sie zu erpressen.

Karen Cleveland bringt nicht nur den wirtschaftlichen Aspekt dieses Szenarios zur Sprache, sondern schildert auch, wie tief der Riss ist, der sich nach dieser Entdeckung zwischen den Eheleuten auftut. Die Gefühle pendeln zwischen Misstrauen und Hoffnung hin und her. Vivian beginnt nun, mit neuen Augen auf ihre Ehe zurückzublicken: Hatte Matt nicht immer wieder ihre Bedürfnisse ignoriert? Wurde sie nicht von ihm manipuliert, wenn es galt, Entscheidungen zu treffen?

Wie war's ?

 

Wahrheit gegen Wahrheit wird vom Verlag als Thriller bezeichnet. Das Buch hat unbestritten spannende Abschnitte, aber echter Thrill kommt leider nicht auf. Manche Handlungen sind vorhersehbar, ein starker Schwerpunkt liegt auf den psychischen Ausnahmezuständen, in denen sich die Familie befindet. Das Buch ist insgesamt gut, wird aber den Erwartungen, die durch die Lobeshymnen, die zu seiner Veröffentlichung angestimmt wurden, nicht gerecht. 

Wahrheit gegen Wahrheit  ist 2018 bei btb erschienen, kostet als Klappenbroschur 12 Euro sowie als E-Book 9,99 Euro.
Ich bedanke mich beim Bloggerportal, das mir das Buch zur Verfügung gestellt hat.

 

Dienstag, 6. August 2019

# 206 - Wenn sich eine Frau dem IS anschließt

Vor etwas mehr als drei Jahren habe ich zum letzten
Mal ein Buch von Ulrike Blatter vorgestellt: Vor dem Erben kommt das Sterben ist damals noch als Self-Publishing-Titel erschienen.

Töchter des Todes ist ihr neuester Roman, und dafür hat sich die Autorin viel vorgenommen. Die Geschichte, die Ulrike Blatter erzählt, ist nicht nur eine einzelne, für sich allein stehende Handlungsabfolge, sondern es sind vielmehr mehrere miteinander verwobene Schicksale, in die die Menschen manchmal einfach hineingeschubst worden sind. So, wie es bei dem bosnischstämmigen Ehepaar Edin und Kristina Hodžić der Fall ist, das die Flucht vor dem Balkankrieg in das beschauliche und friedliche Taufingen verschlagen hat. Die muslimische Religion spielt in ihrem Leben keine Rolle, die beiden Töchter Semina und Aylin wurden in Deutschland geboren, die Familie ist in die Gemeinschaft integriert. Die Eltern wollen, dass aus ihren Kindern etwas Vernünftiges wird und spornen sie an, in der Schule und im Studium Leistung zu zeigen. "Glaub ja nicht, dass die Welt gerade auf dich gewartet hat!", wird für die beiden Schwestern zu einer der meistgehörten Ermahnungen.

Doch dann öffnet Aylin den Facebook-Account ihrer älteren Schwester Semina. Sie schaut in ein mit einem Niqab vollverschleiertes Gesicht, in dem sie nur die Augen wiedererkennt. Semina hat dort ihren Standort mit "Syrien" angegeben. Von diesem Tag an ändert sich fast alles: Seminas Verschwinden spricht sich im Ort rasch herum, die selbsternannte Investigativpresse gießt mit unbewiesenen Behauptungen fleißig Öl ins Feuer. Als wenige Tage später ein Selbstmordattentat auf eine Taufinger Metzgerei verübt wird und Zeugen eine in einen schwarzen Niqab verhüllte Frau gesehen haben, sind sich praktisch alle Einwohner einig, dass Semina für diese Tat verantwortlich ist. Es wird in der Öffentlichkeit sogar vermutet, dass sie in Deutschland war, um für den IS junge Frauen anzuwerben.

Die Familie Hodžić ist nun sozial isoliert, Kristina ist an ihrem Arbeitsplatz, einem Kindergarten, nicht mehr erwünscht und sogar ihre beste Freundin wendet sich von ihr ab. Die Familie erhält Drohungen, und Edin beginnt plötzlich wieder zu beten und verschwindet immer wieder ohne eine Erklärung. Zu der Angst um Semina kommt nun noch die um den Vater und Ehemann hinzu. Hatten sie es in der Vergangenheit als "gemischtes" Paar im ehemaligen Jugoslawien nicht schon schwer genug?

Die Handlung wird noch von weiteren Figuren getragen: Aylins Freund Jordan, der mit seiner dunklen Haut und seinen schwarzen Haaren mit Vorbehalten konfrontiert wird, ist durch seine Vergangenheit traumatisiert und kämpft immer wieder gegen das, was er "das Biest" nennt. 
Jordans größter Kontrahent ist Sven; der junge Mann macht keinen Hehl aus seiner rechten Gesinnung.

Parallel zu den Geschehnissen in Taufingen wird auch die Geschichte von der jungen Deutschen Star und ihrem Mann Luan erzählt. Beide hatten sich mit völlig falschen Vorstellungen dem IS im syrischen Rakka angeschlossen, dann aber desillusioniert ihre Flucht geplant. Sie wollten ihrem trostlosen Leben entfliehen, um dann zu erleben, dass sie direkt in der Hölle gelandet waren. Doch sie werden in der Wüste von einer Patrouille aufgegriffen und sehen ihrem sicheren Tod entgegen. Erst gegen Ende des Buches wird deutlich, wo der Zusammenhang zwischen ihnen und Seminas Verschwinden ist.


Wie war's?


Ulrike Blatter hat mit Töchter des Todes einen hochaktuellen Roman geschrieben, in dem sie den Fokus auf Themen lenkt, über die derzeit ständig diskutiert wird: Flucht und Vertreibung, Terrorismus, Fremdenhass, Vorurteile, Zivilcourage, Korruption, Kriminalität und die Verpflichtung der Medien, über Sachverhalte wahrheitsgemäß zu berichten.
Am Ende des Buches ist nichts mehr so, wie es zu Anfang schien. 

Der Roman ist an jeder Stelle spannend geschrieben und nimmt den Leser durch seine eindringliche Sprache mit in die Welt, in der die einzelnen Personen leben - mit ihren Gefühlen, Nöten und ihrer Vergangenheit. Klare Leseempfehlung für ein Buch, das uns einen Spiegel vorhält.

Töchter des Todes ist im Leinpfad Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 14 Euro sowie als E-Book 10,99 Euro.